Ferdinand Gregorovius
Wanderjahre in Italien
Ferdinand Gregorovius

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Neapel

1853

Seit der Revolution des Jahres achtzehnhundertachtundvierzig ist Rom noch stiller geworden, als es schon seinem Charakter nach immer sein mußte; Freude und Lebenslust sind aus dem Volke gewichen; der Vermögende hält sich ruhig daheim; die arbeitende Klasse ist gedrückt. Immer seltner werden die Volksfeste; der Karneval verfällt; selbst die sonst so heitre Oktoberfeier, welche die Menge vor die Tore ins Freie trieb und beim Becher und Saltarello fröhlich sein ließ, ist fast hingeschwunden. Rom ist eine große Ruine der Zivilisation, durch welche nur Prozessionen von Geistlichen einherziehen, und die nur vom Klange der Glocken und kirchlicher Musik belebt wird. Alles Lebendige scheint dort von der Kurie, den Kardinälen, Priestern und Mönchen allein auszugehen. Das Volk verhält sich nur anschauend. Betrachtung ist hier alles; gleichviel ob ihr Gegenstand die römische Ruine sei, oder die Galerie des Vatikan, oder eine Funktion in Sankt Peter und in der Sixtinischen Kapelle, wo der Papst und die Kardinäle in ruhender Stellung sich immer gleich zu einem fertigen Bilde gruppieren, welches man so anschaut, als wäre es bereits auf die Leinwand getragen. Selbst auf dem Corso, wo der Römer mittags und abends gravitätisch einhergeht, bewegt er sich nicht, um sich zu bewegen, er findet sich dort ein, um die schönen Frauen zu bewundern, die in Karossen auf und ab rollen.

Nun Neapel. Diese fieberhafte Erregung der Lebenstätigkeit, dieses allgemeine Mit- und Ineinanderhandeln des gesamten Volker, ist ganz erstaunlich. Die Stadt scheint in fortdauernder Revolution; nichts bleibt, alles fließt, strömt von Lebensflut. Gleich groß das Gewühl am Hafen, gleich groß auf den Kais, den Märkten, dem Toledo, und glaubt man sich aus ihm auf Capodimonte, den Vomero oder den Posilip gerettet zu haben, so gerät man in ein neues Chaos strömender Menschenverwirrung. Man hat hier keine Zeit und keinen Raum. Man kann nicht betrachten; wo man auch sei, überall sind die Sinne in beständigem Verteidigungskriege. Selbst die strahlenden Lichter des Meers und der Küsten machen unruhig; sie blenden das Auge und regen die Phantasie auf. Auch nicht in tiefster Nacht hat das Ohr vor dem Lärm der Stimmen und dem Rollen der Wagen Ruhe.

Neapel

Neapel

Ich war zum Castel Sant Elmo, nach dem Kloster San Martino hinaufgegangen. Der fürstliche Bau der Benediktiner, der kaum seinesgleichen an Pracht noch an Lage haben mag, prangt hoch über Neapel auf dem Vomero, wo er eine überwältigende Aussicht auf den ungeheuren Golf, seine Inseln und die vom Posilip bis unter den Vesuv hin sich ausbreitende Stadt darbietet. Hier dachte ich das schweigende Neapel ruhig zu betrachten. Aber selbst bis zu dieser Höhe stieg das Brausen der Stadt empor, vernehmlich wie eine nimmer ruhende Brandung; es schien, als kämpfte das Volk dort unten mit wildem Getöse eine Revolution durch. Fragt man, weshalb und was diese Tausende von Stimmen unablässig zu rufen haben, so muß man sich endlich sagen: nichts weiter als Genuß; sie bieten alle nichts als Genüsse aus. Ein neben mir stehender Benediktiner versicherte mir, daß er aus diesem brausenden Gewoge von Stimmen mit Entschiedenheit einzelne Worte fruchtausgellender Weiber heraushöre. Und was bieten sie aus? Was schaffte diese gesegnete Erde oder industrieller Menschenwitz, was dort nicht seinen Ausruf fände, vom Thunfisch im Wasser, vom Pfirsich auf dem Baum bis zum Pulcinella auf der Straße und dem hölzernen Heiligen, der eben fertig aus der Werkstatt kam. Nur das schöne Mädchen wird nicht ausgeschrien; der bleiche Ruffiano wankt den Toledo entlang und zischelt im Vorüberschleichen, wie die Schlange der Verführung: «una ragazza, fresca, bella, bellissima, di tredici anni.» Ich stand lange auf der Balustrade von San Martino und horchte nach Neapel hinab. Wenn dieses Volk, so dachte ich, schon in der alltäglichen Regung seiner Tätigkeit, in dem ganz gewöhnlichen Takt seiner Lebensempfindung die Lüfte mit solchem Schall erfüllt, wie erst muß es tosen, wenn es in Schmerz und Wut aufschreie, wenn diese Tausende von Lazzaroni im Straßenkampf lärmen oder nach Beute schreien – wie sie es nach dem 15. Mai 1848 getan haben, als sie hinter dem Wagen des Königs Ferdinand herliefen und Plünderungsfreiheit begehrten.

