Ferdinand Gregorovius
Wanderjahre in Italien
Ferdinand Gregorovius

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Arpino zerfällt in zwei Teile, die Altstadt oder hochgelegene uralte Burg, und die eigentliche Stadt zu ihren Füßen, die sich über der Höhe fortzieht. Diese Einteilung ist uralt und allen volskischen und latinischen Städten gemein. Daß übrigens das neue Arpinum auf dem Lokal des alten steht, lehren noch heute die zyklopischen Mauern, die sich von der Burg herunterziehen. Schon das Stadttor selbst zeigt sich als ursprüngliche zyklopische Anlage. Die Mauern gleichen denen in Segni und anderen Städten Latiums. Sie sind in sehr langer Strecke erhalten, da sie von der alten Burg herabkommen. Zu dieser führt ein steiler Weg im Zickzack auf den öden von Kalkgestein starrenden Berggipfel, welchen Olivenbäume schmücken. Ein schöner grüner Hang sinkt von ihm zur Stadt hinab. Hier oben lag die zyklopische Arx, im Mittelalter die langobardische Grafenburg.

Noch steht ein von Efeu umsponnener Turm aufrecht, in dessen unmittelbarer Nähe sich in mächtigen Lagen diese saturnischen Mauern erheben, die man nicht ohne Staunen betrachten kann. Sie bilden auf der Burg ein Viereck, und noch sieht man hier ein merkwürdiges Zyklopentor. In der Regel schließen solche Tore mit einem spitzen oder gestumpften Winkel ab, wie in Alatri, Segni und Norba; aber dieses hier läuft in einer beinahe gotischen Linie aus. Doch liegt auch auf seiner Spitze der Schlußstein, so daß die Wölbung durch zufällige Senkung entstanden sein kann. Die Wände bestehen aus dreifach nebeneinandergestellten Blöcken, zu sechs in jeder Reihe, so daß das Tor acht Schritte breit, sieben Schritte innerhalb lang und etwa fünfzehn Fuß hoch ist. Seine Kalktuffsteine von sehr poröser Art sind fast quadratisch behauen.

Von dort ziehen sich die Mauern wie in Segni in sanfter Neigung abwärts, hie und da durch ein viereckiges etruskisches Tor unterbrochen und durch mittelalterliche Wehrtürme verstärkt. Efeu umspinnt sie, Oleaster und blühende Kräuter hängen in ihren tiefen Spalten, und ihr verwittertes Aussehen versetzt in jene Urzeit Italiens, mit der die Historia Miscella beginnt: «Zuerst herrschte in Italien Janus, dann Saturnus, der vor seinem Sohn Jupiter aus Griechenland in die Stadt Saturnia floh. Weil nun dieser Saturn in Italien sich versteckte (latuit), wurde das Land von seinem Versteck Latium genannt.»

Die Arpinaten behaupten, daß der König Saturnus ihre Stadt gegründet habe (und welche hätte er in Latium nicht gebaut), und daß er auch dort begraben sei; und so zeigen sie dem Fremden an der Porta dell'Arco ein altes kolossales Grabmal und nennen es dreist «Grab des Saturn». Eine moderne Inschrift auf der Burg lautet also: «Arpinum a Saturno conditum, Volscorum civitatem, Romanorum Municipium, Marci Tullii Ciceronis eloquentiae Principis et Caji Marii septies Consulis patriam ingredere viator; hinc ad imperium triumphalis aquila egressa urbi totum orbem subjecit; ejus dignitatem agnoscas et sospes esto.» So uralten Städten ist ihr munizipaler Stolz schon zu verzeihen; zumal wenn sie Saturn, Cicero und Marius für sich haben. Das heutige Wappen der Stadt besteht aus zwei Türmen, über denen der Adler des Jupiter oder der Legionen Roms schwebt.

Man mag mit heiterer Zustimmung in jenem alten Grabmal den grauen Saturn begraben sein lassen, aber alle Grenzen übersteigt doch die Naivität, mit welcher die Arpinaten dem Fremdling das Haus des Cicero zeigen. Man führte mich auf der Burg, worin sich einige Häuser und eine Kapelle angesiedelt haben, zu einem solchen aus Backsteinen, in Weise der Hirten-Capannen aufgebauten Stall, und das war denn «la casa del famoso Cicerone»!

