Ferdinand Gregorovius
Wanderjahre in Italien
Ferdinand Gregorovius

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Ein eigentliches Geschichtswerk ist im alten Kalabrien nicht entstanden. Zwar brachte Lecce im 16. Jahrhundert einen namhaften italienischen Geschichtschreiber hervor, Scipione Ammirato, welcher dort im Jahre 1531 geboren wurde; aber dieser Mann eines durch ganz Italien ruhelos bewegten Lebens blieb seinem engern Vaterlande fern; er schrieb im Auftrage des Großherzogs Cosimo in Florenz die «Istorie Fiorentine».

Das biographisch-literarische Werk des Domenico de Angelis «Le Vite de' Letterati Salentini» (gedruckt zu Florenz 1710) führt keine Geschichtschreiber auf. Doch verdient für das 17. Jahrhundert eine ehrenvolle Erwähnung Giulio Cesare Infantino wegen seiner im Jahre 1636 gedruckten «Lecce Sacra», in welcher er die kirchlichen Verhältnisse dieser Stadt behandelt hat. Dieselben sind vielfach freilich dunkel geblieben, weil die Urkunden des bischöflichen Archivs fast sämtlich untergegangen sind.

Im 17. und 18. Jahrhundert entstand eine massenhafte Produktion von Monographien über Städte der Halbinsel, welche man jetzt zu sammeln und herauszugeben begonnen hat, nachdem im 18. Jahrhundert Francesco Antonio Piccinni damit in bezug auf Lecce den Anfang gemacht hatte. Es gibt eine Reihe von Stadtbeschreibungen und Stadtgeschichten, wie von Brindisi, Lecce, Otranto, Oria, Gallipoli, Ostuni, Galatina, Nardò, Francavilla, Marduria u. a. m. So schätzbar diese Schriften auch für die Kenntnis des Landes sein müssen, so ist doch dabei zu bemerken, daß sie nicht einen kommunalen und offiziellen Ursprung haben, sondern eben nur monographische Arbeiten einzelner Antiquare sind, bei denen Tradition und Lokalpatriotismus in der Regel an die Stelle der Kritik getreten sind. Zugleich erklärt das unermeßliche Alter der Städte und ihre antike Bedeutung das Vorherrschen der antiquarischen Betrachtung und Forschung über die geschichtliche bis zum heutigen Tage. Selbst der erfreuliche Aufschwung der literarischen Studien in der Terra d'Otranto seit drei Dezennien scheint durch die Entdeckung jener messapischen Inschriften mit veranlaßt worden zu sein; denn sie erst haben die Aufmerksamkeit auch des Auslandes wieder auf dieses altberühmte Land hingelenkt.

Schon die Namen von Straßen Lecces haben gezeigt, daß hier der Sinn für die geschichtliche Erinnerung besonders lebhaft sein muß. Mit jener Begeisterung des munizipalen und provinziellen Patriotismus, welcher eine besondere Eigenschaft der Italiener ist, hat man sich der Erforschung der Altertümer und der Sammlung der literarischen Erzeugnisse des Landes zugewendet, und dieser Eifer hat sich mit dem Augenblicke verdoppelt, wo die tiefe geistige Finsternis, in welcher die bourbonische Dynastie aus Regierungsprinzip das ganze Königreich Neapel gehalten hatte, von diesem endlich genommen wurde.

Lecce ist seither der Mittelpunkt neuer literarischer Tätigkeit geworden. Dort machte man sich seit den fünfziger Jahren an die Herausgabe einheimischer Autoren. So entstand erst die «Biblioteca Salentina» in fünf Bänden 1855-59, dann seit 1867 das wichtigste nationale Sammelwerk, die «Collana di opere scelte edite et inedite di scrittori di terra d'Otranto», besorgt von Professor Salvatore Grande. Bisher sind davon 19 Bände erschienen. Die Sammlung vereinigt alle bedeutenden oder im Lande als bedeutend geltenden Schriften vom frühen Mittelalter abwärts, gedruckte wie noch ungedruckte jeder Gattung.

