Ferdinand Gregorovius
Wanderjahre in Italien
Ferdinand Gregorovius

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Im ganzen ist Perugia wenig belebt. Von Linientruppen sah ich nicht viel; die Nationalgarde hatte auch hier alle Wachen bezogen, masisches Volk liegt hinter der Stadt. Dies Freischarenkorps ist bereits neu geordnet und wird, wie man mir sagte, in die Armee eingereiht werden. Sein Chef Masi, jetzt Kolonel, war, so sagte man mir, ursprünglich Sekretär bei einem Prinzen des Hauses Bonaparte; er trieb sich dann lange Jahre in Amerika herum, wo er sich in vielerlei Spekulationen, wie es scheint ohne Glück, versuchte. Im Jahre 1859 tauchte er an der päpstlichen Grenze Toskanas als Bandenführer auf und verdiente sich seine ersten Sporen bei Montefiascone. Es ist merkwürdig, daß jenes Wesen der Condottieri, welches Italien im Mittelalter besonders eigen war, sich so hartnäckig erhalten hat. Die Italiener scheuen den regulären Waffendienst, weil sie, bei ihrem unabhängigen Naturell, sich der Zucht nicht gerne fügen. Ich habe die Armee Franz' II. von Neapel im Jahre 1858 gesehen, als sie sich nordwärts gegen Aquila bewegte. Sie sah prachtvoll gerüstet und gut organisiert aus, aber diese 50 000 Mann stoben vor den Freischaren Garibaldis auseinander, und nun stellen sich ihre aufgelösten Trupps hie und da unter die Führung abenteuerlicher Bandenchefs, eines Chiavone, Crocco, Ninco Nanco und Cipriani, um wie Räuber tapfer zu kämpfen und sich totschießen zu lassen. Eine solche romantische Art des Kampfes sagt dem südlichen Wesen zu. Dem masischen Volk (es ist auch Reiterei darunter) gesellen sich noch immer viel Freizügler bei, selbst aus Rom, wo oft ganz junge Leute ihren Eltern und Brotherren davonlaufen, um in Spoleto oder Perugia zu dienen.

Man sieht in den Cafés junge Offiziere in lebhaften Gruppen und merkt, daß sie voll Eifer und Nationalgefühl sind. Es erschien mir überhaupt die Stimmung hier, wie in ganz Umbrien, hoffnungsvoll, wenn sich auch niemand verhehlte, daß die Schwierigkeit der Lage sehr groß sei. Ein Kern von Reaktion ist im Lande zurückgeblieben; er besteht aus den ehemaligen Beamten, welche man, wo es immer möglich war, mit Schonung in ihren Stellen gelassen hat, aus der Aristokratie und dem Priestertum. Der umbrische Adel, namentlich in Perugia, zum Teil sehr wohlhabenden und alten Familien angehörig, ist vielfach dem alten System zugetan geblieben. Außer daß ihn Tradition, Familienverbindungen und Ämter an das Papsttum ketten, fürchtet er seine Vernichtung durch die Demokratie. Diese Herren halten sich daher in mürrischer Zurückgezogenheit auf ihren Landsitzen oder in ihren Palästen in der Stadt. Der geringere Adel dagegen hat sich der Bewegung bereitwillig angeschlossen, und dasselbe gilt vom niedern Klerus.

Perugia besitzt nicht weniger als 36 Männer- und Frauenklöster. Einige von ihnen, wie die Klöster der Dominikaner, sind geschlossen, die Mönche haben sich ins Römische gezogen. Die Priester in höheren Stellen sind der Revolution feind, aber sie betragen sich vorsichtig und klug. Der ganze umbrische Episkopat steht wie ein Mann zum Papst, wie überhaupt dies feste Zusammenhalten des Klerus in Italien, wenn man sehr wenige Ausnahmen abrechnet, etwas Imponierendes hat. In vielen Hirtenbriefen hat sich der höhere Klerus den Maßregeln des umbrischen Intendanten widersetzt, wo sie Klöster, Kirchengüter, Aufhebung des geistlichen Forums, Befreiung des Unterrichts von der kirchlichen Aufsicht betreffen. Die Intendantur (heute in Händen Gualterios) nimmt selbstverständlich auf diese Proteste keine Rücksicht. Die Presse ist ganz frei. In dem altpäpstlichen Perugia verkauft man jetzt öffentlich die Bibeln Diodatis, so gut wie in Florenz, und bei den Straßenbuchhändlern liegen die heftigsten Invektiven gegen das Papsttum aus. Die «Gazzetta dell'Umbria» und das Wochenjournal «Roma e l'Italia», welche in Perugia erscheinen, bringen wütende Artikel gegen einheimische Priester, wie gegen die Kardinäle in Rom. Und so wird ein alter Zustand, nur auf passiven Widerstand beschränkt, öffentlich durch die Gewalt des neuen überflutet.

