Ferdinand Gregorovius
Wanderjahre in Italien
Ferdinand Gregorovius

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

2. Achradina

Der zweite und schönste Stadtteil des alten Syrakus war Achradina. Er stieß unmittelbar an Ortygia, und man gelangte von der Insel dahin über den Damm, welcher wohl zunächst auf das prächtige Forum führte. Sodann breitete sich Achradina längs der ganzen östlichen Küste aus, denn östlich und nördlich bespülte dieses Stadtgebiet das Meer, westlich grenzte es an Tycha und Neapolis, südlich an die Insel und an beide Häfen. Eine starke Mauer umzog es von allen Seiten, und diese muß sehr fest gewesen sein, denn nachdem Marcellus bereits Epipolä, Tycha und Neapolis erobert hatte, würde Achradina noch lange Widerstand geleistet haben, wenn nicht der Verrat des Spaniers Mericus die Insel den Römern preisgab und die Syrakuser in Achradina mutlos machte. Nach der Seeseite zu erhoben sich jene Mauern, die Archimedes mit Schießscharten versah, um durch sie seine wunderbaren Maschinen spielen zu lassen.

Cicero sagt: «Die zweite Stadt von Syrakus heißt Achradina; in ihr befinden sich das Hauptforum, sehr schöne Hallen, ein herrlich geschmücktes Prytaneum, eine sehr geräumige Kurie und ein prächtiger Tempel des olympischen Zeus; die übrigen Viertel der Stadt nimmt eine breite durchschneidende Straße mit vielen Querstraßen und Privatgebäuden ein.»

Auch heute ist Achradina der merkwürdigste Teil des unabsehbaren Trümmerfeldes von Syrakus. Sie erhebt sich als Hochebene von braunem Kalkgestein, das fast überall nackt daliegt, von den Elementen durchwittert, von zahllosen Straßen, Wagengeleisen, Gräbern, Steinbrüchen, Häuserfundamenten natürlichen Steins und von Plätzen durchschnitten, ja selbst jene Via Lata kann man in ihrem Laufe noch verfolgen.

Man gelangt von der Insel zur Achradina entweder über die drei Zugbrücken der Festung auf dem Isthmus, oder zu Barke über den kleinen Hafen, wo man unterhalb des Klosters der Kapuziner landet. Denn einige kleine Kirchen und Klöster, Maria di Gesù, Santa Lucia und die Kapuzinerkirche, erheben sich auf der Hochebene in melancholischer Verlassenheit. Jenseits des Damms liegt auf einer Fläche zuerst der Brunnen degli Ingegneri, und daneben steht jene einzelne Säule, von der ich schon berichtet habe, als von dem alleinigen Wahrzeichen der alten Stadt. Da sie eine attische Basis und keine Kannelüren hat, also nicht dorisch ist, so meint Serra di Falco, sie habe vielleicht zum Tempel des Zeus gehört, welchen Hieron II. auf dem Forum erbauen ließ. Aber dem widerspricht die Winzigkeit ihrer Maße offenbar. Daß übrigens auf diesem Platz das Forum stand, lehrt das Lokal, denn keine andere Stelle eignete sich dazu besser als diese, da sie beide Städte Ortygia und Achradina verbindet. Ein fünffaches Tor führte auf dies von Arkaden umgebene Forum. Auch stand hier das Prytaneum und die Curia, wovon keine Spur anzugeben ist; und auch die sogenannte «casa de' sessanta letti», Reste eines antiken Gebäudes, führt nur grundlos den Namen Palast des Agathokles.

