Ferdinand Gregorovius
Wanderjahre in Italien
Ferdinand Gregorovius

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Der große Golf und namentlich das kleine Meer sind noch heute wegen des Reichtums an Fischen, besonders aber an Schaltieren berühmt. Muscheltiere jeder Gattung werden hier gefangen; doch sind es hauptsächlich die «cozze nere», und die Austern, welche in erstaunlichen Massen erzeugt werden. «Cozze nere» nennt man längliche, schwarze Schaltiere, etwa von der Größe eines kleinen Fingers. Sie sind eine Lieblingsspeise des Volks, und werden nach allen Hafenstädten bis nach Bari und Neapel hinauf verschafft. Ich kann nicht sagen, ob sie wohlschmeckend sind; denn ein so leidenschaftlicher Fischesser ich auch bin, so unüberwindlichen Abscheu habe ich vor dem Genuß jeglichen Muscheltiers, und nur einmal in meinem Leben versuchte ich eine Auster zu essen, oder vielmehr mit Schaudern hinunterzuwürgen.

Die Wasserfläche des Mare piccolo ist an vielen Stellen mit Muschelfängen oder Muschelgehegen bedeckt, das heißt Gerüsten aus schwarzen Pfählen, welche mit Tauen überspannt sind. An diesen werden die «cozze nere» und die Austern auferzogen. Ihre Zucht betreibt man nur in dem ruhigen kleinen Meer. Sie hängen hier an Seilen in jeder Größe ihres Wachstums in dichten schwarzen Massen, ähnlich den Schnecken, welche sommers die dürren Disteln überziehen. Von Zeit zu Zeit werden diese Klumpen aus dem Wasser gehoben, und für einige Stunden der Sonne ausgesetzt; die Fischer reinigen sie, indem sie kranke oder tote Tiere mit einem Messer loslösen.

Die Muschelgehege heißen hier Sciaje, sie sind in Distrikte oder Strecken abgeteilt, je nach ihren Eigentümern. Man sagte mir, daß 56 reiche Tarentiner diese Muschelkultur betreiben. Sonst ist die Fischerei im ganzen Golf freigegeben, gegen eine kleine Abgabe an die Dogane, welche am Eingange des Hafens auf dem Platz der Fontana ihren Sitz hat.

Ich sah auch die berühmte Perlmuschel, welche Pinna genannt wird. Sie trägt außer der Perle ein wolliges Gefaser, welches sie im Wasser ausbreitet, als ein Netz, sich Beute zu fangen. Aus ihm macht man noch heute allerlei Gewebe und Gespinste, Handschuhe, Tücher und dergleichen.

Um sich eine Vorstellung von der Schönheit und Mannigfaltigkeit der Tarentiner Muschelwelt zu machen, muß man das Museum Ceci aufsuchen. Diese merkwürdige Sammlung befindet sich in einem alten wunderlichen Palast in der Stadt. Sie wurde vom Canonicus Giuseppe Ceci angelegt, welcher vor einigen Jahren starb. Dieser Antiquar und Bildkünstler verwendete sein Leben darauf, nicht allein Conchylien zu sammeln, sondern auch sie künstlerisch zu behandeln. Die herrlichsten Muscheln hat er zu phantastischen Gebilden zusammengesetzt, zu Blumen, Arabesken, Formen und Figuren von seltsamer, überraschender, oft sinnreicher Erfindung. Fischerszenen und anderes Genre sind vortrefflich ausgeführt; die Gestalten darin ganz und gar mit kleinen Muscheln und Korallenstaub bekleidet. Kurz, es ist eine Mosaikmalerei aus Conchylien, welche in der Welt nicht ihresgleichen haben mag. Ohne Frage wurde diese Rokokokunst schon im alten Tarent geübt; selbst in Pompeji finden sich dergleichen sinnige Spielereien, in Nischen für Wasserquellen.

Man sagte mir, daß die Erben Cecis den Inhalt des Museums zu verschleudern begonnen haben, und daß es schon auf kümmerliche Reste herabgeschwunden sei. Mit dieser Sammlung sind auch antike Tarentiner Vasen und einige Marmortrümmer vereinigt, Ansätze eines Museums, welche sich leider nicht entwickelt haben.

