Ferdinand Gregorovius
Wanderjahre in Italien
Ferdinand Gregorovius

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Die barbarische Lust der alten Römer an der Qual sterbender Tiere und Menschen scheint sich vielfach in die christliche Malerei hinübergezogen zu haben, nur noch ekelerregender und frivoler. Denn was kann die gebildete Empfindung mehr beleidigen als solches Gemälde oder die in San Bartolomeo auf der Tiberinsel dargestellte Abschindung dieses Heiligen oder endlich jene Fresken in Santo Stefano Rotondo, welche die Todesarten von Märtyrern in blühenden Farben und guter Zeichnung mit himmelschreiender Wahrheit vorstellen? Würde ein Grieche die Bildermuseen des heutigen Italien und dessen Kirchen durchwandern, so möchte er das Urteil fällen, daß er zu einem Volke menschenfressender Zyklopen von ganz kannibalischer Religion gekommen sei, welche sich mit der Zeit auf Malerei verlegt hätten, daß aber unter ihnen auch ebensoviel Bilder zu finden seien, welche die Grazien selbst gemalt zu haben scheinen.

Der Sinn der Römer für Figuren und jederlei szenische Darstellung oder Gruppierung ist groß und allgemein. Es gibt kaum ein Fest, wo man ihn nicht gewahrte. Die biblischen Szenen, Legenden, Weihnachts- und Passionsvorstellungen sieht man in vielen Kirchen. Es erstreckt sich das bis in die Buden der Fettwarenhändler und der öffentlichen Straßenküchen. Auch diese haben ihre Heiligen und Patrone und ihre Feste, an denen sie miteinander wetteifern, ihre Buden mit Blumen, mit Buntwerk, Ampeln und Figürchen auszuschmücken.

Sobald die Fastenzeit vorüber ist, verwandeln sich die Läden der Pizzicagnoli, der Verkäufer von Käsen, Würsten, Schinken und andern ähnlichen Dingen, in kleine Tempel, in denen irgendeine köstliche Wurst als Wurstgottheit, als mythische Göttin Salami verehrt zu werden scheint. Wie in den Totenkapellen die Wände mit Schädeln und Menschengebein überkleidet sind, so macht der Pizzicagnolo seinen Laden zu einer graziösen Wurstkapelle. Symmetrisch aufgeschichtete Käse bilden etwa die eine Wand, die andere wieder mächtige Speck- und Schmerseiten, die weißen Kanten, welche mit Arabesken von Gold- und Silberpapierstreifen überkleidet sind, zierlich herauskehrend. An der Decke hängen zahllose Wurstmosaiken, und Würste schweben hier phantastisch unter bunten Blumen, Lorbeer- und Myrtenzweigen, nicht minder anmutig als die ätherischen Bacchantinnen auf Fresken Pompejis oder die reizenden Jahreszeiten des Giulio Romano. Es sind ohne Zweifel höchst geschmackvolle Wurstfresken. In der Mittelwand wölbt sich eine mysteriöse Grotte, und darin dreht sich zwischen Schinken und Würsten die Passion Christi. Sie ist in einem Tempelchen vorgestellt, welches umkreisend alle bezüglichen Figuren und Figürchen auf das beste sehen läßt. Überall flimmern Ampeln und Lichter, und von Freude, von Stolz und Fett strahlend steht der kunstreiche Wurstbildner hinter seiner Fleischbank und scheint der hereindringenden Menge die großen Worte zuzurufen: «Anch'io sono pittore!»

Glückliches, kindlich heiteres, aber auch kindisches Volk! Haben sie doch alles, die ganze Weltgeschichte und den Pulcinella, die Kunst, die Sonne des Südens, Blumen, Früchte und Wein in unerschöpfter Fülle. Seht also diesen Fetthändler, wie er die große Menschheitstragödie, das Weltleiden zu einem Puppenspiel travestiert und zwischen den Schinken sich drehen läßt, und was er für ein großer Triumphator über den Tod ist!

Dies Rom ist eine wunderliche Figurenwelt. Die ganze Entwicklungsgeschichte der Erde ist hier in Figuren zu finden, von den Museen des Vatikans und des Kapitols und den Kirchen herab bis auf die Springbrunnen des Bernini und die Marionettentheater. Wenn alle diese Figuren lebendig würden, so könnten sie das römische Volk austreiben, und es sollte eine lustige Gesellschaft sein, die dann Rom bewohnte, vom Apollo im Belvedere bis zu dem kleinen Pagliazzo auf der Montanara und dem armen Erasmus, dem die Eingeweide aus dem Leibe gewunden werden. Aber das ist keineswegs ein burlesker Spaß für die Phantasie, sondern es ist für den Denkenden. Denn alle diese Figuren und Figürchen, Göttergestalten, Menschengestalten und Tierbilder sind ebensoviel geschichtliche Formen des Menschen und selbst alle aus seinem innersten Wesen durch große Prozesse von Entwicklungskämpfen vieler Zeitalter herausgeschaffen; am Ende kann sich auch die Marionettenpuppe neben Laokoon stellen und ausrufen: «Anch'io sono Laocoonte!»

