Ferdinand Gregorovius
Wanderjahre in Italien
Ferdinand Gregorovius

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Die Schneiderzunft in Todi ist übrigens ein lebendiges, sehr ehrwürdiges Monument des Mittelalters, da sie schon viele Jahrhunderte besteht. Sie hat noch jetzt einen Vorstand, welcher «Consul» heißt, und wählt zwölf Minister als Konsiliare, welche «Fratelli» genannt werden. Ihre Statuten sind sauber in einem Pergamentheft von 60 Blättern zusammengeschrieben: sie datieren von 1308, wurden aber im Jahre 1492 aus dem ursprünglichen Latein ins Italienische übersetzt.

Ihr Anfang lautet:

«El prohemio della matricola de sarturi: capitulo I.

Nel nome del nro signor Iesu Xpo et della beatissima sempre vergine maria sua madre: et del beato sancto michele archangelo: et del b. sancto ioanni baptista et S. Joani Evangelista: et de beati apostoli S. Pietro et S. Paolo: et de beati confessori: Sancto Fortunato sancto Calisto et S. Cassiano: et de tutti i sancti et sancte della corte celestiale: Questi sono i ordinamenti et statuti iscritti: dell arte de sarturi et cinaturi della citta et contado de Todi: facte et ordinate per glomini della decta arte: nel tempo dello offitio de consoli: cioe delli sapienti homini iacobuccio dandreelle: della rione de sancta presedia: et de cechole de manella: del rione della valle: iscripti per me ser francesco de maestro iacomo publico notario della detta arte: nel tempo et neglanni del signore nel mille trecento otto: nella indictione sexta: nel Tempo del pontificato del nro signore benedecto papa duodecimo: et addi ventidua de novembre.»

Ich habe manche freundlichen Menschen in Todi kennengelernt, die sich mir in allen Stücken hilfreich erwiesen, wie Herr Alessandro Natali, ein ehemaliger Buchhändler aus Rom, doch Bürger jener Stadt, Verleger der Geschichte Todis von Leoni und des Lebens Bartolomeos d'Alviano von demselben Verfasser; dieser berühmte Feldhauptmann lebte im Anfang des 16. Jahrhunderts und war Todiner von Geburt.

Herr Natali ist Rector Oeconomus von Monte Cristo, einem ehemaligen Frauenkloster und jetzt Findelhause. Er führte mich an diesen schön gelegenen Ort, worin achtundneunzig Findelkinder aufgezogen werden. Auch hier ist ein Archiv; ich sah viele Pergamente, hauptsächlich das Institut betreffend, welches ursprünglich zum Hospitale Caritatis für die Leprosi oder Aussätzigen bestimmt war.

Derselbe freundliche Führer zeigte mir auch das Kapuzinerkloster Monte Santo, welches in nächster Nähe der Stadt auf einem Hügel gelegen ist. Die kleine Kirche daselbst besitzt einen schönen Lo Spagna über dem Hochaltar, dieselbe Krönung der Jungfrau darstellend, wie sie in Narni gezeigt wird. Diese beiden Bilder sollen von des Meisters eigener Hand sein. Im Zimmer des Priors bewirtete man uns mit Kaffee; man fragte mich nach Witte, dessen großer Ruf in der literarischen Dantekultur selbst bis in diese Einsamkeit gedrungen war. Man zeigte mir mit einem gewissen Stolz eine Handschrift der Poesien des Fra Jacopone, denn dieser Dichter, der tiefsinnige Mystiker vom Cölestinerorden, der mutige Feind Bonifacius' VIII., ist der Ruhm Todis. Er starb in Collazzone im Jahre 1306, liegt aber in S. Fortunato begraben. Man schreibt ihm die Dichtung «Stabat mater» zu, und wohl mit allem Recht. Dieser berühmte Trauerhymnus reicht hin, ihm die Unsterblichkeit zu sichern. Ich fand in Monte Santo einen Mönch damit beschäftigt, den Kodex zu kopieren, worin sich auch das «Stabat mater» unter den anderen Gedichten Jacopones befindet. Doch gibt es ältere Handschriften der Poesien dieses Franziskaners, in Venedig und Florenz; die von Todi kann frühestens vom Ende des 14. Jahrhunderts herrühren.

