Ferdinand Gregorovius
Wanderjahre in Italien
Ferdinand Gregorovius

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Ich stieg wieder aufs Pferd, um weiterzureisen, da der Abend die schönen Berge Arpinos schon dunkler zu malen begann. Vom Kloster ist die neapolitanische Grenze nur eine kleine Stunde entfernt. Es macht immerhin ein besonderes Vergnügen, sich in einem Grenzlande zu befinden. Wo Völker, Staaten, politische und soziale Formen aneinanderstoßen, bildet sich ein mittlerer Raum hüben und drüben, darauf eine gewisse Spannung der Geister, aus Anziehen und Abstoßen erzeugt, bemerkt wird. Grenzbewohner befinden sich in einem natürlichen Stande der Wachsamkeit. Wenn die Menschen in der Mitte des Staates in sicheren und eingelebten Formen indolent werden, sind Grenzer immer beweglich, neugierig, erfinderisch, verschlagen, treulos, weil ewig von der Fremde berührt. Ein neuer, halbgeöffneter Horizont reizt ihre Phantasie, erweitert ihr Bewußtsein und zwingt sie, zu vergleichen und zu kritisieren. Das Übergehen eines Zustandes in den anderen bringt eine sonderbare Ungewißheit hervor; daher wohnt das Gerücht, die Göttin Fama, am liebsten auf der Grenze, wie im Leben Argwohn und Neid in der Regel Bastarddämonen einer moralischen Grenze sind.

Ich erreichte bald die römische Maut, ein einsames Haus an der Straße, wo die Grenzsoldaten vergnüglich dasaßen und Zigarren rauchten. Dann bogen wir vom Weg in ein Weingartenland ein und kamen gleich zur Grenze selbst, die durch einen einfachen Stein bezeichnet wird. Friedlich mischt hier der Gott Terminus die Äcker Roms und Neapels, denn sie sind nicht einmal durch eine Furche getrennt.

Von diesem Grenzstein ist es nicht mehr weit bis zum ersten neapolitanischen Ort Castelluccio, einem kleinen Flecken, unterhalb dessen gleich Isola, die reizende Lirisinsel, liegt. Mächtige Baumgruppen, in einem tiefen verschatteten Grunde, der das Flußbett ahnen läßt, anmutige Villen, Fabrikgebäude, die aus dem Grün hervorgehen, endlich weiter hinauf ein reiches Kulturland verraten schon das Leben, welches ein voller Strom erzeugt. Und über diese mannigfach gegliederten Ufergefilde, die hier in kultivierter Gestaltung hervortreten, dort sich in die Tiefen verlieren, erheben sich in unbeschreiblicher Pracht die mächtigen Berge von Sora in nicht zu weiter Ferne. Ich mußte diese vom Abendschein rosig strahlende Gegend mit der goldenen Muschel bei Palermo vergleichen; sie hat wie sie majestätischen Ernst der Gebirgsformen und eine reiche Ebene; nur freilich nicht das Meer, sondern den Strom des Liris oder Garigliano, der von den Abruzzen, wie ein junger Apollo, tönend herunterkommt und diese Gefilde durchwallt, Römer und Neapolitaner tränkend, bis er durch die Volskergebirge sich nach totenstillen Meeresufern die Bahn bricht.

Wenn man die Grenze der «heiligen Republik S. Petri» verläßt, um in das «Königreich» einzutreten, so darf man sich keineswegs auf erfreuliche Dinge gefaßt machen. Denn es ist nicht zu leugnen: einige Spuren der doppelten Größe Roms tragen die Bewohner des Kirchenstaates noch heute. Im Römischen herrscht ein Zug von Ernst, Bedächtigkeit und Maß, von ungezwungener und freier Haltung, ja selbst von Liberalität zumal in der Rede, die sich hier seit alters frei erhalten hat, und auch sonst bemerkt man wenigstens im Gewährenlassen eine gewisse Sorglosigkeit. Die eigentümliche Verfassung des Kirchenstaats, in welchem alle monarchische und rein politische Gewalt, der Natur des Staats gemäß, nur schwach auftritt, der Mangel einer kräftigen weltlichen Regierung, das von den päpstlichen Untertanen nicht genug geschätzte Glück, daß sie von keiner stehenden Soldatenmacht bedrückt werden, der durch Vertrag und Statuten lange Zeit dauernde Munizipalismus der Orte (er ward erst aufgehoben durch die französische Republik, dann durch die Restauration unter Consalvi), endlich das Nichtvorhandensein einer erblichen Landesdynastie, erklären die wohltuende republikanische Atmosphäre in römischen Landen. Betritt nun der Wanderer die neapolitanische Monarchie, so darf er darauf gefaßt sein, daß er vieles kleinlicher finden wird; das ernste Naturell der Römer verschwindet mit einem Schlag; die Sprache wird barbarisch und unverständlich; die Menschen minder wohlgebaut, lebhaft, gutmütig, zudringlich, doch furchtsam. Es wimmelt von Soldaten, von Polizisten, Spionen, von Mautbeamten eines argwöhnischen, unsichern, knechtischen Regiments. Kein Mensch redet mehr frei von der Leber weg, und es ist für den Neapolitaner ein äußerstes, wenn er nicht mehr räsonieren darf.