Gegenwärtig spielen in Rein zwei Marionettentheater (Teatri delle marionette oder dei burattini), eins auf der Piazza Montanara, das andere auf der Piazza Sant'Apollinare. Jenes ist das echt volkstümliche Theater für die unterste Klasse der Bevölkerung, dieses hat schon zivilisierte Puppen, welche auch in Frack und Glacéhandschuhen spielen und ihre Vorstellung jedesmal mit einem prächtigen Ballett endigen. Die Puppen auf der Montanara dagegen sind noch nicht von der Kultur ergriffen, sondern gehen in mittelalterlichem Kostüm, und ihre Art, sich zu betragen, ist reckenhaft und von einer wilden Ungebärde. Sie tragieren fast durchgehende alte Ritterstücke, bisweilen auch Geschichten von Äneas und dem König Turnus, in der Regel aber spielen sie die mittelalterlichen Romanzen und den ganzen Ariosto von A bis Z, so daß sie die romantischen Sagen im Volk lebendig erhalten, was kein kleines Verdienst ist.

Am heutigen Tage hängt am Arco dei Saponari, wo das Marionettentheater aufgeschlagen ist, ausnahmsweise ein großes papiernes Aushängeschild, auf welchem in langen Buchstaben zu lesen ist, daß man spielen wird den Cristoforo Colombo, wie er die Indien entdeckt hat, nämlich im Jahre 1399, wie solches der Wahrheit gemäß der Zettel besagt.

Die Piazza Montanara, eher Straße als Platz zu nennen, gegen den Fuß des Tarpejischen Felsens gelegen und zwischen ihm und dem Tiber, ist einer der Sammelplätze des römischen Volkslebens, namentlich für die untersten Schichten und die vom Lande herkommenden Campagnolen. Alles sieht hier erbärmlich und unsauber aus; die Bedürfnisartikel, welche dort auf den Bänken feilgeboten werden, zeigen, daß hier für Quatrini gehandelt wird. Wer wird jene zahllosen Zigarrenstummel kaufen, welche die Jungen von den Straßen aufgelesen haben, und die nun in hölzernen Kisten zum Verkaufe ausliegen? Der arme Mann und der Arbeiter von der Campagna kauft sie für seine Pfeife oder als Kautabak. Es fehlt auch nicht der Straßenschreiber, welcher an der Ecke jenes Hauses hinter seinem Tische sitzt, Papier und Feder vor sich und das großmächtige Tintenfaß, aus welchem er mit derselben Geläufigkeit Liebesbriefe, Drohbriefe, Kontrakte, Beschwerden und Bittgesuche aufzusetzen weiß. In dieser Gegend hat also das Marionettentheater sein passendes Lokal gewählt: es findet sein Publikum an den Straßenjungen, den Bettlern, Arbeitern und Handlangern, welche abends sich am Ariosto zu ergötzen ein Recht haben.

Nun tut sich das gähnende Tor der Seifensieder auf, in welchem es dunkel und ungeheuerlich ist, und schon dringen durch diese Höhle Stimmen von lärmenden und quäkenden streitbaren Jungen, welche vor der Kasse und an der steinernen Treppe des Hauses lungern und sich drängen. Da es heute obenein Karnevalstag ist, so wird das Publikum sehr zahlreich sein. Das schmutzige alte Haus steht in einem kleinen Wolfswinkel, welchen eine Lampe erhellt, wenn der Mond nicht hineinscheint. Unten findet sich ein zimmerartiges Loch, worin die Billetts verkauft werden. Wir können dreierlei Plätze haben: im Paradiese für zwei, im Parterre für einen, und auf dem Palchettone für drei Bajocci. Da wir vermögende Leute sind, bezahlen wir den besten Platz.

Nachdem das Billett gelöst ist, gilt es, sich ins Haus zu schieben. Dies aber ist kein geringes Unternehmen, denn die enge Treppe ist von Schaulustigen, namentlich von Jungen, vollgepfropft, von denen jeder der erste sein will, und ein ohrenzerreißender Lärm wird verführt. Hundert Füße und Hände sind im Aufruhr, und keine anständige Tasche ist vor Fingerübungen sicher. Man wird durch eine enge Tür in das Haus geschoben, denn hier geht alles im Schub hinein, und ebenso werden die Zuschauer nach Beendigung des Spiels, da alles hinausstürzt, im eigentlichen Sinne des Wortes wieder an die freie Luft gesetzt. An der Türe aber steht gedankenvoll ein päpstlicher Jäger und bemüht sich um die Drangsale der Menschen, sooft es ihm einfällt.