Ich setzte mich oben auf die zyklopischen Mauern und betrachtete bewundernd die latinische Landschaft, denn die sehr hohe Lage der Burg macht die Aussicht ringsum weit und groß. Der Berg von Sora erschien nur als kleine Pyramide, wie eine derer am Nil; in seinem schwarzen Schatten lag die Stadt; völlig dem Blick offen das Liristal, welches hohe Berge umziehen. Dort liegt la Posta, von woher der Fibrenus niederkommt, dort Sette Frati, Siebenbrüder, den Söhnen der Felicitas geweiht, wo jener wunderliche Alberich die Vision hatte, welche der Danteschen voraufging und vielleicht wirklich zugrunde liegt. Viele andere Orte und Burgen flimmern im blauen Duft der Bergreihen; im Römischen zeigt sich Veroli, Monte S. Giovanni, Frosinone, Ferentino, und seitwärts ragt ein Bergobelisk auf, welcher die Burg Arce trägt; ein anderer, auf dem der schwarze, einzelne Turm Monte Negro steht. Alle jene Burgen sind saturnischen Ursprungs, und man genießt das wunderbarste Schauspiel, selber sitzend hoch auf efeuumstrickten Zyklopenmauern, über denen die Elemente von Jahrtausenden hingegangen sind.

Auf diesen selben Mauern kletterte einst der junge Plebejer Cajus Marius umher, seine wilden Kräfte übend, oder er saß hier, in der Zeit, da alle Völker von Kalabrien bis zum Liris und zum Adriatischen Meer um das Bürgerrecht rebellierten, auf Latium blickend, nach dem großen Rom sich sehnend, wohin die Gedanken aller kräftigen Geister in den Provinzen strebten, ihr Glück zu machen. Ich mußte mir sagen, daß dieses zyklopische Arpinum eine dem Marius wohl angemessene steinerne Wiege sei, die Wiege eines Giganten, dessen schreckliche rohe Natur etwas ungeschlacht Zyklopisches hat, zumal neben dem feinen Aristokraten Sulla, der seine Wege wie ein Fuchs durchkreuzt und ihm beständig das Glück zu stehlen weiß.

Die Atmosphäre in Arpinum wird von den Namen Marius und Cicero ganz durchdrungen. Man befindet sich hier auf einer jener Stellen in der Geschichte, die man mit demselben Anteil aufsucht wie in der Natur das steinerne Quellenhaus von Strömen, von denen Bewegung und Leben durch Länder und Zeiten kommt. Das Wissen Ciceros hat sich als ein Hauptstrom der alten Literatur durch die Jahrhunderte des Mittelalters ergossen, und noch heute wird aus ihm geschöpft – ein unsterblicher Ruhm, der durch die Schwächen und Eitelkeiten des Menschen nicht geschmälert wird. Aber Cajus Marius war einer der Blutströme der Geschichte Roms und des Reichs. Man denke, welchen Stoß dieser Mann Rom und der Welt gegeben hat. Ohne ihn war kein Kaisertum, und Augustus, Tiberius, Caligula, wie die ganze Reihe der Despoten oder Helden der Proskription der Menschheit, entsprangen aus den Blutspuren des Marius. So ist Arpinum die wahre zyklopische Drachenhöhle der römischen Kaisergeschichte zu nennen.