Doch alles bewegt sich hier fröhlich, friedlich und selbst in der buntesten Unordnung dennoch geordnet. Einzelne wie ganze Klassen, ob sie sich tausendfach durchkreuzen, gehen wie die Ameisen in ihrem Staat in gewohnten Richtungen, auf bekannten Geleisen. Das ungeheuere Leben zirkuliert hier wie das Blut; uns scheint dieser Pulsschlag bis zur wahnsinnigen Aufregung fieberhaft, und doch ist er normal und geregelt.

Die Revolution wie die moralische Niederlage der jüngsten Jahre ist an Neapel spurlos vorübergegangen. Das Leben hat ihre Erscheinung hinweggeflutet, und kaum wüßte man von ihr, wenn man nicht von Wohlmeinenden gewarnt würde, in Reden vorsichtig zu sein und die Spione zu scheuen, die allerorten umherwandern, und wenn man nicht zufällig einige verwüstete Häuser und Paläste bemerkte, namentlich auf Medina und Monte Oliveto, wo die Kanonen des Castel Nuovo schonungslos gefeuert haben. Nun ist dem Fremden auch unverwehrt, spitzen Hut und spitzen Bart zu tragen, seitdem die französische Gesandtschaft für einen Schimpf Genugtuung verlangt hat, der einem französischen Untertan in Neapel widerfuhr. Die Polizei hatte ihn auf der Straße aufgegriffen und ohne weitere Umstände in eine Barbierstube gebracht, wo ihm von Staats wegen der Bart abrasiert wurde. Neapolitanischen jungen Leuten begegnet es, daß sie das Verbrechen eines revolutionären Hutes und Bartes in irgendeinem Verbannungsort, einer Insel oder einem Kastell abbüßen, wie ein Staatsgefangener selbst in Puzzuoli mir erzählte.

Man merkt keine Verstimmung, denn diese elysische Natur ist ja niemals verstimmt; man sieht nirgend ein düsteres, nachdenkliches Antlitz, denn dieser lachende Himmel ist eitel Seligkeit. Tausende Barken tummeln sich nach wie vor im Hafen, tausend Karossen jagen über die Chiaia, Santa Lucia wimmelt von Austern- und Makkaroniessern, auf dem Molo geigt und harft es nach Herzenslust; alle Theater spielen, das Blut des heiligen Gennaro fließt noch wie sonst, keine Bombe hat den kleinen Pulcinell in die Luft gesprengt, und die Villa Reale ist voll von Fremden, welche Geld ausstreuen. Dies Volk lebt nur für den Augenblick. Es ist im innersten Wesen unpolitisch, untragisch und jener männlichen Leidenschaft bar, ohne welche das geschichtliche Tun nicht denkbar ist. Solange Neapel steht, waren seine Herrscher Fremde: Byzantiner, Normannen, Schwaben, Anjous, Spanier, Bourbonen, Joachim Murat. Ein unnationales, charakterloses Volk nimmt jeden Herrscher hin; und noch heute ist es in Neapel höchst ergötzlich, die Münzen mit dem Kopfe Murats friedlich neben denen mit dem Kopfe Ferdinands im Gebrauch zu sehen.

Aufgeklärte und denkende Männer, welche aus diesem Volkscharakter kein Hehl machen, sind ratlos. Ich fuhr in einer Nacht von Portici nach Neapel zurück. Unterwegs gesellte sich in meinem Wagen ein Arzt zu mir, ein kräftig blühender Mann, lebhaften Geistes, wohlgebildet. Er prüfte meine Gesinnung, dann sprach er rückhaltlos seine Ansichten über die gegenwärtige Lage Neapels aus. Sie waren so scharf, wie ich nicht erwartet hatte, daß sie vor einem Unbekannten würden ausgesprochen werden. Die Italiener politisieren leidenschaftlich gern mit Fremden und sind dann grenzenlos offen. Jener Mann hatte einige Verfolgungen erlitten, weil er mit Poerio obenhin bekannt gewesen war. Ich unterbrach unser Gespräch, indem ich auf die zahllosen Ampeln deutete, welche man eines Festes wegen auf der Marinella angezündet hatte. «Wie märchenhaft schön», rief ich aus, «ist dieser Anblick vereint mit jenem Lichterkranz um den Hafen!» «Ja», sagte mein Begleiter, «es ist leider zu schön. Seht, das ist unser Volk. Sie tanzen um jeden Despoten, wenn er ihnen nur ein Kinderspielzeug, ein Licht, eine bunte Ampel vor die Augen hält. Kann diese geblendete Masse einen ernsten Gedanken haben?»