Die Universität, eine Lieblingsanstalt der Päpste, durch viele treffliche Lehrer in alter und neuer Zeit ausgezeichnet, bietet denselben Gegensatz dar. Viele Professoren, darunter Männer von altumbrischem Adel, sind reaktionär; das jüngere Personal hat sich der Revolution in die Arme geworfen. Die Stockung in der Lehrtätigkeit ist sehr fühlbar, denn die Jugend verläßt den Hörsaal, um das Gewehr in die Hand zu nehmen. Natürlich fühlt sich die gelehrte Welt in Zuständen unbehaglich, welche den Studien die Ruhe und Bedeutung nehmen. Es ist keine Aussicht vorhanden, daß diesen Übeln in Jahren abgeholfen werde, oder Perugia müßte wirklich die Hauptstadt Italiens werden, was einige Bürger, wie man mir lachend versicherte, in allem Ernst vorgeschlagen haben, weil ihre Stadt, abgesehen von allen anderen Vorzügen, eigentlich der Nabel Italiens sei.

Der Zweck meines Aufenthalts in Perugia waren archivalische Forschungen für die Geschichte der Stadt Rom im Mittelalter, sowohl in dem vortrefflich geordneten Dezemviralarchiv des Gemeindehauses, als in anderen Anstalten dieser Natur.

Gegenwärtig sind an die Gemeinde alle Archive gekommen, welche den aufgehobenen Klöstern der Stadt und ihres Distrikts angehört haben. Es sind deren zweiundzwanzig unterdrückt, mit Ausnahme der Bettelbrüder und des Benediktinerklosters S. Petrus vor der Stadt. Da aber ebendieselben Klöster schon im Jahre 1810 aufgehoben waren, so haben sich bereits damals viele Urkunden aus ihnen verloren. Ein Professor der Universität, Herr Adamo Rossi, führte mich in das ehemalige Servitenkloster S. Maria Nuova, wo in mehreren Zimmern solche nun der Stadt überlieferten Archive versammelt sind. Ich sah hier ganze Massen von Pergamentrollen aufgehäuft oder über den Boden hingestreut; ein verzweifelter und zugleich aufregender Anblick wie eines Schatzes, für dessen Hebung die Kräfte fehlen. Wir wühlten freilich darin wie Schätzgräber und warfen eine ganze Staubwolke aus den Rollen empor, doch nicht ein einziges für mich bedeutendes Dokument kam in unsere Hand, da diese Klosterurkunden nur lokaler Natur sind.

Die Verlassenheit solcher abgeschaffter Klöster ist grenzenlos – Gras wächst in ihren leeren Höfen; die scholastische Spinne webt ihre Netze in öden Sälen und Korridoren; in einigen schleicht noch wie ein Geist der Vergangenheit ein trübseliger Mönch als Schatten umher. Es ist das Ende einer ganzen Epoche der Geschichte, welches hier empfunden wird.

Acht Mönche leben noch in dem altberühmten Benediktinerkloster S. Pietro, worin einst Gregor IX., der große Feind Friedrichs II., zwei Jahre gewohnt hatte. Das Kloster zählt 900 Jahre, seine Kirche, eine auf antiken Granitsäulen ruhende Basilika von schöner Form, wird wie ein Kleinod der Stadt geachtet und gehalten; sie ist ein wahres Museum umbrischer Malerei. Denn schöne Gemälde von Perugino, Orazio Alfani, Doni, Lo Spagna und andern Meistern erfüllen sie, nebst den köstlichsten Kopien von Werken Peruginos und Raffaels, welche Sassoferrato gemacht hat. Die Benediktiner beklagten dort nicht ihr Los, sondern sie schienen gefaßt. Der würdige Abt sprach sich sogar für die Einheit Italiens aus, nur Rom wollte er dem Papst gesichert wissen. Ich merkte indes, daß er noch mehr auf dem Herzen hatte, was er verschwieg. Man hat auch dieser Abtei, wie der Metropole Monte Cassino, das Privilegium des Fortbestandes bis zum Tode der letzten Mönche gewährt, und diese haben eine agrarische Schule von fünfzig Zöglingen eingerichtet.