Alle Herren, deren Bekanntschaft ich hier machte, schienen mir ein zufriedenes Dasein in ihrer engen, kleinen Welt zu genießen, und diese wird kaum durch irgendein ungewöhnliches Ereignis unterbrochen. Abends, beim Mondschein, lustwandelten auch die Damen auf dem Spaziergange, welchen sich die Stadt unter der alten, zerstörten Rocca, am Abhange des Hügels angelegt hat, von wo man weiter zu der nach Bramantes Plan gebauten Kuppelkirche der Consolazione gelangt. Es gibt in Todi keinen großen Feudaladel mehr, denn die alten Geschlechter sind meist untergegangen. Von ihnen waren in mittelaltrigen Zeiten am mächtigsten die Acti oder Atti, dann die Oddi, Fredi, Bentivenghi, Carocci, Pontani, Landi, Corradi und Astancolli.

Manche altertümlichen Paläste erinnern noch an diese Feudalherren. In den stattlichen Häusern, welche sie gegründet haben, wohnen jetzt jüngere Geschlechter oder verarmte Enkel. Am heutigen Tage, wo alles nur für die augenblicklichen Bedürfnisse eingerichtet wird, beschämen uns selbst in den kleinsten Städten die festen, dauernden Häuser der mittelalterlichen Vorfahren eines massiven Geschlechts, welches von sehr starkem Willen und sehr praktischer Gediegenheit gewesen ist. Dies bemerkte ich Herrn Pierozzi in Todi, einem Doktor des Rechts, welcher zugleich Komödiendichter ist; und wohl mancher Dramendichter dürfte diesen einsamen Todiner um das solide Glück beneiden, welches er in seinem urväterlich ererbten Palast genießt.

 

In Rom hatte man mir dringend angeraten, nach Aspra in den Bergen der Sabina zu gehen, wo ich ein merkwürdiges Kommunalarchiv finden und eine bezaubernde Bergwildnis sehen würde. Dies beschloß ich demnach von Terni aus zu tun, von wo eine Fahrstraße bis in die Nähe jenes Kastells führt. Nur war das Unterkommen dort schwierig, denn in dem ganz vereinsamten Aspra gibt es kein Gasthaus. Ein Bürger Ternis versprach mir jedoch, dafür zu sorgen, indem er mir einen Brief dorthin vorausschickte.

Ich mietete in Terni einen kleinen Wagen und machte mich dort auf um vier Uhr morgens am 1. August. Man durchzieht ein Bergland auf dem besten Wege von Nord nach Süd und berührt nur kleine Gehöfte.

Manchmal geht es durch schöne Eichenwälder hin. Die Berge öffnen sich bei Torri, einem uralten Kastell, welches im 10. Jahrhundert dem in dieser sabinischen Landschaft mächtigen Geschlecht der Crescentier von Rom gehörte. Es liegt schwarz und malerisch rechts auf der Höhe. Ein großer Blick auf den Berg Soracte, die Campagna Roms, die Abhänge der Sabina und der Apenninen öffnete sich jetzt, und links eine tiefe Bergschlucht, über welcher hoch auf einem Felsen ein finsterer Häuserklumpen lag, von einer schwarzen Mauer umfaßt und von einigen Türmen überragt. Dies war Aspra, das alte Casperia in Römerzeiten, in Wahrheit ein Adlernest, unzugänglich und uneinnehmbar scheinend.

Es war Mittagszeit, doch die Augustluft wehte hier frisch und kühl. Langsam umkreiste das Fuhrwerk den tiefen langen Taleinschnitt und schleppte sich dann mühsam den Feldweg bis unter die Mauer des Kastells empor, wo der Fuhrmann haltmachte, mir erklärend, daß er in den Ort selbst nicht gelangen könnte, weil dieser keine fahrbaren Straßen habe. Ich stieg ab und trat durch das Tor ein; welch ein Ort, wie schauerlich wild, verfallen und einsam; welch schrecklich enge Gassen ohne Luft zwischen steinernen Häuserklumpen, nicht Straßen zu nennen, sondern Rinnsale für die Wasser der Wolkenbrüche und Gewitter, die sich hier mit furchtbarer Heftigkeit entladen müssen.

Es war eben Sonntag. Das Volk der Aspraner, in blaugraue Jacken sabinischer Landesart gekleidet, spielte Ball vor den Häusern. Man starrte mich verwundert an. Ich ließ mich zum Syndikus führen bergauf, bergab. Der Bürgermeister von Aspra, angetan mit der Bauernjacke des Volkes, kam hervor und sagte mir, Briefe seien von der Präfektur in Perugia wie von Terni eingetroffen, ich könne aber heute das Archiv nicht sehen, weil es Sonntag sei, wo der Gemeindesekretär andre Beschäftigung habe. Ein Unterkommen würde ich bei einem Schuster finden der so etwas wie eine Locanda halte.