Sie sind erbittert, aber sie lachen. Und wohl nirgend auf der Welt läßt sich der Despotismus leichter ertragen als in Neapel, denn diese unerschöpflichen Schätze der Natur sind nicht zu zerrütten, dieser Boden ist nicht auszusaugen, dieser Himmel macht alle Lebenstätigkeit öffentlich und läßt der Sitte eine fast schrankenlose Freiheit. Die Natur gleicht hier alles aus, sie ist nirgend demokratischer als in Neapel. Wer kann diese Magna Charta der Freiheit je vernichten? Es war mir für das Wesen Neapels folgende Erscheinung immer charakteristisch: um die Mittagszeit liegen im Portikus einer glänzenden Kirche, des Doms San Francesco di Paola, im Angesicht des königlichen Schlosses, Lazzaroni schlafend ausgestreckt, in unschönen Gruppen, mit zerrissenen Wämsern, diese Säulenhalle keineswegs verzierend. Ich dachte dabei an jene Lazzaroni des alten Rom, die wohl auch so in den Säulenhallen des Pompejus und des Augustus Siesta hielten, nur hatten sie Getreidemarken in der Tasche, und diese haben keine. In jeder andern Residenz Europas würde die Polizei solche Schläfer von den Stufen des Doms und aus dem Angesicht des Schlosses hinweggefegt haben. Hier schlafen sie den ruhigsten Schlaf, und vor ihnen schreiten die Wachen, welche an den beiden Reiterstatuen Karls III. und Ferdinands I. schildern, achtlos auf und ab.

Diese Piazza Reale, so nahe am Meere und doch nicht frei genug gelegen, da vorgebaute Paläste den Blick in die See sehr beschränken, wohlgepflastert, daß sie einem Tanzsaale gleicht, von eleganten Gebäuden eingefaßt, ist für den neapolitanischen Staat sehr bezeichnend. Hat doch der König, der Hof, die Staatsgewalt hier den Sitz aufgeschlagen, und scheint es doch, als blicke man hier nicht in das Herz Neapels (das ist der Hafen), aber wohl in das Zentralorgan seiner denkenden und leitenden Tätigkeit. Hier fällt der Charakter völliger Ungeschichtlichkeit, modernster Nüchternheit und Wesenlosigkeit auf, so in dem schönen königlichen Schlosse mit seiner glatten Fassade, deren rötliche und graue Wandfläche, deren ermüdende Symmetrie eine nüchterne Wirkung hervorbringt, so in den beiden ganz gleichen Seitenpalästen, endlich in jenem Dom Francesco di Paola, einem Abbilde des Pantheon zu Rom, welches bei innerer Unselbständigkeit nur in der Art einer geistlosen Kopie zu wirken imstande ist. Selbst die bronzenen Reiterstatuen Karls III., des Gründers der gegenwärtigen Dynastie, und Ferdinands I., Werke Canovas und des Antonio Cali, munter hellgrün in ihrer Farbe, glatt und leicht in ihren Formen, haben gar nicht den Charakter des geschichtlich Monumentalen, sondern nur den des zufällig Verzierenden. Und so ist überall hier der Geist des Gegenwärtigen, Modernen und einer flachen Heiterkeit verbreitet. Das Schloß würde, ohne daß sein Charakter sich dagegen sträubte, als große Villa in einen Park sich verpflanzen lassen und das sein können, was Caserta oder Capodimonte ist, dem es ziemlich ähnlich sieht. Auch dies ist für dasselbe wesentlich, daß San Carlo, das größte aller Theater, mit ihm verbunden einen seiner Flügel vorstellt. Die Musen der Oper und des Balletts wohnen unter einem Dach mit dem Oberhaupt des Staats, und in einem Seitenhof, in welchen man von der Straße aus hinunterblickt, exerzieren jeden Morgen Schweizer, von Kopf bis zu Fuß in nüchtern blaugraue Leinwand gekleidet, die ich niemals anblicken konnte, ohne zu finden, wie vortrefflich diese grauen Reihen mit der kalten Heiterkeit der Architektur des Schlosses zusammenstimmten.

