Ferdinand Gregorovius
Wanderjahre in Italien
Ferdinand Gregorovius

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Mancher Platz und manche Straßen stehen noch da; zu ihren Seiten verfallene, vom Efeu umsponnene Häuser; manche palastartig, mit halbgotischer Architektur, einst Wohnungen des reichen Adels. Wunderbar sehen die Kirchen aus, von denen noch vier oder fünf in Ruinen stehen. Ich sah nie so phantastische Trümmer. Aber wie soll ich sie in Worten malen? Wie soll ich einen solchen braunen, zersplitterten Glockenturm mit den runden oder von kleinen Säulen geteilten Fenstern, mit seinen mittelalterlichen Friesen von spitzkantigen Ziegelsteinen, und mit dem romantischen Festschmuck von Efeu und im Winde schaukelnden Blumen zeichnen? Oder die Trümmer der gewölbten Nischen und der Kirchenschiffe schildern, die alle von Blütenteppichen überhängt sind? Diese Kirchen sind alt, sie gehören dem 11. oder 12. Jahrhundert, wenn nicht einem frühern an, denn ihr Stil ist von einfacher Basilikenform. In ihren öden Räumen beten nun die Blumen, und die Weihrauchfässer schwingen die bacchantischen Rosen. Von den Wänden, und hie und da aus einer von Efeu umsponnenen Tribüne blicken noch alte Freskobilder herunter. Das sind alte Christen mit ihren Palmen in der Hand und mit den Marterwerkzeugen zu ihrer Seite. Den verlöschenden Nimbus um das bleiche Haupt, in goldiger Dalmatika, mit der Stola um die Schulter, starren sie mürrisch aus den Blumenschleiern hervor und scheinen sich über den Heidendienst zu ärgern, den die Kinder der Flora in diesen verlassenen Kirchen aufzuführen wagen.

Der Käfer summt seine Sommerromanze fort und fort, und die Grille schrillt unablässig ihre anakreontischen Liebeslieder. Die Blumen und Käfer weichen nicht mehr aus diesen Tempeln. Dem heiligen Bernhard wurde einst geklagt, daß von einer Kirche, welche eben neu geweiht werden sollte, zahllose Schwärme von Fliegen Besitz genommen hatten und sie nicht mehr verlassen wollten; er rief hierauf: «Ich exkommuniziere sie»; und siehe da, als die Boten in die Kirche zurückkehrten, lagen alle Fliegen darin tot. Aber schwerlich würde es einem heiligen Beschwörer gelingen, die Blumen aus den Kirchen Nymphas zu exkommunizieren, und so zornig sich die gemalten Märtyrer darin gebärden, schon kommt der Efeu geschlichen und wird sie selber bald ganz verschleiert und eingemauert haben. Von manchem ist bereits nichts mehr sichtbar als der Zipfel seines Gewandes und der Name in alten lateinischen Charakteren: Sanctus Xistus, oder Sanctus Cesarius, und Sanctus Laurentius. Ich trat in die letzte dieser Kirchen ein – welch ein Anblick! Die ehemalige Mosaik des Bodens, mit ihren Arabesken und Kreisen oder Quadraten, schienen nun lebendige Blumen nachzuahmen, und aus der Konfession, wo einst die Gebeine des Heiligen lagen, wächst nun fröhlich der indische Wein mit seinen blauroten Beeren. So fehlt auch hier nicht das Seitenstück zu Pompeji. Wie sich dort das klassische Altertum in den heitern Freskobildern entschieden ausspricht, redet in Nympha die christliche Epoche der Menschheit auch aus Malereien auf den Wänden der Ruinen. Dort sind es die anmutigen Gestalten des Lebens und der Lust: Amoren, die am Weiher angeln, tanzende Satyrn, Grillen, die ein Wägelchen lenken, schwebende Bacchantinnen in weißen Schleiern, Zimbeln schlagend, oder ein geheimnisvolles Kästchen in den Händen, oder auf einer Fruchtschale saftige Feigen erhebend – doch im Pompeji des Mittelalters stellen die Fresken nur den Tod und den Schmerz dar. Statt jener fröhlichen Bilder sind es die schwermütigen Gestalten der Katakomben, die mythischen Götter der Marter und der Pein, in Flammen, ans Kreuz geschlagen, oder mit gefalteten Händen vor dem Henker kniend, der sein Schwert schon erhoben hat.