Mitten in Achradina und ungefähr auf der Höhe der Hochebene, liegen die höchst merkwürdigen Latomien oder Steinbrüche, welche jetzt von den Kapuzinern benannt werden, da die Mönche dort ihre Gärten angelegt haben. Denn vor ihrem Eingange steht das Kapuzinerkloster, einsam und öde, aber mit hinreißend schöner Aussicht über Syrakus und das Meer. Ringsum starrt die totenstille Wüste Achradina; es ist als hätte hier die Natur das Gorgonenhaupt erblickt und wäre in grausem Entsetzen zu Stein erstorben. Wie schön ist die Campagna des alten Rom mit ihrem ewig bunten Pflanzenteppich und ihren lieblichen Hügeln, mit ihren efeu-umgrünten Grabmälern und einsamen Türmen; das schönste Theater für das größte Epos der Weltgeschichte. Hier dagegen namenlose Verlassenheit unabsehbarer Steinflächen oder wüste Labyrinthe, welche der braune Kapuziner einsiedlerisch durchwandelt. Ich hatte viel von diesen Latomien erwartet, doch übertrafen sie jede noch so kühne Vorstellung. Ein Mönch schloß mir die Pforte auf, und plötzlich stieg ich in den ungeheuren Raum hinab, welchen Menschenhände in den Felsenboden gehauen und gemeißelt haben. Vor mir lagen Säle von der Größe kleiner Marktplätze, aus 80 Fuß hohen, senkrechten Steinwänden gebildet. Bald sind diese schwarz, bald strahlen sie im Goldgelb hellenischer Ruinen, bald überzieht sie sanftes Rosenrot. In malerischer Fülle deckt sie Efeu; er rankt um die Wände empor, dem Licht zustrebend, und hängt wieder in bacchantischen Gewinden nieder; blühendes Gesträuch füllt die Spalten, und in den Ritzen nisten Lorbeeren, Pinien und Oleander. Die Latomien waren ehemals bedeckt; man hatte natürlich Stützpfeiler stehen lassen, aber Erdbeben, Wetter und Gewicht haben diese Pilaster gebrochen und die Decken fast überall eingestürzt, so daß die Steinmassen in großartigen Gruppen umherliegen und Schluchten und Engpässe bilden wie im lebendigen Gebirge. In den nun dem Licht geöffneten Räumen haben die Kapuziner ihre Gärten angelegt; sie sind das Gegenstück zu den hängenden Gärten der Semiramis, weil sie 60 bis 80 Fuß unter der Erde liegen; und da prangen nun von dem wunderbarsten Steingehege umschlossen: Orangenbäume in seltener Fruchtfülle, Granaten mit feuerflammenden Blüten, Rebengewinde, Myrthen, Zypressen, duftige Gewächse jeder Art und die saftigsten Gemüse, welche die Mönche für ihre Tafel zu erziehen wissen. Mitten in einem dieser Gärten überraschte mich ein bezaubernder Anblick; vom dunkelsten Grün umgeben sieht man hier gerade vor sich das Kloster hoch über dem Rande der Latomien und zu beiden Seiten die efeubedeckten Steinwände riesig aufgetürmt, während darüber eine einzelne Pinie schwankt. Man vergißt beinahe, daß dieses blütenvolle Paradies einst der scheußlichste Kerker war, und daß hier, nach dem Fall des Nikias und Demosthenes, die unglücklichen Athener gefangen saßen. Viele starben bei elender Nahrung verkommend, viele raffte die Fieberluft oder Gram und Hunger hin, manche retteten die Verse des Euripides. Die Latomien konnten leicht 6000 Menschen fassen, und augenscheinlich gibt es keinen weniger entrinnbaren Kerker. Weil sie nun mitten in Achradina liegen, reichen sie in eine frühe Zeit hinauf, ehe die Stadt diese Gegend ganz einnahm. Wohl haben hier nach der Schlacht bei Himera kriegsgefangene Karthager gearbeitet und diese Räume ausgehauen, um das Material zum Bau der Häuser und Tempel von Syrakus zu liefern. Jetzt hat der Schutt den Boden um 32 Fuß erhöht, so daß ihre ursprüngliche Tiefe erstaunlich groß war. Es scheint als sei der Stein sowohl von oben herab, als in waagrechter Richtung bearbeitet worden. Man sieht übrigens noch viele galerienartige, bedeckte Gänge, Hallen mit Kammern in quadratischer Form, aber auch gewölbte Gemächer, die also nicht hellenischen Ursprungs sein können und wie die Katakomben Zeichen des Christentums aufweisen.

Geht man von den Latomien weiter hinauf durch Achradina, so sieht man überall Spuren alter Straßen und Wagengeleise wie im Steinpflaster von Pompeji. Oft laufen deren viele wirr durcheinander, wie wenn auf sandiger Flur Fuhrwerke sich gekreuzt haben. Dies ist auffallend, da der Kalkstein von Syrakus Wagenspuren nicht so leicht aufnimmt wie der Tuffstein von Rom. In der Nähe der Latomien fand ich diese Geleise besonders zahlreich, und wohl darf ich annehmen, daß sie von den Wagen eingedrückt sind, auf denen die Bausteine fort und fort zur Stadt geschafft wurden. Übrigens muß auch zur blühendsten Zeit von Achradina dieser Steinbruch einen Charakter von Wüstheit in die Physiognomie der Stadt gebracht haben, ähnlich einem großen Bauplatz, wo tagtäglich Schwärme von Arbeitern beschäftigt sind, oder einem Bagno von kettenklirrenden Galeerensklaven. Die Latomien waren die Galeeren von Syrakus. Auf Millienweite ist der Felsboden durchfurcht, und unzählig sind nun gar die viereckigen Gräber, welche in der Form unserer gewöhnlichen Erdgrüfte in den lebenden Stein gehauen sind. Was und wieviel hier der Mensch in den Stein hineingearbeitet hat, ist nicht zu sagen, denn außer den Gräbern, den horizontalen und den senkrechten, und außer den vielen Latomien erstreckten sich noch unter Syrakus jene riesigen Katakomben, welche meilenweit unterirdisch den Fels durchbrechen.