Man führte mich zu diesem Wirt in ein wüstes Haus, wo mir ein kammerartiges Loch angewiesen wurde. Das zerbrochene einzige Fenster zitterte und klirrte vom scharfen Luftzug, der hier oben beständig weht, und aus ihm blickte ich mit Erstaunen auf ein Panorama von unbeschreiblicher Erhabenheit. Ich warf mich ermüdet auf das unsaubere Bett, welches in der Kammer stand, erwachte aber bald von den Bissen der Moskitos und noch anderer Plagegeister. Der Wirt setzte mir alsbald ein Mittagessen vor, welches ich nicht genießen konnte, und in meiner Verzweiflung erklärte ich, daß ich hier nicht bleiben könne.

Ich eilte wieder zum Syndikus, der mich jetzt zu seinem Sekretär begleitete. Wir standen alle drei unter einem steinernen Bogen, welcher eine Gasse mit der andern verband, während die Magistrate beratschlagten, was zu tun, wie mir zu helfen sei. Endlich ward folgender Beschluß der hochweisen Herren gefaßt: das Archiv sollte mir vom Sekretär unverzüglich aufgetan werden, indes der ehrenwerte Syndikus sich bemühen wolle, mir Aufnahme in einem anständigen Hause zu verschaffen.

Der Sekretär führte mich in das Stadthaus, ein massives, doch nicht altertümliches Gebäude, wo er eine kleine Kammer aufschloß. Ein paar Schränke standen darin, den Dokumentenschatz der Gemeinde enthaltend. Ich fand dort viele Urkunden, die sich auf den römischen Senat des Mittelalters beziehen, denn Aspra bildete zwar in jener Epoche eine eigene Gemeinde wie andre sabinische Orte der Nachbarschaft, doch unter der Jurisdiktion des Kapitols, welches dorthin seine Rektoren oder Podestaten schickte. Wunderlicherweise gab es auch hier einige gefälschte Urkunden aus dem 10. Jahrhundert.

Als der Abend kam, erschien der Sekretär wieder, mir zu sagen, daß eins der besten Häuser des Kastells mich aufzunehmen bereit sei. Er führte mich in der Tat zu einem Hause, welches palastähnlich aussah. Eine junge hochgewachsene Dame empfing mich da, in römischer Kleidung und mit städtischen Manieren. Sie sagte mir, das Haus schätze es sich zur Ehre, einen Fremden zu beherbergen, und sie geleitete mich nach meinem Zimmer. Wir kamen durch einen wüsten Saal; der Blitz hatte vor Wochen darin eingeschlagen, Fenster und Kamin zertrümmert und die Vorderwand gespalten, durch welche der blaue Himmel hereinschien. Nichts war getan, diesen Schaden zu verbessern. Alte Familienwappen aus Stein zeigten, daß dieses Haus einst einem der ersten Geschlechter des Orts gehört hatte, welches nun herabgekommen war.

Die Verwüstung des Saals machte mich neugierig auf die Beschaffenheit meines Zimmers, welches die Signora alsbald öffnete; es war sehr wohnlich und ein sauberes römisches Bett darin. Der Bruder der Dame erschien, ein rüstiger sabinischer Jäger, ein schöner Mann, in die Uniform des Hauptmanns der Nationalgarde gekleidet. Auf das freundlichste ward ich ersucht, mich nach Gefallen einzurichten. Ich nahm die Gastfreundschaft des Hauses an, doch mit der Bedingung, daß man mir erlaube, bei meinem ersten Wirt speisen zu dürfen, an welchen ich doch von Terni aus gewiesen sei; dies ward mir zugestanden.

Zwei Tage blieb ich in Aspra, und so schrecklich mir dieser Ort anfangs erschien, so angenehm verging mir daselbst die Zeit. Ich arbeitete im kleinen Archiv von der Morgenfrühe bis fünf Uhr abends, was die größeste Verwunderung erregte. Neugierige kamen ab und zu herein; sie grüßten mich freundlich und sahen mir mit Erstaunen zu, denn seit Jahren hatte man dort keinen Fremden gesehen. Ich zeigte dem Sekretär ein Pergament als höchst wertvoll, weil es ein Schreiben des Volkstribuns Cola di Rienzo an die Gemeinde von Aspra sei; er bat sich eine italienische Übersetzung davon aus, die ich ihm diktierte, worauf er sie zum Andenken in das Archiv niederlegte.

Nachmittags ging ich mit diesem Herrn und dem Lehrer des Orts, einem Laien, zum Kloster der Kapuziner, wo man ein Fest feierte. Es liegt schön auf einem von Steineichen bedeckten Berge. Frauen knieten dort in der kleinen Kirche, in dunkle Schleier gehüllt. Im Portal sah ich andere, die Frauen meiner Begleiter und junge Mädchen, von denen eins von ganz ungewöhnlicher Schönheit war, ein junges Geschöpf von kaum sechzehn Jahren, in der vollen Blütenpracht ihres Frühlings, und doch tiefsinnig und ernst. Glücklich der Aspraner, der dies Götterkind einst in sein verräuchertes, vom Blitz zerschlagenes Haus heimführen darf! Meine Begleiter machten mich den Damen bekannt, unter welche ich künstliche Blumen verteilte, die man am Kloster feilbot, was sehr gut aufgenommen wurde.