Was besonders die Geschichtsforschung betrifft, so sind auch darin neuerdings Versuche von mehr wissenschaftlichem Charakter gemacht worden. Ich habe bemerkt, daß die Geschichte der Terra d'Otranto während des späteren Mittelalters in zwei Hauptgruppen sich darstellt, in dem Fürstentum Tarent und in der Grafschaft Lecce. Eine Geschichte jener Provinz würde sich deshalb wesentlich auf die dort einander gefolgten Feudalherrschaften beziehen. Über die Anjou Tarents hat Luigi Giuseppe de Simone im Jahre 1866 eine Dissertation verfaßt, «Degli Angioini principi di Taranto (1292-1373)», die als ein Wegweiser zu umfassenderen, namentlich archivalischen Studien zu betrachten ist. De Simone ist ein sehr tätiger Sammler wissenschaftlichen Materials, welches er seit zwanzig Jahren herbeizuschaffen bemüht ist, um eine salentinische Geschichte herzustellen. Seine Kenntnisse auf diesem Gebiete sind zweifellos; sie zu beglaubigen reicht schon der erste Band seines vor kurzem begonnenen Werkes «Lecce e i suoi Monumenti descritti ed illustrati» hin, welcher eine Fülle von Gelehrsamkeit enthält, wenn auch in etwas formloser Weise.

Über die Grafen von Lecce aus dem Hause Brienne besitzen wir seit kurzem das von einem Franzosen, dem Grafen Ferdinand de Sassenay geschriebene Buch «Les Brienne de Lecce et d'Athènes» (Paris 1869). Diese Schrift ist mit Benutzung des Staatsarchivs in Neapel aus fleißigen literarischen Studien entstanden, aber die Verhältnisse Lecces und des Landes überhaupt sind in ihr fast gar nicht berührt worden. Die Brienne, deren Epoche von 1200 bis 1356 reicht, haben dort nur selten ihren Sitz gehabt.

Die Geschichte dieser tapfern französischen Abenteurer, welche alle nacheinander von Gauthier III. an, dem Gemahl der Albiria d'Hauteville und erstem Grafen von Lecce seines Hauses, bis zum letzten ihres Namens Gauthier VI., dem bekannten Herzog von Athen und Signor von Florenz, ein blutiges Ende gefunden haben, gehört wegen ihrer Verbindung mit Cypern, Jerusalem und Athen fast mehr dorthin als nach Kalabrien.

Gauthier III. war der Sohn Erards aus dem alten Grafenhause der Brienne in der Campagne, und der Agnes von Mömpelgard. Er vermählte sich mit Tancreds Tochter Albiria, im Jahre 1200; von dem Papst Innocenz III. unterstützt und in den Rechten seiner Gemahlin auf Lecce anerkannt, warf er sich zum Rächer der Normannen und zum Prätendenten der Krone Siziliens auf, welche Heinrich VI. seinem jungen Sohne Friedrich vererbt hatte. Er fiel jedoch schon im Jahre 1205 in Campanien in einer unglücklichen Schlacht, wo er zum Tode verwundet in die Gewalt des Grafen Diepold geraten war.

Sein Sohn Gauthier IV., Neffe jenes Königs von Jerusalem, Johann von Brienne, dessen Tochter Jolantha die Gemahlin Friedrichs II. wurde, konnte seine Rechte auf Lecce nicht mehr geltend machen. Er ging nach Jerusalem, wo er mit heldenmütiger Tapferkeit gegen die Sarazenen kämpfte. In einer Schlacht gefangengenommen und nach Kairo fortgeführt, ward er dort ermordet im Jahre 1246. Er hatte sich mit Maria von Lusignan vermählt, einer Schwester des Königs Heinrich I. von Cypern. So wurde durch ihn die Verbindung des Hauses Brienne mit den Angelegenheiten des Orients fortgesetzt.

Sein Sohn Hugo machte die Rechte seiner Mutter auf Cypern geltend und beanspruchte sogar die Krone Jerusalems. Doch kehrte er, da seine Hoffnungen fehlschlugen, nach Italien zurück, und hier gab ihm Karl von Anjou nach der Besiegung Konradins die Grafschaft Lecce zum Lehn, die sein Großvater besessen hatte. Er diente seither als Vasall der Krone in den Kriegen Karls, ging aber bald nach Griechenland, wo er die Witwe Guillaumes de la Roche heiratete, des Herzogs von Athen. Hugo von Brienne fiel im Jahre 1296 vor den Mauern Lecces, welche Stadt der sizilianische Admiral Roger Loria bestürmte.

Sein Sohn und Nachfolger Gauthier V. wurde im Jahre 1308 Herzog von Athen, nach dem Tode des Sohnes jenes Guillaume de la Roche, in welchem diese Linie der athenischen Herzöge endigte. Dort fiel auch dieser Brienne im Jahre 1311 in einer mörderischen Schlacht gegen die katalonischen Banden.