Ich sah viele Plätze von quadratischer Form, selbst Stellen für ehemalige Häuserbezirke. Die Häuser von Achradina standen auf dem nackten Fels; wie noch heute in so vielen sizilischen Städten diente dieser zugleich als Pflaster. Man mag nun stundenlang auf dem Steinfeld irren, am Meer entlang die Stelle der alten Mauer aufsuchen, westwärts gegen Tycha hingehen, wo die Stadt an diesen Teil und an Neapolis stieß und, wie es scheint, ein unbebautes Zwischenfeld lag – überall sieht man dieselben tiefen Spuren.

Es scheint unbegreiflich, wie das Material einer so ungeheuren Stadt bis auf den letzten Brocken verschwinden konnte, denn alle bewegliche Masse über dem Boden ist hinweggenommen, als hätte jene Tempel, Mauern, Türme und Arkaden ein Sturm wie Sand von der Heide gefegt. Freilich hat man jahrhundertelang davon gebaut, auch alle Festungswerke von Syrakus davon errichtet, ja selbst die modernen Städte von Ostsizilien haben sich Schiffsladungen voll von Trümmern aus Syrakus geholt, aber trotzdem erscheint eine so spurlose Vernichtung rätselhaft.

Gegen Süden senkt sich Achradina herab, und da ziehen sich nun große Austiefungen gleich Schluchten hinunter, in deren Wänden man viele Felsengräber findet; meistens Columbarien und Loculi römischen Stils. In dieser Richtung liegen auch die merkwürdigen Katakomben gegen Neapolis zu. Ihr Eingang befindet sich bei der ältesten christlichen Kirche Siziliens, der von Sankt Johann. Sie ist ein kleiner bizarrer Bau mit einer Vorhalle, deren Außenmauer drei byzantinische Boge unterbrechen. Sie ruhen auf Säulen und Pfeilerbündeln mit zusammengesetzten hochmittelalterlichen Kapitälen. Leider ist die Kirche stark verfallen. Noch älter ist ihre Krypta, worin man byzantinische Wandmalereien sieht. Zu den Katakomben selbst führt eine Pforte neben der Kirche. Wüster und ungeheuerlicher sind jene von Neapel, aber weder sie noch die römischen haben eine so planmäßige Ordnung. Man befindet sich plötzlich in einer vollkommen geregelten Totenstadt, wo ganze Völker in ihren Steinsärgen geschlummert zu haben scheinen; da gibt es zahllose Straßen und Gassen, zahllose Kammern, Nischen, Plätze und Säle, welche die Toten einst in tiefster Eintracht bewohnten, während über ihnen die Revolutionen der Lebendigen fortrasten. Wie viel an Toten täglich das Leben einer großen Stadt hinauswirft, kann man schon im heutigen Neapel wahrnehmen, und wie viele mag erst jenes volkswimmelnde Syrakus Tag um Tag in diese gähnende Unterwelt geworfen haben!

