Ferdinand Gregorovius
Wanderjahre in Italien
Ferdinand Gregorovius

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Tarent

1874/1875

Noch vor einigen Jahren war eine Reise nach Tarent ein so schwieriges Unternehmen, daß nur wenige Ausländer, Gelehrte und Altertumsforscher diese berühmte Stadt gesehen haben. Heute ist sie in das Eisenbahnsystem aufgenommen, wie fast schon das gesamte Großgriechenland, und ohne Mühe und Gefahr können fortan alle die Stätten durchforscht werden, auf denen einst um den herrlichen Golf her die großgriechischen Kolonien geblüht haben.

Die adriatische Bahn teilt sich in Bari in zwei Linien; die eine geht längs des Meeres über Brindisi fort und endet im Hafen Otranto; die andere führt quer durch das Land geradezu nach Tarent. Die Fahrt auf dieser Linie ist kurz, aber wenig anziehend. Wenn man mehr vom Lande kennenlernen will, muß man bis Brindisi oder Lecce fahren, um entweder von jener Stadt über Oria oder von dieser über Manduria Tarent zu erreichen, und das ist so hier wie dort eine bequeme Tagereise im Mietwagen. Man durchschneidet dabei die ganze messapische Halbinsel an ihrer Basis.

Im Jahre 1874 war ich von Bari nach Tarent gefahren; diesmal wählten wir die andere Straße von Lecce aus. Es ist eine Reise von zwölf Stunden auf einer vorzüglichen Fahrstraße.

Nahe vor dem Tor Lecces, aus welchem man auf diese gelangt, steht ein moderner Obelisk mit den Symbolen der vier Distrikte der Terra d'Otranto. Das Wappen Otrantos ist ein Delphin, welcher einen Halbmond im Maule trägt. Er wurde der Stadt zur Erinnerung an ihre Befreiung aus der Gewalt der Türken verliehen, welche sie im Jahre 1480 unter unsagbaren Greueln erobert hatten.

Das Land ist durchaus eben, ein fortgesetzter Olivengarten, und deshalb ermüdend und eintönig. Die wohlgeordnete Kultur desselben würde auf Wohlstand des Landvolkes schließen lassen, wenn man nicht wüßte, daß sich die meisten Güter in den Händen großer Barone befinden. Trotzdem macht die Bevölkerung in den Ortschaften nicht den Eindruck der Armut, wie in andern vom Weltverkehr minder entfernten Gegenden Süditaliens. Sehr sauber erschienen die Fuhrwerke der Bauern; die weißen Ochsen, welche sie ziehen, sind stets mit einem roten Stirnbande geschmückt.

Daß man sich hier in einem Lande uralter bis zur Mythenzeit hinaufreichender Völker befindet, lehren hie und da antike Namen, so der eines Ortes «Campi Salentini».

Wir erreichten um die Mittagszeit Manduria, eine alte Stadt, welche erst vor kurzem ihren neuern Namen Casal nuovo wieder abgelegt hat. Manduria wird mehrmals in der Geschichte genannt. Vor ihren Mauern fiel Archidamus von Sparta, der Sohn des Königs Agesilaos, im Kampfe mit den Messapiern als General der Tarentiner. Hannibal eroberte die Stadt, Fabius Maximus entriß sie den Karthagern; so wurde sie römisch. Sie muß im Altertum ein ansehnlicher Ort gewesen sein; das zeigen noch Reste der antiken Stadtmauern, welche man draußen auf dem Felde, wie neben dem Marktplatze wohlerhalten sieht, Bauwerke aus kolossalen Quadersteinen, hie und da noch in der ursprünglichen Höhe aufrecht stehend. Man trifft auch antike Zisternen und eine berühmte Quelle in einer Grotte, von deren immer sich gleichbleibender Fülle schon Plinius geredet hat.

Die Stadt soll erst von den Goten unter Totila zerstört worden sein; dann bauten sie die Byzantiner wieder auf, aber im 10. Jahrhundert erlitt sie wiederholte Verwüstungen durch die Sarazenen. Diese von Afrika und Sizilien herübergekommenen Horden waren die eigentlichen Verderber beider Kalabrien und Apuliens. Sie vernichteten die Städte dieser gesegneten Länder und schleppten deren Bewohner in die Sklaverei. Italienische Geschichtschreiber gefallen sich heute in einer gewissen romantischen Vorliebe für die arabische Epoche Siziliens. Hat sich aber die Herrschaft der Araber dort im Grunde wirklich viel über den Charakter afrikanischer Raubstaaten erhoben? Wenigstens waren sie geradeso ohnmächtig, eine neue für das Abendland bedeutende Kultur in Sizilien und Kalabrien zu erschaffen, wie die Türken in Kleinasien und Griechenland. Sie zerstörten dort (und das ist tief zu beklagen) die Reste der antiken Welt; mit den Klöstern, welche sie verbrannten, gingen auch viele literarische Schätze des Altertums zugrunde.