Ist es nicht Zeit, alle diese Märtyrer, Heiligen und morschen Kreuzesbilder endlich einmal in Blumen zu bestatten? Auf die Gräber der armen Büßer und Mönche und aller derer, die in der Zeit des finstern Aberglaubens sich geißelten und quälten, streut sie hier die Natur mit vollen Händen aus – ahmte doch auch die katholische Menschheit ihr nach, und gäbe sie den Toten Frieden und ein Blumengrab!

Am Eingange Nymphas ragt noch das Kastell auf, einst Sitz der Barone, in dessen Verliesen die Opfer des Feudalismus schmachteten. Hoch steigt der viereckige Turm empor, aus Ziegelsteinen so fest gebaut, wie die Torre delle Milizie in Rom, und wie es scheint, gehört er auch derselben Periode an. Er steht ganz nahe an einem Weiher, der hier wie ein stygischer Sumpf am Eingang der Totenstadt sich verbreitet. Ihn umkränzt hohes Schilf. Es ist hier ein mythischer Sitz, wie aus der Schattenwelt des Äneas oder Ulyß. Der finstere Turm und andere Ruinen werfen ihr zitterndes Bild auf das stille Wasser des Sumpfs. Das Schilf rauscht so schwermutsvoll. Manchmal schluchzt tief in ihm die Stimme eines Wasserhuhnes auf, wie die Seele eines Abgeschiedenen, die in diesem Hades wohnt und nach oben verlangt. Ich sitze auf Trümmern und blicke in dies grüne Geisterreich, dann empor zu den blauen, entzückenden Bergen, auf denen die Zyklopensteine Norbas und die Kastelle ragen, dann über die Pontinischen Sümpfe in das abendsonnige Meer, dem funkelnd das Kap der Circe sich entschwingt.

Sollte wohl die Zauberin Circe ihr Schloß drüben verlassen haben? Wohnt sie vielleicht jetzt in Nympha? Wurde sie zur Efeukönigin? So viel Efeu ist hier – mir schien es, als sei dies Nympha die Efeurüstkammer Italiens, und als versorgten von hier die Efeugeister der Geschichte alle Ruinen dieses herrlichen Landes mit ihren Ranken.

Man muß hier sitzen, wenn der Abend diese Efeuhallen und jede Ruine erst in Purpur, dann in Gold taucht und Berge, Meer und das Kap der Circe mit unsagbarem Farbenduft umstrahlt – doch ich will davon nichts sagen, noch es schildern, wie dies Feenmärchen sich gestaltet, sobald der Mond darin zu wandeln beginnt.

Aus dem Weiher stürzt der Quell Nymphäus. Er scheint hier seinen Ursprung zu nehmen, und plötzlich bringt er einen überraschenden Gegensatz jungen, brausenden Lebens in diese grüne Gräberwelt; gleich einem lebendigen Wesen ist er anzusehen, wenn er so blitzend und schäumend durch die Pontinischen Sümpfe dem Meere zuflieht.

Er treibt am Weiher eine Mühle, die in einem Bau des Mittelalters eingerichtet ist, denn ein Teil dieses Hauses hat noch gotisch-römische Säulenfenster. Auf einem Speicher steht geschrieben, daß Franciscus Gaetani, Herzog von Sermoneta und Herr von Nympha, ihn und den Eingang in den Ort, samt den Mühlen im Jahre 1765 erbaut habe.

Im Altertum soll an der Quelle und dem See ein Nymphentempel gestanden haben, von welchem die Stadt auch ihren Namen erhalten hat. Auf der Stelle jenes Nymphäums soll dann die Kirche S. Michael erbaut worden sein. Im Jahre 1216 gründete hier Ugolino Conti, nachmals Gregor IX., die Kirche S. Maria del Mirteto, vom Myrtenhain. Auch wohnten die Ritter vom Orden des Lazarus hier.