Seine Witwe Jeanne de Châtillon flüchtete aus Griechenland mit ihren beiden Kindern Gauthier und Isabella an den Hof Neapels. Es war ihr Sohn Gauthier, der Titularherzog von Athen, welchem die Florentiner, geängstigt durch die Wut der Parteien und durch ihr Unglück im Kriege wider Pisa, auf unerhörte, ja unbegreifliche Weise die lebenslängliche Signorie ihrer Republik übertrugen. Dies geschah am 8. September 1342. Der ehrgeizige Brienne setzte alle seine Künste in Bewegung, um Tyrann der reichen Republik zu werden; er wälzte die florentinische Verfassung um und nahm dem Volk seine Freiheiten, bis ihn dieses in dem berühmten Aufstande des 3. August 1343 aus der Stadt verjagte.

Der verbannte Herzog von Athen kehrte in seine Grafschaft Lecce zurück; später ging er nach Frankreich, ward dort Connetable und fand endlich einen ruhmvollen Tod in der Schlacht bei Poitiers. Mit ihm erlosch das Haus Brienne.

Er war vermählt mit Margarete von Anjou, einer Tochter Philipps I., des Fürsten von Tarent, hinterließ aber keine Kinder. So fiel die Grafschaft Lecce an die Nachkommen seiner Schwester Isabella, welche sich im Jahre 1320 mit Gauthier von Enghien vermählt hatte. Dessen Sohn war Jean d'Enghien-Bourbon, nachmals Vater der Königin Maria di Enghenio, welche unter den geschichtlichen Persönlichkeiten Lecces noch heute vielleicht die volkstümlichste ist.

Diese schöne und kluge Frau, eine Tochter der Sueva del Balzo, war im Jahre 1367 geboren. Sie folgte ihrem Bruder Pirro, dem Letzten des Hauses Enghien zu Lecce, in der Regierung im Jahre 1384 und vermählte sich mit Romandello Balzo-Orsini, dem berühmten Fürsten von Tarent und mächtigsten Feudalherrn Neapels. Nach dem Tode ihres Gemahls im Jahre 1405 regierte sie als Vormünderin ihrer Kinder auch das Fürstentum Tarent, dessen Gebiet sich damals fast über die ganze kalabrische Halbinsel erstreckte. Vom Könige Ladislaus im Jahre 1406 belagert, verteidigte sie Tarent erst mit kühnem Mut, dann übergab sie die Stadt und sich selbst dem Feinde, welcher sie als seine Gemahlin nach Neapel führte. Nach dessen Tode im Jahre 1414 wurde sie von der Königin Johanna II. mit ihren Kindern in Neapel gefangengehalten, aber sie entkam nach Lecce und regierte ihre Länder unter vielen Kriegen und Umwälzungen bis an ihren Tod, im Jahre 1446. Mit ihrem Sohn Gianantonio erlosch im Jahre 1463 die feudale Dynastie von Lecce und Tarent.

Die wissenschaftlichen Bestrebungen in jenem Lande haben endlich dadurch einen festen Mittelpunkt gefunden, daß im Jahre 1869 zu Lecce eine Kommission der Archäologie und der vaterländischen Geschichte der Terra d'Otranto eingesetzt worden ist. Ihr ist die Aufgabe gestellt, alles die Altertümer und die Geschichte der Provinz betreffende Material zu ordnen, Ausgrabungen zu veranstalten, Vasen, Münzen, Inschriften, Bücher und Manuskripte zu sammeln und in einem Provinzialmuseum zu Lecce niederzulegen.

Dies Museum ist eingerichtet worden und beginnt sich zu füllen, sowohl durch Schenkungen aus dem ganzen Lande, als durch den Erfolg von Ausgrabungen, mit denen in Rugge, der Vaterstadt des Ennius, unter der Leitung De Simones der Anfang gemacht worden ist. Ob die Ausgrabungen in der Terra d'Otranto noch sehr lohnend sein werden, ist zweifelhaft; denn seit vielen Jahrhunderten sind dort die Altertümer geplündert, verschleudert und zerstört worden, wie das der Vorstand jener Kommission, der Herzog Sigismondo von Castromediano, ein verdienter Patriot und Förderer der Wissenschaft und Kunst, in seinem ersten Sitzungsbericht namentlich von Rugge, Oria, Brindisi und Tarent beklagt hat. Vielleicht ist überhaupt zu wünschen, daß die einseitig vorherrschende Richtung auf archäologische oft ganz unfruchtbare und sehr kostspielige Forschungen gemäßigt werde, und daß durch einsichtige Arbeitsteilung auch die historischen Studien zu größerer Kultur kommen. Dies würde geschehen durch Überweisung des geschichtlichen Gebietes an eine Abteilung der Kommission und durch Gründung von Bibliotheken und Archiven. Die mit dem Museum vereinigte Sammlung salentinischer Autoren und Manuskripte umfaßt gegenwärtig mehr als 320 Nummern. Die Handschriften bestehen größtenteils in ungedruckten Chroniken und Stadtbeschreibungen.