Die Normannen retteten endlich Süditalien und Sizilien aus der Gewalt dieser Afrikaner, und mit ihrer ewig denkwürdigen Herrschaft stellte sich die lateinische Kultur in Sizilien wieder her und belebte sich auch das ganz wüst gewordene Kalabrien wieder.

Manduria wurde von Roger, dem Sohne Robert Guiscards, im Jahre 1070 aus dem Material der alten Stadt kümmerlich aufgebaut und fortan Casal nuovo genannt. Mit der Zeit ward sie ein Lehen der Marchesi von Oria und Prinzen von Francavilla. Der schöne, doch nicht alte Palast dieser Feudalherren ist noch das ansehnlichste Gebäude des kleinen Orts. Man sagte mir, daß der Prinz ihn an irgendeinen reich gewordenen Bürger verkauft habe, und solches Schicksal erleiden seit der letzten Umwälzung Italiens zahllose Baronalschlösser in allen Provinzen des Südens.

Manduria hat heute gegen 9000 Einwohner. Es ist eine Stadt von orientalischem Aussehen: die Häuser sind würfelförmig, mit platten Dächern; die Straßen eng und entsetzlich unsauber. Da es Sonntag war, strömte das Volk nach den Kirchen oder tummelte sich auf den Plätzen umher. Es trägt keine Nationaltracht. Die Bildung und dunkle Farbe des Gesichts und die schwer verständliche Sprache erinnerten mich daran, daß ich auf der südlichsten Halbinsel des Festlandes uralter Japygen und Messapier mich befand. Der Eindruck des Orientalischen, welchen Land, Volk und Bauart der Stadt machen, wurde durch die kaum erträgliche Sonnenglut und deren heftigen Reflex von den weißen Wänden der Häuser verstärkt. Wenn die Hitze in Manduria schon in der Mitte des Monats Mai so gewaltig ist, wie furchtbar muß sie erst im Juli und August wirken.

Wir verbrachten die Mittagsstunden in dem unheimlichen Gasthause, oder vielmehr in einer kellerartigen Schenke, wo wir trotz des Festtages mit dem dürftigsten Mittagsmahl abgefertigt wurden. Und doch erscheint das Land ringsumher in Meilenweite als ein herrlicher Garten, aus welchem sich die Fülle aller Produkte erwarten läßt. Es wird aber hier meist nur Öl und Safran gebaut.

Als wir Manduria verließen, um die Reise nach Tarent fortzusetzen, und kaum ins Freie gelangt waren, hielt unser Fuhrwerk an, und ein großer, starkbeleibter Bürger des Orts pflanzte sich ohne Umstände neben den Kutscher hin. Da der kleine Wagen verschlossen war, so wurde uns durch ihn die Aussicht aus dem vordern Fenster zugedeckt. Wir bedeuteten dem ungebetenen Gaste wieder abzusteigen, und, wenn er nun einmal der Fahrgelegenheit sich bedienen wolle, nachzusehen, ob er hinterwärts einen Platz sich einrichten könne. Der Eindringling protestierte mit einer Entschiedenheit, als sei er der wahre Inhaber des Wagens, und da wir auf unserm Willen bestanden, entfernte er sich ungehalten, aber doch mit guter Art. Als wir hierauf von unserm Fuhrmann Aufklärung über diesen Vorfall verlangten, antwortete er uns: «Dieser Mann ist ein wohlhabender Bürger Mandurias; er hat nach Tarent mitfahren wollen, woran ich ihn nicht hindern durfte; denn wisset, meine Herren, er ist ein Haupt der Camorra!» Also breitet auch in diesem stillen Halbinsellande jene furchtbare Genossenschaft des Betrugs und der Erpressung ihr unzerreißbares Gewebe aus.