Wir haben uns über einer Hühnerstiege auf den Palchettone gerettet, eine um die Wände laufende sehr enge Balustrade, und dort haben wir auf wackelnden Holzbänken Platz genommen. Wir beschauen das Haus in der Nähe. Ein Vorhang mit mythologischen Figuren, Apollo und einige Musen, welche nur noch halb kenntlich und in der elendesten Verfassung sind, verschleiern die Geheimnisse der Bühne. Von der Decke hängt ein halber Bretterverschlag, der von den Lampen angeräuchert ist und in dessen Ritzen zahllose Türen hineingesteckt sind, die uns rätselhaft erscheinen. In diesem Verschlage trampeln die Zwei-Bajocci-Menschen umher, denn das ist das irdische Paradies. Unter uns liegt auf dem Boden das Parterre. Wenn Herkules, als er nach Rom kam, den Riesen Cacus auf dem Aventin zu erschlagen, dieses Parterre gesehen hätte, so hätte er wahrscheinlich eine Arbeit daran gewendet, und wir würden heute in der Schule nicht lernen: siebentens, er hat die Ställe des Augias gereinigt, sondern: er hat das Marionettentheater auf der Montanara ausgefegt. Denn dies Parterre hat wohl, solange es besteht, niemals weder die Ehre noch die Wohltat eines Besens erfahren. Auf seinem erdigen Boden liegen Tausende von weißen Kürbiskernhülsen, Fruchtschalen und Papierfetzen, welche nun ein natürliches Mosaik bilden. Auf den Bänken sitzt eine zerlumpte Jungenschaft, Roms Sprößlinge von der Wolfsmilch genährt, die raubsüchtige Brut des Romulus.

Betrachtet man die Physiognomien der Erwachsenen, diese bronzefarbenen, schwarzhaarigen Kerle, so glaubt man wahrlich in das Banditen- und Räuberasyl des Romulus gekommen zu sein. Indessen so urrevolutionär auch der Lärm ist, welcher von unterwärts aufsteigt, so friedlich ist der Zweck dieser Versammlung, denn sie alle wollen sich von Puppen schöne Dinge vorspielen lassen, also ein höchst unschuldiges und kindliches Vergnügen genießen. Die ganze Versammlung hat einen Marionettenanstrich; denn nun kommen vom Karneval her Masken ins Parterre, Pulcinelle, Pagliazzen mit Peitschen und aufgeblasenen Schweinsblasen, Wunderdoktoren und Scharlatane. Sie nehmen unter Gelächter Platz; ein Zug von infernalischer Heiterkeit, ein ganz höllenbreughelischer Charakter ist über das Parterre ausgegossen. Die Gesellschaft bedarf einiger Erfrischungen. Und siehe da, ein Verkäufer schlüpft mit Geschick durch die Bänke, auf beiden Händen einen Korb balancierend, in welchem Pfefferküchelchen, kleine Pasteten und die beliebten Kürbiskerne in Tüten zu haben sind. Bald beginnt das ganze Parterre Kerne aufzuknuppern und das Mosaik des Bodens zu vermehren, während die Tüten von den Jungen in die Ritzen des Paradieses gesteckt werden, wo sie wie Tropfsteinbildungen in einer Höhle herabhängen. Der Lärm ist sinnbetäubend.

Es haben sich auch einige Damen, Wölfinnen und tarpejische Nymphen, auf dem Palchettone eingefunden; es ist Zeit zum Beginnen. Man ruft: «Anfangen! Anfangen!» Die Musik beschwichtigt. Welche Musik! In der Ecke des Palchettone sitzen eingedrückt drei Musikanten, erzdurchtönende Männer, langausatmende Tubabläser. Wenn sie nicht von den Posaunisten Jerichos abstammen, so stammen sie sicherlich von den alten pelasgischen Tyrrhenern, welche die ersten Tuben nach Italien in die Stadt Tarquinii gebracht haben. Ihre Musik ist niederreißend, wahre Ruinenmusik. Trotz des Heulens, Pfeifens, Schreiens und trotz all des schrillen Spektakels blasen die Musikanten mit unerschütterter Standhaftigkeit, und es fährt bisweilen durch das Chaos der Töne ein armstarker schrecklicher Trompetenstoß.