Die neugegründete öffentliche Bibliothek zählt erst 16 000 Bände. Im allgemeinen ist es um die Büchersammlungen des Landes schlecht genug bestellt. Tarent, einst ein Athenäum der Wissenschaften, besitzt heute weder ein Museum von Altertümern noch selbst die kleinste Bibliothek. Nardò hat die Biblioteca Sanfelice, die der Bischof dieses Namens am Anfange des 18. Jahrhunderts stiftete; Brindisi besitzt die reichhaltigste des Landes, welche vom dortigen Erzbischof Leo am Anfange dieses Jahrhunderts dem öffentlichen Gebrauch übergeben wurde. Auch Gallipoli, Ostuni und Oria haben Kommunalbibliotheken. Es gibt sodann einige Privatbibliotheken, wie in Lecce die des Hauses Romano, in Galatina die der Familie Papadia, in Gallipoli die der Fonto und Ravenna.

Solche Büchersammlungen stammen noch aus Stiftungen her, welche einzelne einheimische Gelehrte und Bibliophilen seit dem 16. Jahrhundert gemacht und dann ihren Familien hinterlassen haben. Andere waren feudalen und geistlichen Ursprungs; die Barone des Landes gründeten nämlich Klöster zu dem Zweck, die Sorge für ihre Familiengrüfte Mönchen dauernd zu übergeben, und zugleich legten sie dort Büchersammlungen an. Die erste und auch berühmteste Stiftung dieser Art ist die Fransizkanerkirche der heiligen Catarina zu San Pietro in Galatina, zugleich ein schönes Baudenkmal, welches Heinrich Wilhelm Schulz für das bedeutendste in der Terra d'Otranto erklärt hat. Dieses Kloster gründete um das Jahr 1384 jener aus der Zeit des Papstes Urban VI. und Karls III. von Neapel bekannte Ramondello del Balzo-Orsini, Graf von Soleto. Die Klosterbibliotheken erhielten sich bis auf den Anfang dieses Jahrhunderts. Als damals unter dem französischen Regiment Neapels die Klöster überhaupt aufgehoben wurden, wanderten deren Bücherschätze teils in die Nationalbibliothek zu Neapel, teils in die Generalordenshäuser in Rom, teils in Privatbesitz. Soviel sich endlich nach der letzten Aufhebung der Klöster in unserer Zeit an Büchern vorgefunden hat, soll nun der Anlage öffentlicher Gemeindebibliotheken zugute kommen.

Was den Bestand des archivalen Materials betrifft, so liegen die Quellen dieser Natur für die Geschichte der Terra d'Otranto heute wesentlich im großen Staatsarchiv zu Neapel. Infolge des Gesetzes vom 12. November 1818, welches jenes Archiv zu einer zentralen Reichsanstalt machte, wurden die Urkunden der Provinzial- und Gemeindearchive dorthin übertragen. So sind auch die kalabrischen Archive ausgeleert worden, bis auf wenige Reste in einzelnen Kommunen. Das Museum zu Lecce besitzt nur dreizehn Urkunden, von denen die älteste ein Diplom der Königin Johanna I. vom 7. August 1362 ist. Reichhaltiger ist der Bestand einiger Archive der Kathedralkirchen. Nach einem mir von Herrn Casotti übergebenen Bericht besitzt zum Beispiel das Domarchiv Brindisi noch heute an Urkunden 58 Bullen der Päpste, ein griechisches Diplom des Kaisers Basilius, 10 normannische, 6 der Hohenstaufen, 16 der Anjou, 1 der Grafen von Lecce, 24 der Fürsten von Tarent, 4 der Könige vom Haus Aragon und 2 der Republik Venedig. Die Archive der Feudalgeschlechter sollen durchweg verschleudert und vernichtet worden sein.

Das Gesagte mag hinreichen, dem Leser einen Begriff von den geschichtlichen Verhältnissen und den historischen Studien in jenem merkwürdigen Lande zu geben, wo ehemals die feinste hellenische Bildung auf dem Grunde des sogenannten messapischen Barbarentums sich ausgebildet hatte und dann jählings verschwand, ohne, wie es in manchen Teilen Siziliens der Fall gewesen ist, durch eine andere bedeutende Kultur ersetzt zu werden.

Es ist aber wohl möglich, daß jenes alte Kalabrien noch einer schönen Zukunft entgegengeht, und daß Brindisi von neuem eine internationale Wichtigkeit gewinnt, nämlich als die europäische Mittelstation der neuen Via Appia des Weltverkehrs, die sich heute von England bis nach Indien und China forterstreckt.


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