Die Landschaft bleibt immer ein einförmiges Flachland und von derselben reichen Kultur unabsehbarer Olivenwälder bedeckt, welche mit Weizenfeldern abwechseln. Nur nordwärts ragt ein Höhenzug auf, und über diesem wird eine große weiße Stadt sichtbar, deren Mittelpunkt ein mächtiges Kastell einnimmt. Das ist das uralte Oria oder Uria, die Königsburg und Metropolis der Messapier, eine der berühmtesten Städte des alten Kalabrien. Mit Verlangen blickte ich auf diesen monumentalen Ort eines unermeßlichen Alters, dessen emporgetürmte Massen über dem blauen Gebirge im Sonnenlicht einen herrlichen Anblick gewährten, während von seiner Burg ein fremder Mythenhauch vorhellenischer Zeiten herabzudringen schien. Jetzt bedauerten wir es lebhaft, daß wir nicht die Straße von Brindisi nach Tarent gewählt hatten, denn sie würde uns nach Oria geführt haben.

Nach der Mythe war Oria (Herodot nennt die Stadt Hyria) eine Gründung des Japyx, eines Sohnes des Dädalus, also kretischen Ursprungs; ohne Zweifel war es dies meerbeherrschende Inselvolk, welches das nahe Kalabrien mit Kolonien erfüllt hat. Die Japygen vereinigten sich mit Messapiern, die sie in jenem Lande bereits vorfanden, und Oria wurde der messapische Königssitz. Die mächtige Stadt führte Krieg mit dem benachbarten Tarent; Hannibal eroberte sie, und nach dessen Besiegung wurde sie römisch. Sie dauerte unter dem Wechsel der Zeiten fort, doch ihre alten Monumente gingen unter. Der König Manfred, welchem sein Vater Tarent als Fürstentum verliehen hatte, soll die Burg neu aufgebaut haben.

Oria gehörte lande zu diesem großen Tarentiner Lehen, bis es der König von Spanien im Jahre 1572 dem genuesischen Geschlecht Imperiali als Marchesat verlieh. Man behauptet, daß die berühmte Familie Doria, die schon am Anfange des 12. Jahrhunderts in der Geschichte Genuas erscheint, aus eben dieser kalabrischen Stadt hergekommen sei; doch gibt es keine genealogischen Beweise dafür.

Die Höhen Orias bilden die Wasserscheide zwischen dem Golf von Tarent und dem östlichen Meer; sie sind eine Aufschwellung des Bodens um den Nordostrand jenes großen Golfs. Wir fuhren nun diesem entgegen über ein wellenförmiges, überaus reich bebautes Land und kamen durch die Orte Sava, Fracagnano, Monteparano und San Giorgio. Wenn diese nicht irgendeine Kuppelkirche aus dem 17. oder 18. Jahrhundert und ein altes Baronalschloß besäßen, so würde man sie ihrer Bauart nach für Städte einer afrikanischen oder syrischen Küste halten können.

Fracagnano ist vor allen andern ganz und gar orientalischen Ansehens; die Straßen bestehen hier aus einstöckigen und gesonderten Häusern in Würfelform und in der Regel ohne Fenster nach außen.

Der letzte Ort vor Tarent, San Giorgio, ist eine albanesische Kolonie aus der Zeit Skanderbegs, wie es deren noch mehrere in der Terra d'Otranto gibt. Die Einwohner haben einen Rest ihrer heimischen Sprache und Gebräuche bewahrt, aber sonst unterscheiden sie sich nicht von den andern Bewohnern des Landes.

Von dort aus öffnet sich der Blick auf den Golf von Tarent. Die Höhe, welche man hier erreicht hat, fällt in meilenweiten Abhängen nieder, die gleich dem unermeßlichen Halbrund eines Theaters eine duftige Tiefe umschließen, und aus dieser blitzt ein purpurblaues Wasserbecken hervor: es ist das kleine Meer von Tarent!

Der Anblick ist eher befremdend als überwältigend schön zu nennen. Es sind nicht die herrlichen Gebirgsformen der Gestade Neapels, die sich hier wiederholen; es sind vielmehr leise und sanft geschwungene, nach dem inneren Lande zu allmählich aufsteigende, endlos weite Ufer, welche in vorgeschichtlichen Zeiten das Meer bespülte und worauf jetzt Ackerfluren und Olivenhaine sich hinziehen – eine meilenlange Einöde, nicht starr und zerrissen, wie jene steinerne um Syrakus, sondern grünend von Pflanzenwuchs, aber doch von dem unsagbaren Zauber geschichtlicher Verlassenheit erfüllt. Denn nur selten gewahrt der überraschte Blick in jenen blauen Tiefen und auf jenen sanften Höhen einen Ort. Alles ist weit und still und menschenleer.