Die afrikanische Gestalt Jugurtha, sein schreckliches Ende im Verlies des Kapitols, die Cimbern und Teutonen, welche den einstigen Fall Roms durch die Germanen weissagen, die fürchterlichen Bürgerkriege, die asiatische Gestalt Mithridat, Marius im Sumpf von Minturnä versteckt, Marius finster auf den Trümmern Karthagos als Flüchtling dasitzend, Marius triumphierend in Rom einziehend, ein zweiundsiebzigjähriger Greis, das Abschlachten der Proskribierten – und wunderbar, eines solchen Mannes ruhiger Tod – all dies zieht hier am Blick vorüber und stimmt so merkwürdig mit der Umgebung überein. Dann erscheint Cicero, ein Jüngling, als jener grau war, und führt vor uns den Fall der Republik auf, welchen die Bürgerkriege unter Marius und Sulla einleiteten. Um ihn steht die wissenschaftliche, die rednerische, die staatsmännische Blüte der sinkenden Republik; mit ihm werden Namen und Gestalten lebendig wie Pompejus, Cäsar, Antonius, Octavian, Brutus, Cassius, Cato, Atticus, Agrippa – dann Ciceros Kopf aufgestellt auf der Rednerbühne, wo er so oft und so viel gesprochen hatte.

Der Leser mag diese historischen Betrachtungen ausführen, welche als natürliche Streiflichter in jene Gegend fallen, und er würde sie selbst auf der Burg Arpinum gemacht haben. Wie gewisse Höhepunkte eine landschaftliche Aussicht dem Blicke darbieten, so haben andere ein historisches Panorama um sich her. Arpinum ist ein solcher Höhepunkt, und ich verlasse diese Burg nicht, ohne an das kurze und gute Bild zu erinnern, in welchem Valerius Maximus die Laufbahn und Natur des Marius zusammengedrängt hat. «Aus jenem Marius», so sagt er, «einem so niedrigen Arpinaten, einem so ignoblen Menschen in Rom, einem gleichsam zum Ekel werdenden Kandidaten, ging jener Marius hervor, welcher Afrika unterjochte, welcher den König Jugurtha vor seinem Wagen hertrieb, der die Heere der Teutonen und Cimbern vernichtete, dessen zwiefache Trophäen in der Stadt gesehen werden, dessen sieben Konsulate die Fasten verzeichnen, der aus einem Exilierten Konsul, aus einem Proskribierten ein Proskribierender wurde. Was ist widerspruchsvoller als seine Lage? Ja, dies ist ein Mann, der, rechnet man ihn unter die Elenden, als der Elendeste, unter die Glücklichen, als der Glücklichste erscheint.»

Den rohen Marius, den listigen Sulla mit dem blassen schlaffen Gesicht, entnervt, blasiert, alle Verhältnisse durchschleichend und beherrschend, alles verachtend und verwirrend, doch begleitet von der feilen Metze Glück, hat Rom als typische Gestalten der Geschichte aufgestellt. Indes auf dem Platz in Arpinum weiß man nichts von jenen Römerzeiten – es ist heute, am 4. Oktober, des Königs Franz II. und der Königin Geburtstag. In einer grell und kulissenhaft ausgeschmückten Loge des Stadthauses hängen die Porträts des jungen Königspaars, hängt das Bild einer bayerischen Prinzessin, einer Enkelin jener Teutonen und Cimbern, welche der furchtbare Marius ehedem von Rom zurückgeschlagen hat.

Dort steht auf demselben Platz ein großes Gebäude, in dessen Fassade die Büsten des Marius, Cicero und Agrippa in Nischen aufgestellt sind, denn auch Agrippa soll nach dem Glauben der glücklichen Arpinaten ein Sohn ihrer Stadt sein. Die stolze Inschrift sagt: «Arpinum a Saturno conditum Romanorum Municipium, M. Tullii Ciceronis, C. Marii, M. Vipsanii Agrippae Alma Patria.» Und dieses Gebäude heißt Collegium Tullianum; es ist das Jesuitenseminar. Die Weltgeschichte hat sich seit Cicero ein wenig verändert. Alle Fenster jenes Hauses stehen offen, in allen liegen Jesuiten in ihrer schwarzen Tracht, die allmächtigen Günstlinge und Garden der bigotten Dynastie Bourbon, und schauen dem Feste zu. Eine Bande in harlekinmäßigem Putz spielt auf dem Platz. Man ruft: «Evviva il rè!» Die Bande geht, den Richter oder Giudice einzuholen, und dieses munizipale Haupt Arpinums erscheint hinter der Musik, nicht in einer purpurverbrämten Toga, sondern in schwarzem Frack und Glacéhandschuhen, neben sich den Sindaco und den Primo Eletto, welche ebenfalls in schwarzen Röcken stolz einhergehen. Man ruft wieder: «Evviva il rè», und man zieht in die Kathedrale. Abends Musik, oder vielmehr Gelärm der Bande auf dem Platz, welches «il concerto» genannt wird; Feuerwerk, oder vielmehr Raketen und Abbrennen von Böllern, wie man sonst bei Festen der Heiligen zu tun pflegt.