Denn Tarent besitzt, so unglaublich das scheinen mag, kein Nationalmuseum. Die berühmten antiken Münzen dieser Stadt sind über die Welt zerstreut; hier sucht man sie vergebens. Vergebens forscht man hier nach einem Ort, wo Reste alter Skulpturen vereinigt sind, wie solche fast jede Stadt Italiens besitzt, welche einmal in antiken Zeiten geblüht hat. Wo sind hier die Säulen, die Marmorgebilde all der schönen Tempel des Altertums geblieben? Wo die zahllosen Statuen und ihre über Tarent hingestreuten Trümmer? Es ist, als hätte sie der Sturm hinweggeweht. Vielleicht liegen noch große Schätze tief im Boden versteckt. Hier würden Ausgrabungen so gut lohnend sein wie in Olympia. Das geistige Leben in Tarent ist tot. Die große Vaterstadt des Archytas, einst die Akademie aller Wissenschaften und schönen Künste, die Schule pythagoräischer Weisheit, welche selbst Philosophen wie Platon aufsuchten, ist heute so verarmt, daß auch nicht die kleinste Büchersammlung, nicht einmal eine solche in ihr zu finden ist, die für den Notbedarf einer Schule ausreichte. Als ich nach Tarent ging, hatte ich gehofft, hier eine munizipale Bibliothek vorzufinden, und in ihr alle auf die Stadt bezüglichen Werke. Ich hatte mich in Bari, und an andern Orten danach und nach Tarentiner Antiquaren erkundigt, aber niemand konnte mir eine Auskunft oder nur eine Adresse geben, und selbst das Institut der archäologischen Korrespondenz in Rom unterhält keine Beziehungen mit Tarent.

Ich will der dortigen Bürgerschaft nicht unrecht tun, vielmehr glauben, daß auch unter ihr noch heutigentags patriotische Antiquare leben, aber sie blieben für mich so tief versteckt wie die Taranteln, so daß ich ihrer keinen zu Gesicht bekam. In unserm Wissensdrange gingen wir in den Gemeindepalast, den Tarentiner Stadtrat um Auskunft zu ersuchen. Die Herren nahmen uns in ihren luftigen neu eingerichteten Zimmern, aus deren Fenstern man den Golf übersehen kann, mit großer Freundlichkeit auf, aber sie sagten uns, daß im Stadthaus keine Bibliothek vorhanden sei, außer wenigen älteren Büchern und der Sammlung der Salentiner Autoren, welche in Lecce gedruckt wird. Sie boten uns einige Broschüren dar und nannten uns als neueste Arbeit über Tarent ein Kompendium der Geschichte dieser Stadt von Francesco Sferra, gedruckt bei Salvator Latronico zu Tarent selber, im Jahre 1873. Sie bezeichneten uns endlich als gründlichen Antiquar und Kenner seiner Vaterstadt einen Geistlichen.

Es kostete uns viele Mühe, diesen im Stadthaus berühmten Mann in einer versteckten schmutzigen Gasse aufzufinden, wo sein Dasein nicht einmal dem Briefträger bekannt war, und das bewies uns, daß der würdige Geistliche noch in dem beneidenswerten Zeitalter lebte, wo die Plage des Briefschreibens dem Menschengeschlecht unbekannt war. Von der dunkeln Treppe eines Hauses herab kam uns endlich der Canonicus entgegen, mit allen Zeichen der Verwunderung, Gegenstand stürmischen Begehrens von seiten zweier Fremdlinge zu sein. Er gab sich sodann als das zu erkennen, was er wirklich war, indem er seine Unschuld beteuerte und versicherte, daß der Verdacht des Stadtrats, er sei ein verkappter Antiquar und Durchforscher seiner Vaterstadt, vollkommen grundlos sei. Sodann wies er uns nach einer Apotheke, wo man uns über den Verfasser jenes Kompendiums Tarentiner Geschichte Aufschluß geben werde.

Zu diesem Tempel des Asklepios führt eine Straße, deren melodischer Name uns wohltat. Sie heißt Paisiello, und dort bezeichnet eine Inschrift das Haus, wo der berühmte Amphion Tarents geboren wurde. Sie rief mir das Geburtshaus seines Zeitgenossen Mozart zu Salzburg in Erinnerung.