Isola empfing mich mit einem lauten Wasserschwall und vielem Grün von Hängeweiden am Fluß, doch zugleich mit der Dogane. Um sechs Bücher willen wurde ich hier lange Zeit aufgehalten. Außer einem Horaz betrafen sie alle die Geschichte des Mittelalters, waren also unverfänglich genug, aber die Beamten begriffen ihre Titel nicht. Diese Herren beklagten zu mir den Tod Humboldts, als sei auch die wissenschaftliche Kultur Neapels schwer davon betroffen worden; sie priesen die Bildung des preußischen Staats, wo jeder Mann mit den Schriften der Philosophen vertraut sei, und sie erklärten in demselben Atemzuge, daß meine sechs Bücher Konterbande seien, daß sie dieselben weiter ins Land an eine höhere Behörde schicken müßten, die mich dann nach ein paar Tagen bescheiden würde. Ich bemerkte, daß ich allerdings Ursache habe, mit meinem Vaterland Deutschland zufrieden zu sein, wo man die Reisen wissenschaftlicher Männer erleichtere, statt sie zu erschweren, und daß ich ihre Mautgesetze in diesem Punkte barbarisch finde. Ich pries meinen guten Geist, der mich in Rom gewarnt hatte, meine geschriebenen Materialien nicht nach Monte Cassino mitzunehmen, denn ich hätte sie, die Mühe von Jahren, nimmer wiedergesehen. Solchen Zufällen ist der Fremde, der aus Zwecken friedlicher und ernster Wissenschaft reist, im Zeitalter, wo diese blüht, in jenem unglücklichen Lande ausgesetzt. Und es gibt in der Tat weder ein mehr barbarisches noch ein unnützeres Verbot, als dieses gegen das Einführen von Büchern. Ich kam endlich gut davon, ohne daß der Beamte, ein wackerer und anständiger Mann, seine Pflicht verletzte, denn ich überzeugte ihn endlich von dem Charakter der Bücher. Um wie vieles nun die römische Art liberaler sei, will ich hier zeigen; als ich später von Monte Cassino zurückkehrte, mit denselben Schriften, mit dort gesammeltem Material, mit anderen Büchern, die mir Don Luigi Tosti zum Geschenk gemacht hatte, und als ich mit dieser Konterbande an der Brücke von Ceprano dem römischen Doganen-Offizianten mich vorstellte, warf er nur einen flüchtigen Blick darauf und sagte mit römischer Gentilezza: «Passate pure, signor.» Ich hatte demnach die köstlichste Zeit verloren, in vollem Abendsonnenschein Isola zu sehen. Dieser kleine freundliche Ort liegt auf einer Insel im Liris, schön von Bäumen umschattet. Der herrliche Strom, von smaragdgrüner Farbe, gewaltig brausend und reißenden Laufes, stürzt sich am Haupt der Insel, also im Ort selbst, als ein Wasserfall herab. Ein 80 Fuß hoher Fels bewirkt diesen, und auf ihm ragen über dem milchweißen Sturz die Trümmer eines Kastells empor. Schon in der Ferne hört man das Tosen des Wassers, und wo man sich auch hinbewege, überall erfreut sich der Blick entweder an der Bewegung des Stromes selbst, oder an zahllosen Kanälen, die reißend schnell in ihn fallen, während sich tiefschattige Gärten mit prächtigen Platanen, Pinien und all dem reichen Baumwuchs des Südens ringsum verbreiten. Die Fülle des Wassers ist groß, denn oberhalb der Insel stürzt der Fibrenus in den Fluß, in mehrere Arme getrennt. So hat die Verbindung zweier Flüsse ein reiches Kulturleben erzeugt, denn das Wasser treibt hier viele Fabriken von Wolle und Papier, welche die ganze Gegend beschäftigen, Tausende von Menschen ernähren, rüstige Arbeiterkolonien erzeugen und weit in das Land hinein wohltätig wirken.