Die Geschichte Nymphas ist übrigens sehr dunkel. Im 12. Jahrhundert besaßen diese Stadt die Frangipani; der berühmte Alexander III. wurde dort am 20. September 1159 zum Papst geweiht. Dann setzte sich das Geschlecht der Gaetani seit dem Ende des 13. Jahrhunderts in den Besitz Nymphas, und die Nachkommen dieses berühmten Hauses haben ihn bis heute behalten. Die Archive der Familie in Rom bewahren noch viele Urkunden, welche zeigen, wie der Nepot Bonifacius' VIII., Pietro Gaetani, lateinischer Pfalzgraf und Graf von Caserta, nach und nach die Häuser und Güter Nymphas ihren Besitzern abgekauft hat. Ich fand dort kein Aktenstück mehr aus dem 15. Jahrhundert. Aber noch am 22. Februar 1349 ist eine Urkunde in jenem jetzt verfallenen Baronalschloß gezeichnet. Es heißt darin: «Actum Nimphe in scalis palatii Rocce Nimphe presente Nicolao Cillone Vicario Sculcule...»

Ich weiß nicht zu sagen, wann Nympha verlassen ward. Den Geschichtschreiber, der alles wissen möchte, grämt es, aber der Poet deckt dies Mysterium gern mit Efeuranken zu. Der Wanderer, der hier umhergeht, ruft die Geister herbei und glaubt sich umschwärmt von Wassernixen und Feen. Dies entzückende Nympha ist das reizendste Märchen der Geschichte und der Natur, das ich irgend in der Welt gesehen habe.

 

Am folgenden Morgen mieteten wir Maultiere in Norma, um nach dem alten, berühmten Cori oder Cora zu reiten, welche Stadt man in drei starken Stunden erreichen kann. Ein Fahrweg führt in der Tiefe dorthin, Ninfa vorbei, aber wir zogen es vor, den kürzern Felsenpfad zu wählen, welcher sich über die Abhänge des Volskergebirges fortzieht. Denn hier ist die Aussicht groß und schön, weil der Blick über die pontinische Ebene und das Meer, bis nach Rom hinreichen kann. Die Frische des Morgens, der klarste Septemberhimmel machten diesen Ritt entzückend genug, obwohl die Berge, an denen wir hinzogen, einförmig und ohne Leben waren, es sei denn, daß hie und da Schafhirten sich versammelt hatten, ihre Herden zu melken, den frischen Käse am Feuer zu bereiten oder aus Ginsterzweigen ihre konischen Nomadenhütten zu errichten.

Wenn man so von oben in diese pontinische Landschaft blickt, und zumal gegen den lateinischen Strand gewendet, wo das uralte Ardea im Land der Rutuler liegt, so ruft die poetisch erregte Phantasie gern die Gestalten aus dem Virgil herbei. Denn dort ist das Land des römischen Troja, dort ist die Szene der Heldenkämpfe der Äneide, und wir sehen über den Wiesenplan oder durch die Wälder die schöne Amazone Camilla jagen, die Heroin des Volskerlandes:

Hos super advenit Volsca de gente Camilla,
Agmen agens equitum, et florentes aere catervas,
Bellatrix.

Diesen gesellte sich noch aus volskischem Stamme Camilla,
Führend der Reisigen Zug und mit Erz umfunkelte Haufen,
Streiterin sie!

Die Schilderung ihres Todes und das tragische Geschick von Euanders Sohn Pallas sind die schönsten Blumen in dem Gedichte Virgils. Man muß die melodischen Verse der Äneide auf dem römischen Gefilde lesen, um ihren Zauber erst ganz zu empfinden. So verklärt, so voll ernster Schönheit ist die Poesie Virgils, wie die Campagna von Rom. Diese unsterbliche Dichtung wird als das Seelenhafteste, was von der Römerwelt übrigblieb, durch alle kommenden Jahrtausende diesen Bergen, diesen Wäldern und Fluren Begeisterung verleihen. Turnus, Mezentius, Lavinia, Ascanius und der treue Achates... Ja hier leben sie... und welches Gemälde! So episch und groß, wie nur jenes am Skamander sein kann, oder wahrscheinlich erhabener. Denn kann es überhaupt etwas Erhabeneres geben als das Feld von Rom und sein Meergestade?

Durch die virgilischen Erinnerungen ziehen sich hier Troja und Hellas in dies Lokal der Uranfänge Roms hinüber. Die Atmosphäre wird dadurch hellenisch, und immer mehr, je näher man Cori kommt. Denn diese alte Stadt gehört der uritalischen oder pelasgischen Mythe an. Rom heißt ewig, aber nicht seines Alters wegen; die meisten Städte der Campagna sind viel älter, und nun gar Cori, das nach den Berechnungen antiker und moderner Topographen eine der ältesten Städte der Welt ist und 1470 Jahre vor Christi Geburt, also sieben Jahrhunderte vor Rom erbaut worden ist.