Ein junger Benediktiner führte mich in das Archiv des Klosters. Es bewahrt Kaiserdiplome von Heinrich III., Konrad III. und Barbarossa und viele Papstbullen. Sein Stolz ist oder war die älteste Urkunde, welche Perugia überhaupt besitzt: das Privilegium Benedikts VII. vom Jahre 978 für Petrus, den Gründer und ersten Abt dieses Klosters. Als die päpstlichen Schweizer unter ihrem Oberst Schmidt im Jahre 1859 das abgefallene Perugia erstürmten, drangen sie in die Abtei, wo sie arge Verwüstungen anrichteten. Sie warfen, so erzählte man mir, im Archiv die Diplome auseinander, rissen die Siegel und Bullen von vielen ab und zerstörten leider auch jenes unschätzbare Dokument. Es ist davon nur ein Bruchstück übriggeblieben, und das hat man an der Wand des Archivs unter Glas gesetzt. Ein Mönch hat daran ein lateinisches Epigramm geheftet, welches zum Denkmal für spätere Zeiten die vandalische Untat des furor Helveticus verewigen soll.

 

Ich dehnte meine umbrische Reise zum Zweck der Forschung in Archiven später noch über andere Städte aus, in welchen allen ich durch Briefe des italienischen Unterrichtsministers Michele Amari angekündigt war und die liberalste Aufnahme fand.

Von diesen Orten hat mir kaum ein anderer so angenehme Erinnerungen zurückgelassen als Todi.

Diese uralte Stadt Umbriens, im Altertum Tuder oder Tudertum genannt, liegt auf einer lachenden Höhe über dem Tibertale, in einer von Olivenhainen und Weinbergen bedeckten Hügellandschaft, an welcher der schöne Fluß vorüberzieht. Von den großen Verkehrsstraßen nicht berührt, ist sie wie eingeschlummert in ihrer eigenen Vergangenheit, in einer zauberhaften Stille, die aber keineswegs Abgestorbenheit zu nennen ist.

Es war schon Nacht, als ich mit der Post in der unten an der Höhe gelegenen Vorstadt anlangte, von welcher ich mich sofort bergauf durch das Stadttor führen ließ, um einen Gasthof aufzusuchen. Ich erwartete nichts Gutes von Todi, denn der Eintritt durch wüste und finstere Straßen in eine finstere und unheimliche Locanda versprach mir schlechte Tage. Aber schon am folgenden Morgen überzeugte ich mich, daß meine Befürchtungen grundlos gewesen seien.

Todi stellte sich mir im heitersten Morgenlicht als ein reizender kleiner Ort dar, mit so entschieden mittelaltrigem Charakter, wie ihn wenige Städte bewahrt haben. Von alten Stadtmauern zum Teil noch etruskischer Anlage umgeben, bedeckt diese Stadt die Höhe, auf welcher sie liegt, doch so, daß ihre Hauptplätze geräumig und eben sind. Alte Paläste, braune Türme des Mittelalters, höchst malerische halbgotische Gebäude, ehrwürdige Kirchen und Klöster erheben sich aus ihr, überragt von dem stattlichen Dom.

Auf dem Hauptplatze stehen die öffentlichen Gebäude, die Monumente jener Zeit, wo Todi eine freie umbrische Republik war und Kriege mit Nachbarstädten, wie Terni und Spoleto, führte oder mit anderen Bündnisse schloß. Denn im 13. Jahrhundert, ihrer Blütezeit, konnte diese Stadt 1000 gewaffnete Reiter ins Feld stellen. Während sie heute nur 4000 Einwohner zählt, hatte sie damals deren 30 000 in ihren sechs Quartieren. Ihre guelfische Verfassung war ganz und gar volksmäßig, denn die Handwerkerzünfte allein regierten durch Ausschüsse des Parlaments. Ein Podesta und ein Volkskapitän für die Justiz standen an der Spitze des Freistaats, und diese jährlich wechselnden Beamten waren stets Fremde. Es finden sich darunter viele Römer aus den namhaftesten Geschlechtern des 13. Jahrhunderts, Colonna, Orsini, Frangipani, Anibaldi, Cenci, Gaetani, Savelli, Malabranca und andere. Die ehrwürdigen Denkmäler dieser republikanischen Stadtgeschichte sind heute das Gemeindehaus, Palazzo Communale und der Palast des Governators, beide auf dem Hauptplatz. Der erste ist ein großes Gebäude im römisch-gotischen Stil, von sehr edeln Verhältnissen, mit einer mächtigen Freitreppe aus Stein. Der andere hat einen höheren Turm mit einem Zinnenaufsatz an der ganzen Front und erinnert leise an den venezianischen Palast in Rom. Gegenüber liegt der Dom von gleichfalls halb gotischer Architektur, mit mächtigem Turm. Das Innere hat drei Schiffe, von denen das Hauptschiff noch den vorgotischen Bogenbau des elften oder zwölften Jahrhunderts zeigt; ein viertes Nebenschiff in gotischer Form ist später hinzugefügt worden.