Sowohl Isola als Sora sind Fabrikorte, und die gute Fahrstraße, welche sie verbindet, ist zu beiden Seiten mit Anlagen, Kasinos und Gärten besetzt. Es ist in der Tat eine überraschende Kulturoase, die hier seit dem Anfang dieses Jahrhunderts entstand, und der lang entbehrte Anblick industrieller Tätigkeit in so paradiesischer Gegend tut dem Reisenden wahrhaft wohl.

Bei dem vollsten Mondschein fuhr ich nach dem nur eine Stunde entfernten Sora, auf einem Char-à-banc, wie man hier die neapolitanischen Curriculi französisch nennt; denn der Gebrauch dieser Einspänner beginnt schon hier, und man läßt mit derselben rasenden Wut wie in Neapel den armen Gaul in gestrecktem Galopp dahinrennen. Der Mondschein, welcher den Reiz der Straße erhöhte, ließ mir die ununterbrochenen Anlagen schöner erscheinen, als ich sie bei Tageslicht wiederfand. Die moderne Gestalt der Gebäude wirkt sonderbar auf den Reisenden, der eben aus dem Römischen kam, wo alles der Vergangenheit angehört, wo alles Geschichte ist und die finsteren Felsenstädte daran erinnern, daß sie dort schon seit dem fabelhaften Janus und Evander stehen.

Die jetzigen Fabriken, meist Papiermühlen in einem großen Maßstab und nach neuestem System, verdanken ihren Ursprung hauptsächlich den Franzosen aus der Zeit Murats, unter ihnen einem Herrn Le Febvre. Dieser Mann kam arm dorthin, aber das Lirisufer wurde ihm zum Eldorado, denn er zog aus der Wasserkraft reines Gold. Er hinterließ seinem Sohn Fabriken und Millionen. Der König von Neapel, ich glaube Ferdinand II., erhob seine Familie in den Grafenstand; sie hat diese Würde reichlich verdient, denn eine bisher wenig kultivierte Landschaft verdankt dem erfindenden Verstand jenes Fremdlings ein reiches Leben, welches nicht mehr schwinden, sondern hoffentlich sich steigern wird. Das schöpferische Wirken eines Mannes in einem bestimmten Kreis der Industrie gehört zu den Erscheinungen menschlicher Tätigkeit, die man mit dem reinsten Anteil betrachten darf; wenn solches in England, Deutschland und Frankreich häufig, in Neapel selten ist, so mag man leicht denken, wie hoch hier die Verdienste dieser Art anzuschlagen sind. Die zwei Hauptfabriken Le Febvres, die Cartiera del Liri und die Cartiera del Fimbreno, sind schloßartige Gebäude. Es ist ein Genuß, der Tätigkeit jener Menschenschwärme zuzusehen, die dort das Papier bereiten oder vielmehr gießen, denn die aufgelöste Breimasse fließt als ein grauer Strom, wird milchiger, dichter, hemmt sich, kommt über der heißen Walze als Papier hervor, ja als eine endlose weiße Gedankenstraße. So ungefähr hat Gott die Welt geschaffen wie Monsieur Le Febvre das Papier und hat sie dann den Menschen als ein endloses weißes Blatt hingebreitet, ihren Sinn und Unsinn daraufzuschreiben. Man kann solchen genetischen Papierstrom nicht fließen und gerinnen sehen, ohne daß sich die Phantasie alle die Möglichkeiten vorstellt, die der das Leben beherrschende wunderbare Stoff, welcher Papier heißt, auf sich nehmen wird. Denn dieser papierene Fluß wird einst irgendwo an den Tag kommen als gedrucktes Produkt des Genies oder der Albernheit in Kunst und Wissenschaft, als politische Zeitung, als falscher oder echter Wechsel, falsche oder echte Verfassungskarte, Hiobs- oder Freudenpost, Todesurteil, Friedenstraktat, Trauerspiel, Reisepaß, als ein Pamphlet «Le Pape et le Congrès», als Spielkarte in der Spielhölle, als Fotografie, Liebesbrief, und in tausendfacher, das Leben verbindender und trennender Gestalt!

Ich war in einer Villa bei Isola empfangen worden; der freundliche Besitzer führte mich in den nahe gelegenen Park des Grafen, welcher ihm selbst ehedem gehört hatte. Dieser schöne Garten wetteifert in der Tat mit denen der Villen Roms, wenigstens darf der Fürst Doria oder Borghese Herrn Le Febvre um den Reichtum des Wassers beneiden, der dort nicht künstlich erschaffen zu werden braucht. Denn ein Arm des Fibrenus stürzt sich durch den Park; er bildet, über Felsen kommend, tausend kleine Kaskaden und fließt dann beruhigt als ein grüner Spiegel zwischen duftigen Hainen fort. Seine Ufer bedeckt der üppigste Baumwuchs, den ein ewiger Tau befeuchtet, und malerisch hängt die Weide ihre Zweige in ihn hinab. Dunkle Gänge, Höhlen, elysische Ruhesitze, blühende Gebüsche laden zum Wandeln am Fluß, zum Schlafen und zum Nachsinnen ein; kurz hier ist ein kleines Tivoli und Nymphenparadies schön zusammengefaßt.