Giovanni Paisiello ist der letzte große Mann Tarents und auch das einzige Genie von allgemeinem Ruf, welches diese Stadt seit dem Altertum hervorgebracht hat. Er wurde hier geboren am 9. Mai 1741 als Sohn eines Mannes, von dessen Gewerbe die Musen der Tonkunst so weit wie möglich sich entfernt halten mußten, da er ein Vieharzt war. Der junge Mann erregte durch seine schöne Stimme die Aufmerksamkeit eines Tenorsängers; er kam in die Schule des berühmten Durante zu Neapel, und bald wurde er durch seine ersten Kompositionen, die «Pupilla» und den «Mondo a Rovescio», berühmt. Die Grazie und Leichtigkeit seines melodisch-dramatischen Talents riß die Welt zur Bewunderung hin. Er durchwanderte mit der Zeit die Länder Europas; selbst nach Rußland rief ihn die Kaiserin Katharina, wie später Napoleon nach Paris. Er schrieb komische Opern für die größten Theater seiner Zeit, 45 allein für Neapel, darunter die berühmte «Nina pazza per amore». Dort starb er am 23. Januar 1815. Heute ist er schon eine verklingende Größe; Cimarosa begann ihn zu verdunkeln, und Rossini übertönte ihn mit demselben Opernstoff des «Barbier von Sevilla», welchen zuerst Paisiello für Petersburg bearbeitet hatte.

Nun traten wir in die Kapelle Äskulaps, und hier fanden wir Herodot als Pillendreher. Ein junger, leidend aussehender Mensch, den kranken Kopf von einem schwarzen Tuch umwunden, stand verdrossen am Tisch und braute höllische Latwerge. Auf meine Frage, ob er mir Auskunft über Herrn Sferra geben könne, den im Stadthause berühmten Verfasser des Kompendiums der Geschichte Tarents, entgegnete der Jünger des Hippokrates lächelnd, daß dieser Gesuchte in seiner eigenen Person vor mir stehe. Er holte sofort sein in einen blauen Umschlag gelegtes Büchlein hervor, froh, einen Käufer für sein Produkt zu finden – denn die Tarentiner kaufen ihm wohl seine Schachteln und Gifte ab, aber nicht seine literarischen Mixturen. Mit achtzehn Jahren hat dieser junge Apothekergehilfe einen brauchbaren Leitfaden der Geschichte seiner Vaterstadt verfaßt, und das ist sehr ehrenvoll für seine Jahre und seinen Beruf. Indem ich mir die psychologischen Vorgänge darstellte, welche den Jüngling in seinem kleinen Laden dazu trieben, sich an ein für ihn sehr kühnes Unternehmen zu wagen, erregte er meine lebhafteste Teilnahme.

Mitten in seiner hilflosen Einsamkeit, ohne Studien, ohne Zusammenhang mit anregenden Geistern, ist seine erregbare Phantasie irgendwo beim Anblick Tarents und seiner Meere, oder bei der Nennung eines antiken Namens von dem Bewußtsein ergriffen worden, daß er der Sohn einer uralten weltberühmten Stadt sei, und so entstand in ihm erst das schwache Bild von deren Geschichte, dann der Trieb, diese selbst seinen Mitbürgern darzustellen.

«Wie haben Sie es gemacht, das für Ihre Arbeit nötige Material zu erhalten, da es hier keine Bibliothek gibt?»

«Ich habe mir», so entgegnete er, «die Bücher zusammengeborgt.»

«Wollen Sie nicht Ihre Studien fortsetzen, da ein innerer Drang Ihnen die Richtung darauf zu geben scheint? Wollen Sie nicht eine Universität besuchen?» Der junge Autodidakt erwiderte: «Ich wünsche das sehr; ich möchte reisen und die Welt sehen, statt an diesem Ladentisch zu stehen; aber wie soll ich wohl das möglich machen? »

Ich drückte meinem Kollegen die Hand, und wünschte ihm den Schutz guter Genien, welche ja oft strebenden Menschen in ungeahnter Stunde erscheinen, wie das Paisiellos Leben dartut. Vielleicht taucht der jugendliche Apotheker noch einmal in seinem Vaterlande als namhafter Geschichtschreiber auf.

Ich hatte Gelegenheit zu bemerken, daß man in Tarent diesem jungen Manne Aufmerksamkeit schenkt und ihm wohlwill. Es ist die schöne menschliche Art Italiens, daß hier jedes Zeichen einer tüchtigen Natur schnell begriffen wird, und daß man sich daran erfreut, ohne nach deren Herkunft und Berechtigung der Schulzeugnisse und abgelegten Examina zu fragen. In unserm Vaterlande würde ein so harmlos unberufen aufstrebender Jüngling wahrscheinlich vielem Hohn ausgesetzt sein; ich glaube, mancher Pedant würde ihn fragen, ob er von der Tarantel gestochen worden sei.