So weit ich gewandert bin, so sah ich doch kaum ein Panorama von gleicher Heldenschönheit, als sich mir dort von der Höhe des Kapuzinerberges darbot. Unten vor mir der plastisch geformte Soracte, das ganze Tibertal, die umbrischen Ebenen und Berge, weiterhin die Reihen der Apenninen, die Sabina, Latium, die Campagna von Rom: all dies entzückende Land in den wandernden und wallenden Karmin des Augustabends getaucht, in Wahrheit ein Paradies der Erde. In den nächsten Bergen eine majestätische Wildnis, worin uralte dunkle Kastelle stehen, die Städte der Sabiner, festhaltend Geschlechter, Sitten und Lebensformen der Vergangenheit. In meilenweiter Ferne südwärts zieht sich ein dachförmiges Gebirge hin: dies ist der Monte Mario. Wo es absinkt, steigt ein gewölbter Bergkegel auf: dies ist die Kuppel vom S. Peter Roms. Sie selbst erscheint in dieser Ferne wie ein Produkt der Natur. Zur Osterzeit genießen auch die Menschen von Aspra den Anblick ihrer Illumination; sie funkelt dann am Horizont wie ein Ball von Feuer. Wir zählten von der Zinne des Klosters 28 nähere und fernere Orte, von denen ich nur wenige nennen will, damit man die Größe dieses unvergleichlichen Gesichtskreises erkennen mag: der Soracte und Civita Castellana, die Kuppel von Rom, Ronciglione, Caprarola, Collevecchio, Montasole, Stimigliano, Magliano, Rocca antica, Poggio Sabino, La Fara, Poggio Mirteto, Montopoli, Torrita; über dem Tiber, welcher silbern aufblinkt, Filacciano, Cantalupo, der Monte Gennaro, Tivoli, Palestrina, das Albanergebirge mit seinen Kastellen.

Als wir nach Aspra zurückkehrten, stand der Syndikus vor der Tür seines Hauses, uns einladend, einzutreten. Der treffliche Mann führt den Namen seines Orts, denn er heißt Asprone, und so schien er als Bürgermeister die wahrhafte Verkörperung der Gemeinde, welche er regiert. Seine Frau kam, eine stark beleibte Matrone. Ich mußte ganz allein auf dem Kanapee sitzen, wo mir dann die Bürgermeisterin einen Teller voll sabinischer Kringel präsentierte. Alsbald tauchte der Syndikus mit einem Licht in den Keller hinab und kam daraus hervor mit einem mächtigen Steinkrug voll Wein. Wir tranken wacker von diesem ausgezeichneten Gewächs des sabinischen Unterlandes; ich brachte das Wohl der Gemeinde Aspra und ihres Magistrates aus, worauf der Bürgermeister und die anderen Herren warm wurden. Sie sprachen mit Verwunderung über meine Mühen und den ihnen nicht recht verständlichen Zweck derselben, da ich so unwegsame Gegenden aufsuchte, um alte Schriften durchzulesen. Sie baten mich wiederzukommen, und zwar auf viele Wochen, um mit ihnen die Herbstzeit zu verbringen.

Als wir den Syndikus verließen, drang der Sekretär in mich, auch ihn mit einem Besuche zu beehren; denn offenbar wollte er nicht hinter jenem zurückstehen. In seinem wohnlich eingerichteten Haus empfing mich seine junge Frau, ein Kind an der völlig entblößtem Brust, und so blieb sie auch in der größten Naivität neben mir sitzen. Wiederum wurden Wein und Kringel vorgesetzt.

In später Nachtstunde verabschiedete ich mich von den Eigentümern des Hauses, wo man mir so gastfreundliche Herberge geboten hatte, und ich empfing auch hier dieselbe herzliche Einladung zur Wiederkehr, nebst einem Brief an Verwandte in Rom. Als ich mich vor der Morgenfrühe erhob, brannte schon Licht in dem Hausflur, doch niemand ließ sich sehen. Die gemieteten Esel standen bereit, und ich verließ Aspra mit Befriedigung; denn hier sind die Menschen in der Tat gut, wie die ursprüngliche Natur. Durch ein schönes Bergland ritt ich so fort bis zum Paß von Correse, wo ich die Post nach Rom erreichte.


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