Sora, die erste neapolitanische und bischöfliche Stadt auf dieser Seite, erreichte ich vor zehn Uhr abends, und ich übernachtete in einem guten Gasthof. Wie schnell die politische Grenze auch zu der des Gebrauchs und der Sprache wird, zeigte sich hier in unmittelbarer Nähe des Kirchenstaats. Der Kellner nannte mir eine Liste von Speisenamen, die kein Mann im Römischen mehr würde verstanden haben; auch wird hier schon das Don gehört.

Am Morgen enthüllte sich Sora als eine ziemlich saubere und moderne Stadt mit einigen guten Straßen, mit Industrieleben und lebhaftem Verkehr. Sie liegt am Liris, der hier smaragden grün zwischen hohen Pappeln, wie ein deutscher Fluß, träumerisch und sanft daherkommt. Eine hölzerne Brücke führt darüber und an den Kai. Entzückende Stellen am Ufer lockten mich, und ich fand hier manchen Ort, wo ich gern würde verweilt haben. Denn ringsum breitet sich eine reichbebaute Campagna, ein vieldurchschnittenes Garten- und Weinland aus, durch welches treffliche Straßen in die Nachbarstädte führen.

Sora liegt flach in dem sich weit in die Berge ziehenden Liristal, welches im Hintergrund ein Gebirgskranz schließt. Es verengt sich an einigen Stellen, und die Berge rücken vor. Unmittelbar über der Stadt erhebt sich ein durchaus pyramidenförmiger Berg, hoch, steil, wildzerrissen, und völlig nackter brauner Fels. Er trägt auf seiner Spitze die malerischen Reste der uralten Burg, Sorella genannt, welche so tiefbraun aussehen wie das Gestein selbst. Im Schatten jener natürlichen Pyramide liegt Sora harmlos und idyllisch da, jetzt ganz neu von Ansehen, doch einst eine mächtige Volskerstadt, die ihren Namen niemals verändert hat. Sie wurde später samnitisch, dann lateinisch, dann römisch. In der römischen Periode zierten sie als ihren Geburtsort die drei Decier, der berühmte Attilius Regulus, das Geschlecht der Valerier, unter ihnen der Redner O. Valerius, dann Lucius Mummius, Namen, die hinreichend sind, diesem Ort Glanz zu verleihen. Während des frühesten Mittelalters findet sich Sora als Grenzstadt erwähnt, welche die Langobardenherzöge von Benevent oftmals überfielen und plünderten. Sie mochte damals byzantinisch sein. Abwechselnd von Grafen langobardischen Stammes beherrscht (denn die ganze Landschaft um den Liris war von Langobarden erfüllt), fiel sie in die Gewalt des Kaisers Friedrich II., der sie zerstörte. Sie gehörte später den mächtigen Grafen von Aquino, die fast alles Land zwischen dem Vulturnus und Liris besaßen. Dann machte Karl von Anjou die Cantelmi, Verwandte der Stuarts, zu Grafen von Sora, und Alfons von Aragon erhob Sora zum Ducat, dessen erster Herzog Niccolo Cantelmi war. Nun hatten jedoch die Päpste längst nach dem Besitz der schönen Grenzlandschaft getrachtet; sie erlangten sie unter Pius II., dessen Hauptmann Napoleon Orsini Sora eroberte. Der König Ferdinand I. von Neapel bestätigte den Besitz; aber Sixtus IV. entzog ihn der Kirche im Jahre 1471, als er seinen Nepoten Lionardo della Rovere mit der Nichte des Königs vermählte, welche nun das Herzogtum als Morgengabe erhielt. Später kaufte Georg XIII. Sora, im Jahre 1580, vom Herzog von Urbino für seinen Sohn Don Giacomo Buoncompagni, und selten hat ein römischer Nepot einen reizenderen Besitz gehabt. Dieses Ländchen verblieb den Buoncompagni-Ludovisi bis zum Ende des 18. Jahrhunderts, wo es wieder an Neapel fiel, und von jener römischen Nepotenherrlichkeit blieb in Rom nur der Palazzo di Sora und nur der Titel eines Duca di Sora übrig, den heute der erste Sohn des Prinzen Ludovisi-Piombino führt.


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