Nun werden die Puppen spielen, und wir können die herrlichsten Geschichten sehen, den Kaiser Karl und die Paladine, den Orlando, den Medoro, den Lancelot, den Zauberer Malagis, den Sultan Abdorrhaman, die Melisandra, den Ruggero, König Marsilio und die schöne Königin Ginevra; wir können ganze Völkerschaften von Mohren und Sarazenen und die schrecklichsten Bataillen anstaunen.

Heute spielen sie die schöne Geschichte «Angelica e Medoro» oder «Orlando furioso e li Paladini». Der Vorhang geht auf, und die Puppen erscheinen. Da kommen der tapfere Orlando und sein Schildknappe Pulcinella mit einem Schwunge gleichsam durch die Luft; jener ist vom Scheitel bis zur Sohle gepanzert, und das Schwert Durandal ist an seiner Hand befestigt. Der Pulcinella trägt die weißen Hosen, den weißen weitärmeligen Rock und die spitze weiße Kappe. Die Puppen sind zwei Fuß und darüber hoch, ihre Glieder höchst gelenk; sie leisten alle menschenmöglichen Bewegungen mit einer burlesk-komischen steifen Grandezza, wobei das Klopfen ihrer hölzernen Beine, auf welchen sie beständig balancieren, um sich aufrecht zu halten, das Aufhüpfen, Aufspringen und die puppenhafte Gebärdung zu dem Pathos der von oben her unsichtbar deklamierenden Stimmen eine ganz ergötzliche Wirkung hervorbringen.

Allmählich gewöhnt sich das Auge an die Maße dieser Gliederchen, indem es die natürlichen Verhältnisse herabstimmt, und wenn nun eine Marionette nicht gehorchen will und plötzlich eine nachhelfende Menschenhand herunterfährt, so erscheint diese dem Auge als die ungeschlachte Hand eines Riesen und als etwas Unnatürliches.

Während die Puppen spielen und in bombastischen Ritterreden einander herausfordern oder sich verliebte Herzensergießungen machen, geschieht es bisweilen, daß es einem Jungen im Parterre einfällt, mitzuspielen, und daß er ein Stück Holz auf die Bühne unter die Marionetten schleudert. Ich sah eines Abends, da man die Geschichte des bösen Ganelon gab, einen Buben diesem schändlichen Verräter ein Stück Holz nach dem Kopfe werfen, und ich glaube, er tat das aus demselben heroischen Mitgefühl, welches den edlen Ritter Don Quichotte so weit fortriß, alle Puppen eines Marionettentheaters mit seinem tapfern Degen zusammenzuhauen, weil sich seine Ehre dagegen sträubte, zu dulden, daß schändliche Verräter eine edle und tugendsame Dame auf ihr Schloß gefangenführten. Der Anteil an dem Stück zeigt sich immer auf das lebhafteste, und es fehlt nicht an kritischen und witzigen Bemerkungen, welche beweisen, daß der Zuhörer mit dem Gegenstande vertraut ist.

Den höchsten Jubel rufen immer die furiösen Szenen hervor, die sich natürlich häufen. Als Orlando über die Untreue Angelikas in Raserei gerät, schüttelt er sich mit einer so beispiellosen Wut, daß ihm Panzer, Beinschienen und Helm Stück für Stück abfallen und er wie Amadis von Gallien im Büßerhemde dasteht. Hierauf schlägt er mit dem Degen eine Hirtencapanne, zwei Bäume und einen Felsen nieder, immer brüllend: «a terra, a terra!» Dazu brüllt auch Pulcinella: «a terra, a terra!» und rüttelt aus Leibeskräften an der Capanne. In den Kampfszenen, deren soviel als möglich in jedem Stück vorkommen müssen, wird hinter den Kulissen stets die Trommel gerührt. Die kämpfenden Paladine oder Ritter und Mohren schlagen wohl drei Minuten lang mit unbeschreiblicher Tapferkeit aufeinander; die Puppen werden dabei in der Luft mit großer Geschicklichkeit gegeneinandergeschwenkt und ihre Arme an den Gelenkfäden so bewegt und gegeneinandergeschlagen, daß die Degenklingen sich beständig treffen und ein fürchterliches Getöse machen. Ich sah Orlando mit immer gleicher Tapferkeit zehn Hirten erschlagen und ungezählte Mohren niederstechen. Ist es eine Schlacht, so rennen sich die Heere stoßweise an und hauen wütend ein; der unterliegende Teil stirbt jedesmal paarweise. Denn es fallen je zwei Puppen; auf diese immer wieder zwei und so weiter, bis ein greuelvoller Leichenhaufen aufgeschichtet liegt, worauf sich dann der Paladin triumphierend oder der Pulcinella einen Witz machend hinstellt.


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