Die Tarantel zeigte mir Asklepios, aber nur in einem Glase. Lebend sah ich die berühmte Spinne nicht. Die bekannte Fabel von dem apulischen Tanz Tarantella, welcher als ein Veitstanz durch den Biß dieses Insektes entstanden sein soll, ist höchst sinnreich; vielleicht liegt in ihr wirklich ein Rest antiken Cybeledienstes verborgen. Die Tarentiner liebten von jeher mit rasender Leidenschaft Musik und Tanz. Von der Tarantel war ja auch ihr großer Paisiello glücklich gestochen worden.

Ich will noch zur Geschichte der Stadt zurückkehren. Ein gutes Werk darüber fehlt, wie über Großgriechenland überhaupt. Das einzige nennenswerte ist die Arbeit des Tarentiners Giovan Giovine aus dem 17. Jahrhundert: «De antiquitate et varia Tarentinorum fortuna», welches heute nicht mehr den Forderungen der Wissenschaft genügt.

Der Katalog ausgezeichneter Tarentiner nach dem Altertum ist überhaupt nicht groß, und für uns Ausländer besteht er nur in Namen. Ich las das in Tarent berühmte Gedicht eines edlen Bürgers dieser Stadt, des Tommaso Niccolò d'Aquino, welcher im Jahre 1721 gestorben ist. Es ist ein kleines Epos in lateinischen Hexametern unter dem Titel «Deliciae Tarentinae», ein phantastisches Poem im Barockstil damals üblicher beschreibender und fabelnder Hirten- und Schäferdichtung. Der Verfasser war gerade so alt wie unser Apotheker von drüben, als er dieses Gedicht nach dem Vorbilde Virgils verfaßte. Er gibt zuerst eine Beschreibung der Herrlichkeit Tarents, seines milden Klimas, seiner entzückenden Lage, und darin ist viel schön und gut Gesagtes. Sodann hat er das Glück, einer schönen Quellnymphe bekannt zu werden, welche ihm die Wunder des alten Tarent zeigt, nämlich in Bildern eines Prachtgewebes, und das wirkt und stickt sie für Neptun, den Schutzgott dieser irdischen Paradiese. Der große Neptun nämlich ist mit der Zeit barock geworden: er bereitet wundervolle Feste für Se. katholische Majestät den Kaiser Leopold, den Besieger der Türken. So verherrlicht das Gedicht auch den König von Polen, die Herzöge von Bayern und Lothringen usw. Die folgenden Bücher schildern die Natur Tarents, den Reichtum seiner Meere und seiner Fluren.

Ein jüngerer Freund und Verwandter Aquinos vom alten Hause Carducci gab die «Deliciae Tarentinae» zuerst heraus und versah sie mit massenhaften gelehrten Zutaten, welche sich über die Altertümer wie die Geschichte der Stadt in abschreckender Weise ergießen – ein «Mare piccolo» von Noten, wie nur ein stockgelehrter Professor in den schwülsten seiner attischen Nächte es sich vorspiegeln möchte: die Gelehrsamkeit hängt da herum, ganz wie die Austern und «Cozze nere» an den dicken Tauen. Dieses so zugerichtete harmlose Rokokogedicht dient jetzt zugleich als Brunnen antiquarischer Weisheit. Man hält es im Lande hoch als ein Nationalwerk. Es ist auch neuerdings zu Lecce mit einer italienischen Übersetzung wieder abgedruckt worden. In der Vorrede sagt der Herausgeber, daß es patriotisch sei, die «Deliciae Tarentinae» wieder zu edieren, heute, wo es sich darum handle, aus dem «Mare piccolo» einen Kriegshafen zu machen.

Ja, dieser Kriegshafen und die versprochenen Arsenale bekümmern und bewegen jetzt hier alle Welt. Wenn sie erst eingerichtet sind, dann wird Tarent, so sagen die Einwohner, wieder die Königin des Ionischen Meeres sein. Wir wollen es wünschen. Vielleicht, daß späte Enkel dies Wunder erleben. Aber wenn man heute die berühmten Königinnen der Meere im Altertum und im Mittelalter sieht, Venezia und Taranto, wie sie, in verblichene Purpurfetzen gehüllt, ihr betrübtes Witwenantlitz, die eine in der Adria, die andere im Ionischen Golfe, abspiegeln, so möchte man doch glauben, daß ihre Zeit für immer dahin ist.


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