Auch diese Katakomben waren einst Steinbrüche wie alle in der Welt, dann erst wurden sie zu Nekropolen; jahrhundertelang grub man an ihnen fort, doch offenbar nach einem System. Denn alle Galerien führen von Zeit zu Zeit auf einen Mittelsaal, einen großen, runden und gewölbten Raum, welcher ringsum Nischen enthält und entweder ein oder zwei oder drei gewölbte Tore zählt. Auch hier beweist der Stil, daß die Säle nachgriechisch sind. Man hat gegenwärtig ihrer vier ausgegraben, aber im ganzen sollen es 360 sein, wie die unverbürgte Sage sagt. Man will sogar behaupten, daß die Katakomben nicht allein bis zum Fluß Sebetos, sondern bis nach Catania unter der Erde fortgehen. Alle Tunnel der modernen Welt machen sie in ihrem Ruf zunichte. Zwar bleibt ihr größter Teil, auch das untere Stockwerk, verschüttet, aber es ist doch immer schon eine Strecke von mehreren Millien in der Weite zugänglich geworden. Vor zwanzig Jahren verirrte sich dort ein Lehrer mit sechs Schülern, denen er die Wunder der Gräberstadt erklären wollte. Den Ausgang suchend, waren sie in dem schauerlichen Labyrinth lange und verzweiflungsvoll umhergeirrt und dann vor Erschöpfung und Angst gestorben; man fand sie alle beieinanderliegen vier Millien vom Eingang entfernt. Kaum möchte eine schauerlichere Todespein gefunden werden. Seither hat man in den Galerien hie und da Licht- und Luftlöcher angebracht, durch welche der zweifelnde Tag in diesen fürchterlichen Hades geisterhaft hinunterscheint. Die Breite der Gänge beträgt in der Regel 3 bis 4 m, ihre Höhe 2 bis 3 m, ihre Länge scheint unabsehbar, und so ist es ein unsagbarer Anblick, in diese langen Grabkorridore hinabzugehen, die endlos in dem falben Dämmer fortlaufen, schrecklich einförmig wie die Ewigkeit. Nur hie und da unterbrechen sie Gräbernischen, welche von alten und schauerlichen Malereien schimmern und mit Stucco in der roten Glutfarbe Pompejis bekleidet sind. Es münden in sie Gräbergassen, deren Boden Gruft an Gruft enthält, so abgeteilt nebeneinander, wie eine Leiter durch die Sprossen geteilt wird oder wie es die Wachszellen einer Honigwabe sind. Gleich einem Wurm in der Erde scheint hier der Tod gekrochen zu sein und seine labyrinthischen Gänge ausgewühlt zu haben. Geschlecht nach Geschlecht hat er in diese Schächte getragen, und Millionen sind hier vermodert. Mit Schaudern stand ich in diesen gähnenden Gassen und fühlte die ganze grenzenlose Tiefe der Nacht, über die unser winziges Menschenleben grausam hingestellt ist und zitternd schweben muß. Nicht Schädel, nicht Knochen sind mehr zu sehen; wo sie geblieben, weiß ich nicht zu sagen. Alles ist hohl und leer und still wie das Nichts. Die Zeit, welche die Werke des Lebens oben auf Achradina spurlos vertilgt hat, hat hier unten selbst den Tod getötet. Griechen, Römer, Christen sind hier nacheinander aufgehäuft worden. Man hat hier ebensowohl heidnische Idole, kleine Bronzen, Lacrimarien, als christliche Totensymbole gefunden. Ein hier ausgegrabenes Relief, die zwölf Apostel darstellend, bewahrt jetzt der Dom von Syrakus. Doch, mit welchen Formeln und Zeichen man auch Gott und den Tod bekleide, er ist immer ein und derselbe. Daß auch in der vorchristlichen Zeit die ältesten Einwohner dieser Gegend hier schon ihre Toten bestattet haben, behauptet man, und wohl mit Recht, denn auch in der Troglodytenstadt von Ispica finden sich Gräber im Gestein. Solcher Gebrauch ist uralt, wie in Ägypten und Indien, so selbst in dem vorgeschichtlichen Amerika.

Wo Achradina gegen Neapolis grenzt und sich so viele hochmerkwürdige Denkmäler beisammen drängen, sieht man über dem alten Theater die antike Gräberstraße und hie und da zerstreute in die Felsen gehauene Grüfte griechischer Zeit. Die Gräberstraße selbst ist ein in den Felsen getriebener Hohlweg von zwanzig Fuß Breite und ebensolcher Höhe der Wände; tiefe Wagenspuren durchfurchen den Boden. Zu beiden Seiten reiht sich in den senkrechten Wänden Grab an Grab; sie alle sind in den Fels gehauen und enthalten Gruftkammern von verschiedener Größe und Einteilung. Außerhalb sieht man noch die Stellen, in denen einst die Grabinschriften eingesetzt gewesen sind. Die architektonische Ausschmückung dorischen Stils, welche in der Regel aus einem auf kannelierten Säulen ruhenden Fronton bestand, fehlt überall, doch ist sie in ihren Spuren kenntlich. Denkt man sich nun diese Gräberstraße mit all ihren Monumenten in ursprünglicher Form, so hat man eine Reihe von kleinen Tempelfassaden zu beiden Seiten des Wegs, doch durchbrochen von kleineren und ärmlichen Grüften, denn diese Grabstätte außerhalb der Mauer von Achradina scheint von allen Ständen benutzt gewesen zu sein. Schwerlich hat sie den schönen Eindruck der Gräberstraße von Pompeji gemacht, denn die Wände haben etwas ungemein Starres, ägyptisch Gezwungenes und Einförmiges. Überhaupt ist die ganze Gegend, wo Achradina, Tycha und Neapolis aneinander grenzen und, wie es scheint, ein Feld zwischen ihnen neutral ließen, voll von Grüften über der Erde. Ihre große Anzahl, da man kaum einen Schritt tun kann, ohne auf ein Felsengrab zu stoßen, und da überall am catanischen Wege mehr als eine deutsche Meile weit Gräber sich hinziehen, erinnert jetzt mehr als jedes andere Altertum an die ehemalige Größe von Syrakus.