Wir stiegen leise abwärts zum Golf durch herrliche Olivenhaine und zwischen Weizenfeldern von solcher Üppigkeit, daß sie das Herz jedes Landmannes entzückt haben würden, und je näher wir Tarent kamen, desto mächtiger und reicher wurde diese Kornkultur. Nun zeigte sich auch die Stadt selbst mit Mauern und Türmen inselartig zwischen den beiden strahlenden Meeren hingelagert.

Durch eine Vorstadt von einfachen Landhäusern auf einer staubigen Straße gelangten wir endlich in das Tor von Tarent, und so betraten wir diese gefeierte Hauptstadt Großgriechenlands, einst die in Purpur prangende Königin der Meere, von deren Herrlichkeit wie von jener ihrer sizilischen Schwester Syrakus nichts übrigblieb als der unsterbliche Name, und dieser ergreift noch mit Macht die Phantasie dessen, der ihn nennen hört.

 

Die insularische Lage Tarents zwischen zwei großen Häfen und Meeren, in deren blauen Fluten sich ihre Türme spiegeln, in der tiefsten sagenvollen Stille verlassener Küsten, rief mir beständig Syrakus in Erinnerung, so daß ich anfing, die Namen beider Städte miteinander zu verwechseln. Nur sind die Meeresweiten um Tarent her größere, denn was vergliche sich in der Mittelmeerwelt diesem prachtvollen Golf, dem Sinus Tarentinus? In einem weiten Halbkreise, dessen Linien und Endpunkte der Blick nicht umfassen kann, spannt sich diese Meeresbucht zwischen den beiden Vorgebirgen aus, dem Promontorium Salentinum oder Japygium (heute Capo di Santa Maria di Leuca) und dem Lacinium, dem heutigen Capo delle Colonne. In dem ersten endet die messapische Halbinsel, das alte Kalabrien; an seinen Ufern gründeten die Griechen nur eine ansehnliche Hafenstadt, das noch dauernde Kallipolis. In dem anderen Kap endet die längere Linie des Halbkreises, und an diesen glücklichen Küsten des alten Lucanien entstand und blühte die reichste Pflanzung der Griechen in einem Kranz weltberühmter Städte: Metapontum, Heraklea, Siris, Sybaris, Thurii und Kroton.

Tarent selbst liegt auf der günstigsten Stelle am Golf, in dessen Mittelpunkt, auf einer zur Insel gemachten Landzunge, zwischen dem kleinen Meer (Mare piccolo), wie die innerste Einbuchtung des Meerbusens genannt wird, und dem großen Meer (Mare grande), das heißt dem Golf selbst. Dieser herrliche große Hafen hat einen sichtbaren natürlichen Abschluß durch das Capo San Vito auf der messapischen Küste und durch das Capo San Collichio auf der anderen Seite, während zwischen beiden Vorgebirgen zwei kleine flache Inseln liegen, San Pietro und San Paolo, im Altertum Choerades genannt.

Den ersten umfassenden Anblick Tarents gewinnt man nicht auf der Straße von Lecce, sondern nordwärts auf der von Massafra, der letzten Station der Bahn, die von Bari herabführt, einem kleinen Ort von ganz orientalischem Charakter. Von diesem Ufer her übersieht man beide Meere und die von der Stadt bedeckte erhöhte Landzunge. An der Spitze derselben steht ein mächtiger krenelierter Turm des Mittelalters. Er schützt den Eingang in die Stadt an der langen Brücke, welche die Landzunge mit dem Festlande verbindet. Unter ihrem Bogen strömt die Flut des Golfs in das «Mare piccolo» ein.

Da nun diese Landzunge hinterwärts durch einen Wasserkanal durchschnitten ist, welcher auch dort das große und kleine Meer in Verbindung setzt, so wird Tarent zur Insel. Auf ihr steht die Stadt zusammengedrängt mit hohen, weißen Häusern, mit großen schwärzlichen Klöstern und wenigen nicht großen Türmen, scheinbar terrassenförmig sich erhebend, da auf der einen Seite, nach dem Golf zu, der Boden etwa achtzig Fuß hoch über der Flut aufsteigt. Dies heutige Tarent nimmt nur die Stelle ein, wo im Altertume die Akropolis gelegen war, denn die alte Stadt breitete sich weit über die Hochfläche des Isthmus landwärts nach Osten aus.


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