Der König Ferdinand zürnt noch auf Neapel. Das Schloß war wie ausgestorben; der Hof befand sich in Ischia. Aber eines Tages kehrte er nach der Hauptstadt zurück, um dem Fest der Madonna auf dem Mercato beizuwohnen, welche eines fast gleichen Ansehens genießt wie ihre Schwester von Piedigrotta. Ich hatte also das Vergnügen, den gesamten Hof sowohl nach dem Mercato, als zurück nach dem Residenzschlosse fahren zu sehen, Es war ein überaus prächtiger Zug von ungezählten, in Gold strotzenden Kutschen, welcher sich über den Largo di Castello dorthin bewegte, und plötzlich erhielt dies leblose Gebäude den Ausdruck strahlender Lebendigkeit. Aus keinem Munde hörte ich den Ruf «viva il rè!». Man entblößte die Häupter, wie man es tut, wenn die Glocken die Ave-Maria-Zeit ankündigen. Prächtig nahm sich das Militär aus, zumal die Husaren auf schönen Pferden, in malerischer Tracht. In Rom nur an die Züge marschierender Franzosen gewöhnt, war es mir interessant genug, wieder nationalitalienisches Militär zu sehen. Die Neapolitaner sind stattliche Soldaten, trefflich gekleidet, aber man merkt ihnen an, daß sie nur Soldaten scheinen, daß sie gleichsam ein theatralisches Militär sind.

Es gibt in Rom charakteristische öffentliche Straßenerscheinungen, die stets paarweise einherwandelnden Korporationen, welche in langen Zügen feierlich sich fortbewegen und in der Totenstille der Straßen malerisch auffallen; sie sind höchst wesentlich für den Begriff der Stadt, weil sie dem Betrachter das aufschließen, was sich im innern Leben derselben geistig geordnet und gegliedert hat. Ich will der Hauptsache nach zusammenstellen, was so paarweise in Rom wandelt: Züge der Mönche, der Nonnen, der Jungfrauen aus den verschiedensten Instituten, der armen Waisenkinder, Züge der Kollegienschüler, der Roten, Schwarzen, Weißen; Züge der Totenbrüderschaften in ihren Kapuzen, die Schwarzen, Grünen, Weißen, Violetten, endlich das Militär. Auch Neapel hat die meisten dieser Stereotypen, wandelnden Erscheinungen, aber in der ungeheuren Menschenflut fallen sie nicht auf, und das Weltliche drängt das Geistliche zurück. Das Militär ragt hervor, und noch auffallender als dieses treten aus dem Straßengewühl jene unseligen Galeerensklaven heraus, welche paarweise und kettenklirrend, von Soldaten geleitet, je nach ihren Klassen, bald in die Farben des Mordes, blutrot, bald in die des Betrugs und der Schande, hochgelb, uniformiert, durch die Gassen ziehen und selbst in meilenweiter Entfernung bei Portici und Torre del Greco noch den Blick entsetzen. Dies Schauspiel ist entwürdigend, zumal im Angesicht einer Natur, welche Herz und Seele erweitert und mit Empfindungen des Lebensgenusses erfüllt.

Wie ich schon sagte, tritt in Neapel keine jener sozialen Gliederungen so stark und für sich auffällig in die Erscheinung wie in Rom. Und selbst Geistlichkeit und Mönchschaft, wie allgemein bekannt, in unverhältnismäßiger Anzahl vorhanden und das parasitische Gewächs, welches die Lebensentwicklung Neapels hindert, verlieren sich in der Menge, zu deren greller Buntheit allein sie beitragen. Ich habe an jenem Fest der Madonna del Mercato, wie später Gelegenheit gehabt, zu bemerken, wie auch hier alles ins Weltliche, Heitere, ins Volk selbst hineingezogen wird. Man geht nicht zum Fest, um den Anblick geistlichen Pomps oder kirchlicher Schaustellungen zu haben, man geht, um im Freien an der Dekoration der Natur sich zu ergötzen, in welche diese Menschenmenge einen nicht zu sagenden Farbenreichtum hineinträgt. Ich sah das neapolitanische Volk bei dem Feste Centesimo, dem hundertjährigen Besuch der Madonna des Posilip beim Könige, und nimmer sah ich ein ähnliches Festtheater. Die Chiaia und die Villa Reale bis an die Grotte des Posilip mit buntem Menschengewühl übergossen; Fahnen, Teppiche, Blumen; der Golf lichtstrahlend, im Bogen von der Chiaia bis zum Hafen in sechs ausgeflaggte Kriegsschiffe aufgestellt, welche unablässig feuerten. Gewühl und Getöne sinnverwirrend. Die Prozession aber unbedeutend, weder voll feierlicher Würde, noch von wirklichem Glanz, ja wunderlich für den, welcher eben aus Rom kam.


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