Einige dieser Grabmäler fallen durch ihre reichere Architektur und ihre höchst malerische Vereinzelung besonders auf; sie lassen darauf schließen, daß ausgezeichnete Personen oder Geschlechter in ihnen bestattet lagen. Es war in derselben Gegend auch das Grab Gelons und seiner Gemahlin Demarata, welches das Volk von Syrakus mit großer Pracht errichtet hatte. Doch hat man seinen Ort noch nicht entdeckt. Vor allen andern fesseln zwei Felsengräber die Aufmerksamkeit. Sie befinden sich nicht weit voneinander entfernt in der Gegend eines kleineren, höchst merkwürdigen Steinbruchs, wo auf dem gelben Felsboden zahllose Gräber zerstreut liegen und ein Arm der alten Wasserleitung von Tycha die traurige Steinwüste durchrieselt. Sie sind in bizarr gestaltete Felskegel eingehauen, die stufen- oder terrassenförmig ansteigen und zeigen, daß ehemals aus ihnen Bausteine gesprengt wurden, denn ihre Form ist durchaus unregelmäßig und zufällig. Von außen ist in den ansehnlichsten dieser Felsblöcke ein dorisches, jetzt halb zerstörtes Frontispiz eingehauen; es ruhte auf zwei kannelierten Säulen, von denen nur die eine ganz erhalten ist. Auch der Architrav und Fries mit Triglyphen und Metopen ist größtenteils noch kenntlich. Aber obwohl die Architektur dorisch ist, weicht sie doch vom hergebrachten System ab, da sowohl Aufgiebelung als Säule sehr hoch erscheinen. Schon daraus ergibt sich die spätere Zeit des Grabmals, welches vom Volk nun einmal mit ehrender Pietät «Grab des Archimedes» genannt wird, freilich mit demselben Recht, mit dem die Agrigentiner ein altes Monument das «Grab des Theron» nennen.

Es ist bekannt, daß der große Mathematiker auf seinem Grab eine Säule zu errichten und auf ihr das Verhältnis des Zylinders zum Kegel anzugeben befahl, als rühmliches Gedächtnis an seinen Lieblingslehrsatz. Als nun Cicero während, seiner Quästur in Syrakus Nachforschungen nach dem Grabe des Archimedes anstellte, leiteten ihn glücklich diese Merkmale, und nach langem Bemühen fand er im Dickicht jene Stelle und jene Inschrift in Senarien. Der Römer war nicht wenig erfreut; stolz auf diese Entdeckung ruft der eitle Mann aus: es sei des Schicksals Wille gewesen, daß die Grabstätte des großen Syrakusers der Mann von Arpinum wieder habe auffinden sollen. Damals waren seit der Eroberung von Syrakus durch Marcellus nur 150 Jahre verflossen, und dennoch war die Stadt schon so verödet, daß selbst das Grab ihres größten Bürgers unter Dornen und Disteln verschollen lag. Cicero aus Rom, unter dem Schutt und Wildwuchs der Pflanzen nach Archimedes' Grab suchend, geführt von syrakusischen Ciceroni und der Stadttradition, machte also schon damals so gut die Figur eines Archäologen wie irgendein heutiger Altertumsforscher und gelehrter Maulwurf aus Bonn oder Berlin.