Nach der Mythe gründete Cori der Trojaner Dardanus, Sohn des Corytus, Königs von Italien, und der Electra, einer Tochter des Atlas; dann floh er, ein Brudermörder, vor Siculus und seinem Vater nach Asien, wo er Dardania gründete, das erst von seinem Enkel Tros Troja genannt wurde. Im siebenten Buch der Äneide (Vers 670 und folgende) kommt der Name Coras vor:

Tum gemini fratres Tiburtia moenia linquunt,
Fratris Tiburti dictam cognomine gentem,
Catillusque acerque Coras, Argiva juventus.

Zwei Gebrüder darauf verlassen tiburtische Mauern,
Und das Geschlecht, dem Namen verliehen der Bruder Tiburius.
Beide Catillus und Coras voll Mut, argivische Jugend.

Die drei Brüder Catillus, Coras, Tibur oder Tiburtus waren nämlich Söhne des Amphiaraus von Argos; sie kamen aus Griechenland nach Italien und gründeten hier Tibur oder Tivoli. Coras soll Cora erbaut haben. Dies ist eine zweite Mythe von der Entstehung dieser Stadt.

Da liegt sie vor uns, eine Pyramide von Häusern auf einem Berge; hoch oben stehen die schönen Reste des Herkulestempels, zu den Füßen der Stadt liegen Fruchtgärten und Olivenhaine. Cori hat gegen 5000 Einwohner. Seit mittelalterlichen Zeiten ist sie ein Lehn des «römischen Senats und Volks», ein Kammergut der Stadt Rom – in der Tat eine köstliche Besitzung. Ich werde den Leser nicht mit der Beschreibung der Ruinen Coris ermüden, denn er hat davon genug. Aber wohl verdienen die zyklopischen oder pelasgischen Mauern auch hier Bewunderung. Sie sind an vielen Stellen in der Stadt sichtbar; man vergleicht sie mit den Mauern des alten Mykene oder Tirynth. Sie stützen die Akropolis, das Haupt der Stadt. Wenn man dort emporklimmt, findet man sich voll Überraschung vor dem Rest des Peristyls eines Tempels, welcher völlig griechisch erscheint. Es ist ein kleiner, graziöser Bau dorischer Art, sehr wohl erhalten; die blaugraue Farbe, welche der Travertin der Säulen angenommen hat, sieht schön altertümlich aus. Man nennt diesen Tempel vom Herkules, aber wahrscheinlich ohne Grund.

Castor und Pollux, Fortuna und Diana, die Göttin der pontinischen Jagdgefilde, Sol, Janus und Äolus, Apollo und Äskulap hatten in Cori ihre Tempel. Man zeigt noch tiefer unten vier schöne korinthische Säulen, welche in einem Hause eingemauert sind, und schreibt sie dem Tempel der Dioskuren zu. Reste von Bädern und Zisternen, eine römische Brücke über den reißenden Bergbach, der von Cori herunterbraust, andere zerstreute Altertümer mögen den Forscher hier beschäftigen.

Das Mittelalter ist in Cori schwach vertreten. Der Dom S. Pietro, in den Trümmern jenes Herkulestempels erbaut, bietet nichts Merkwürdiges dar; dagegen ist Santa Oliva wegen ihrer Architektur der Beachtung wert. Indes alle diese Trümmer, was sind sie gegen den hinreißenden Blick auf die Maritima, den man überall in Cori genießt? Es verlohnte sich wohl, hier sommers zu leben. Die Luft ist kühl und balsamisch, der Wein köstlich, die Früchte sind in solcher Fülle vorhanden, daß ich für einen Bajocco 26 frische Feigen erhielt. Aber Cori wird von den Römern gar nicht besucht. Sie ziehen es vor, in das städtische Albano und Frascati zu gehen, und die wenigsten von ihnen kennen die Reize ihrer eigenen Campagna. Gibt es ein herrlicheres Leben, als die Gebirge der Sabina, der Herniker, der Volsker zu durchstreifen und in der unverfälschten Natur seinen Geist zu stählen?

Ich verließ Cori, zu Pferde steigend, um nach Velletri zu reiten; und wie in Ninfa, so gelobte ich auch hier, wiederzukehren und in dieser klassischen Stille einige Zeit hinzubringen.


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