Außer dem Dom ist die sehenswürdigste Kirche Todis die von S. Fortunatus, ein mächtiger gotischer Bau vom Ende des 13. Jahrhunderts. Der Heilige ist der Schutzpatron der Stadt, seine in malerischer Einsamkeit gelegene Kirche daher ihre Hauptkirche.

Ich habe während meines Aufenthaltes in Todi gerade in S. Fortunato die meisten Stunden zugebracht, denn dort befindet sich das Gemeindearchiv. Nachdem ich von dem Syndikus die Erlaubnis erhalten hatte, dies Archiv zu benutzen, führte mich der Archivar Herr Angelo Angelini durch die genannte Kirche in einen untern Raum derselben, neben der Sakristei. Hier schob er von der Wand einen zerlegbaren Beichtstuhl und machte so eine Tür frei, durch welche wir in ein kleines Gemach traten, das Archiv selbst. In Schränken an den Wänden lagen, zum Teil in trauriger Vernachlässigung, ungezählte Pergamente zu Haufen aufgeschichtet; in der Mitte auf dem Boden und auf einem Tisch, mit Staub bedeckt und modernd, Massen von Büchern und auch von Pergamenthandschriften, welche einst einen Teil der Bibliothek des Kardinalbischofs von Albano, Bentivegna d'Acquasparta, ausgemacht haben sollen. Dieses Mannes hat Dante in seinem Gedicht einmal Erwähnung getan; er starb im Jahre 1289.

An das Archiv grenzt der Raum der Bibliothek, und dort arbeitete ich über Pergamenten und Papier in der tiefsten Stille viele Stunden des Tages lang. Man gab mir erst einen Kommunaldiener förmlich zur Wache; da ich aber dawider als gegen einen mich entwürdigenden Akt Protest einlegte, so setzte man mich in Besitz des Schlüssels, selbstverständlich nicht des Archivs, sondern der Bibliothek.

Es verbreitete sich schnell in Todi die Kunde, daß hier ein Fremder sich aufhalte, welcher alte Schriften und Urkunden zu lesen verstehe; infolge dieser Neuigkeit erschien eines Tages in meinem Gasthaus der Prior der Schneiderzunft, einen Stoß von vergilbten Papieren und Pergamenten nebst den Statuten seiner ehrenhaften Gilde unter dem Arm. Es war ein junger Mann in sehr sauberer Kleidung, mit intelligentem Gesichtsausdruck. «Ich komme», so sagte er, «zu ihnen, in Angelegenheiten unserer Zunft Sie um Ihren Rat zu fragen.» Nur mit Mühe unterdrückte ich hier ein Lachen bei der Vorstellung, zu wie großen Dingen ich es doch bereits in der Welt gebracht hätte, da ich, ein Fremdling aus Ostpreußen, in einer umbrischen Stadt der Konsiliar von deren Schneiderzunft sein sollte. Indem ich also die feierliche Miene eines der sieben Weltweisen annahm, fuhr der Prior fort, mir zu sagen oder vielmehr zu klagen, daß die italienische Regierung ihre Hand auf alle Güter der frommen Stiftungen, also auch auf gewisse Renten der Schneiderzunft Todis lege. Die Regierung betrachte nämlich die Ars Sartorum der Stadt und andre Gewerke als eine Konfraternität oder Genossenschaft zu frommen Zwecken, da sie seit alters ein Hospital S. Giacomo besitze. Sie habe die Rente der Zunftgüter, 360 Skudi jährlich, eingezogen und werfe den Schneidern dafür eine sehr geringe Entschädigung aus. Der Schneidermeister, welcher sich vortrefflich und fließend auszudrücken wußte, bemerkte, daß die Revolution des Jahres 1860 wesentlich durch Handwerker gemacht worden sei; auch er habe damals das Gewehr ergriffen und sei nach Orvieto marschiert. Zum Dank entziehe nun die Regierung auf gewaltsame Weise den Zünften ihre uralten Güter, um sie der cassa ecclesiastica zuzuweisen. Die Pergamente, welche in Todi niemand lesen könne, habe er nach Perugia auf die Präfektur gebracht, aber dort seien sie gar nicht angesehen, sondern in einer Kammer verächtlich auf den Boden geworfen worden. Der Prior ersuchte mich schließlich, diese Urkunden einzusehen und ihm dann zu sagen, ob sich aus ihrem Inhalt die Rechte der Zunft dem Staat gegenüber erweisen ließen.

Ich beschied den Schneidermeister, folgenden Tags zurückzukehren, wo ich ihm Antwort geben wolle. Er kam und beruhigte sich bei meiner Erklärung, daß diese Pergamente nur Notariatsinstrumente solcher Art enthielten, daß sie für die Zunft keinen andere als den Wert der Altertümlichkeit besäßen, und dies hatte er sich, wie er selbst gestand, bereits vorgestellt.


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