Wir müssen auf das Grab des Archimedes verzichten; einst wird man ja auch vergebens die Stätte suchen, wo Humboldts Denkmal stand. Aber es schweben die Namen unsterblicher Menschen ewig unausgelöscht in der Zeit, und schön ist das Wort des Perikles in der Leichenrede auf die gefallenen Athener: «Der großen Menschen Grabstätte ist die Welt!» Das Geheimnisvolle dieser syrakusischen Gruft, welche die Erinnerung an ein großes Genie umschwebt, ist unendlich reizend, zumal in dieser menschenöden, lichtdurchflimmerten Wüste gelben Steins. Sitzt man so in der Stille des gluthauchenden Mittags oder im Schweigen des purpurnen Abends, in starrer Wüste, bald in dädalische Labyrinthe, bald in hundert und aberhundert gähnende Steingräber blickend, da wird alle Phantasie ums traurige Herz los, und es steigen Schatten herauf wie einst die vor dem Ulyß im Hades, Schatten größerer Menschen als unser Geschlecht ist, heiliger Geschwisterseelen von dem geliebten Lande Hellas. Ich sah diese schweigenden, ehrwürdigen Gräber manchmal belebt: es lagen auf ihren Stufen Kinder und Männer vom elendesten Aussehen, mit fiebergelben Gesichtern, Mumien gleich, mit wirren Haaren und brennenden Augen, und in zerlumpten Kleidern; da las ich in ihnen die Geschichte des heutigen Siziliens, die Greuel des bourbonischen Polizeistaates und des alles in Moder umwandelnden Pfaffentums, und nicht wehrte ich meiner bekümmerten Seele einen ganz unhellenischen Fluch auszustoßen. Wann kommt die Zeit, da dieses herrliche Land einmal erlöst wird! «Que Dieu la rende aux Muselmans!» Es wäre ein neuer Archimedes not mit zahllosen Wurfmaschinen und Brennspiegeln, um gegen diese Heuschreckenschwärme von Pfaffen zu Felde zu ziehen, welche ganz Sizilien überdecken.

Doch nun will ich mit den Gräbern enden. Nicht allzuweit von jenen kommt man zu einem Feldgarten mit Ölwuchs und Rebenzucht; da liegt in beneidenswert klassischer Wildnis unser Landsmann Platen begraben. Als ich an seinem Grabe stand und auf die Stufen des Denkmals einen Kranz von Weinlaub legte, fielen mir auf einmal in dieser klaren, heitern, hellenischen Luft alle jene Beziehungen Platens zu Heine in die Erinnerung, und sie versetzten mich plötzlich in die unerquickliche Literaturatmosphäre des Vaterlandes, in jene überreizte, falsche, unmännliche, jüdische oder jüdelnde Zeit, welche unserer Dichtung so viel Unheil gebracht und ein entnervtes, gott- und wertloses Geschlecht allerwegen miterzeugt hat. Wie anders ist das Schicksal Heines, wie anders Platens! Hätte jenem ein Gott gegeben zu sagen, was er leide, und nicht bloß zu sagen, wie er sich und die Menschheit frech und knabenhaft verhöhne, er wäre ein Heros dieser Periode geworden. Unendlich war er dem armen Platen an Talent überlegen! Und doch erlebte es der erbitterte Feind Platens noch, daß man diesem eine öffentliche Statue errichtet! Dies ist die Macht der Form! Und was sie sei, begreift man vielleicht erst ganz im Süden. Es war der glücklichste Gedanke Platens, in Syrakus zu sterben. Kurz vor mir war der König von Bayern am Grabe des Dichters gewesen, wie mir der Gartenwächter erzählte; er hatte zugesagt, das Grab, welches schon zerfällt, wiederherstellen zu lassen. «Augusto Comiti Platen Hallermunde. Anspachiensi. Germaniae Horatio», so lautet die kühne Inschrift, die ihm der Ritter Landolina setzte. Hat der kalte Künstler Platen es verdient, so einsam hier zu liegen unter den Toten von Syrakus, unter Hieron und Gelon, Archimedes und Timoleon, als der einzige Repräsentant desjenigen Volkes, welches wie kein anderes mit den Hellenen vertraut ist? Ja diese wilde Stätte dünkte mich das schönste Dichtergrab der Erde, beinahe dichterischer als die heiligen Zypressen an der Pyramide des Cestius, welche das Grab Shelleys beschatten, eines der letzten Poeten von Gottes Gnaden, die in unserem jüngeren Geschlecht erschienen sind.

So muß man die Götter um dreierlei Gnade bitten: schön zu leben, schön zu sterben, schön begraben zu sein.


 << zurück weiter >>