Ich will nicht vergessen, daß Arpino noch eine moderne Berühmtheit hat, einen Maler, Giuseppe Cesari, der unter dem Namen «il Cavalier d'Arpino» bekannt ist. Wie Marius und Cicero ging auch er nach Rom, um sein Glück zu machen, und er malte dort viel, namentlich im Palast der Konservatoren, dessen großen Saal er mit Freskobildern aus der römischen Geschichte verziert hat. Seine Wandgemälde gehören zu den besseren vom Ende des 16. Jahrhunderts. Die Kathedrale in Arpino bewahrt als einen Schatz eine Madonna von seiner Hand.

Ich verließ Arpinum auf einem Char-à-banc, um Monte Cassino zu erreichen. Die Fahrstraße steigt über ein ölreiches Hügelland ab. Man blickt auf die nahe römische Grenze und fährt unter dem hochgelegenen Monte S. Giovanni den Liris entlang, dessen grünes Wasser hie und da aus Pappeln hervorscheint. Das große Bergland zur Linken ist ziemlich öde; bisweilen auf einem Felsengipfel ein mittelaltriger Turm, so Monte Negro, so die steile Burg Santo Padre. Nun kommt man über einen niedern waldigen Höhenzug, die Wasserscheide des Melfa und des Liris, und nahe an einigen Felsenstädten vorbei, ohne sie zu berühren, so an Fontana, dann an Arce. Wenn man diese schwindelerregend steile, höchst seltsame Burg Arce betrachtet, so erscheint sie wie ein wahres Aornos. Sie galt in der Tat als unersteigliche Festung im Mittelalter; und dennoch erkletterten und eroberten sie die wilden Provenzalen Karls von Anjou so flink wie Zuaven unserer Zeit. Ihr Fall schreckte alle ghibellinischen Städte im Königreich, und er war das böse Omen für Manfreds Untergang.

Diese uralte Arx der Volsker erhebt sich auf einem wolkenhohen, wildzerrissenen und grauen Felsenberge; darauf stehen die finstern Reste der Burg, die sich an Zyklopenmauern lehnt, während unten am Abhang des Bergs die neuere Stadt Arce liegt. Die Anlage dieser Orte ist also überall gleich; hoch oben die Zyklopenburg, tiefer unten die Stadt. Auf die Burgen flüchteten sich im Mittelalter Städte- und Landbewohner vor den Ungarn und den Sarazenen Afrikas. Wer diese Lirisufer durchreist, wer zumal weiterhin die lachende Ebene von Aquino vor sich sieht, erinnert sich der fürchterlichen Zeit, als die Sarazenen hier hausten. 30 Jahre lang behaupteten sie ihre Raubburg am untern Garigliano oder Liris bei Minturnä und drangen von hier verheerend durch Kampanien bis nach Tuskien und der Sabina hinauf; sie legten die schönsten Klöster in Asche, Monte Cassino, S. Vincenz am Vulturnus, Subiaco und Farfa, zerstörten ihre Bibliotheken und Archive – ein unersetzlicher Verlust. Dann bezwang sie, durch eine italienisch-byzantinische Liga, der kraftvolle Johann X. im August 910, und ein Papst schmückte sich mit dem Ruhm, der Retter Italiens gewesen zu sein.

Unterhalb Arce ist eine Maut, Le Muratte genannt; man forderte meinen Paß, aber man visitierte zu meinem Trost meine Bagage nicht. Ein mir kostbares Buch und mein Reisejournal hatte ich zuvor mit Hilfe meines kühnen Wagenlenkers, eines lustigen jungen Arpinaten, im Wagen versteckt gehabt; hinter der Maut zog er es dann lachend hervor, und ich schloß es wieder in mein Gepäck ein.


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