Ferdinand Gregorovius
Wanderjahre in Italien
Ferdinand Gregorovius

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Unter der Herrschaft der Rovere wurde hier ein merkwürdiger Mann geboren, Cäsar Baronius, die letzte Berühmtheit jener Landschaft. So entzückend, melodisch und träumerisch sind jene Ufer des pappelreichen Liris, daß es uns wundernimmt, warum hier nicht irgendein poetisches Genie, ein Horaz, oder Ovid, oder Ariost, seine Wiege gefunden hat. Jedoch diese Fluren erzeugten Kriegsmänner, endlich Redner, und freilich für Rhetoren sind sie immerhin vorbildende Umgebungen von unerschöpflicher Naturberedsamkeit im Wechsel der Bilder und Tropen.

Cäsar Baronius wurde am 31. Oktober 1538 geboren. Er ist der Muratori der Kirche, deren Annalen (von Christi Geburt bis zum Jahre 1198) er geschrieben hat. Ihr erster Band erschien im Jahre 1588, ein Werk riesiger Mühe, vatikanischen Materials, unschätzbar an Stoff, in vielen Partien, namentlich in den dunkeln Jahrhunderten des Mittelalters, unbrauchbar und lückenhaft, weil ihm damals noch nicht die Quellen zu Gebot standen, die der Wissenschaft heute geöffnet sind – an Geist unfrei und ungerecht, geschrieben unter der Erbitterung der großen katholischen Reaktion gegen die Reformation. Von seinen Landsleuten, jenen Rednern, hatte Baronius kein attisches Salz, keine Urbanität, nicht den Geist philosophischer Diskussion, nicht die Sprache geerbt. Tullianisch kann man an ihm nur die Breite nennen. Aber er besitzt eine gewisse Großartigkeit, welche um so größer erscheint, weil die Leistungen seiner Fortsetzer Rainaldus, Laderchius und Theiner so tief unter ihm geblieben sind. Er hatte seine Schule in Veroli empfangen, dann in Neapel studiert; in Rom wurde er der eifrigste Schüler des wunderlichen Heiligen Filippo Neri, in dessen Oratorium S. Maria della Vallicella er auch als Mönch sein Leben zubrachte. Er wurde Kardinal; die Papstkrone schwebte über ihm nach dem Tode Clemens' VIII., aber der nicht ehrgeizige Mann setzte sie seinem Freunde Leo XI. Medici aufs Haupt. Nach zwei Jahren starb er am 30. Juni 1607 und ward begraben in jener Kirche der Väter des Oratoriums zu Rom. Er bleibt ein Stolz der Wissenschaft der Kirche und seine Arbeitskraft ewiger Bewunderung wert.

Ich fordere den Leser auf, den Blick nach jenem hohen uns noch sichtbaren Veroli umzuwenden, von dem wir den Ausgang genommen haben. Wer weiß oder hörte nicht von einer berühmten italienischen Schrift «Von der Wohltat Christi»? Im Jahre 1542 in Venedig erschienen, in zahllosen Exemplaren, in Übersetzungen verbreitet, war dieses Büchlein schon nach dreißig Jahren spurlos verschwunden, von tausend geschäftigen Händen beiseite gebracht, von tausend Scheiterflammen verzehrt. Wir erlebten es in den vierziger Jahren, daß plötzlich in einer Bibliothek zu Cambridge ein Exemplar davon gefunden wurde; nun ist es in England, in Deutschland und Italien wieder gedruckt. Aonio Paleario aus Veroli war der Verfasser dieser berühmten Schrift, und ich wende nun die Gestalt dieses Mannes jener des Baronius entgegen, seines jüngeren Zeitgenossen, fast seines Landsmannes, da nur zwei Stunden Wegs ihre Städte trennen. Paleario starb nicht als Kardinal, er endete nach dreijährigem Inquisitionskerker am Galgen und wurde auf dem Scheiterhaufen im Jahre 1570 verbrannt.

Wir begreifen heute kaum, wie ein Mann hingerichtet werden konnte, weil er mit der Inbrunst eines Heiligen die Rechtfertigung durch den Glauben an Christum lehrte; aber wenn in späteren Jahrhunderten ein glücklicheres Menschengeschlecht diese fromme, nur auf die Lehren des Evangeliums gegründete Schrift wieder lesen wird, so möchte es an der Wirklichkeit der Tatsache zweifeln, daß sein Autor dafür von Christen selbst konnte mit dem Tode bestraft werden. Es war die Zeit, wo auch Carnesecchi, der Freund Clemens' VII., hingerichtet wurde, die Zeit der italienischen Reformatoren, der Juan Valdez, Bernardino Ochino, der Vergerii, Paolo Ricci, Antonio Flaminio, die Zeit, wo auch die Kardinäle wie Contarini, Morone und Pole vor die Inquisition geladen wurden. Die Flammen des Scheiterhaufens, die einen Aonio verbrannten, haben den Geist des Baronius erhitzt, und seine Annalen der Kirche sind angeflackert von solchem Schein, denn unter ihrem Lichte schrieb er sie.

Die Stadt Sora war gerade von Militär erfüllt, wie alle Orte der neapolitanischen Grenze, um welche ein Soldatenkordon gezogen ist. Gebirgskanonen standen auf einem der Plätze, Lanzenreiter sprengten daher, und kurz vor meiner Abreise rückte das 7. Linienregiment aus Capua ein, welches die Straßen mit Bajonetten erfüllte. Ich fand, daß die Infanterie sehr gut und besser als die Reiterei aussah, namentlich bemerkte ich unter den Offizieren manche blühende Gestalt. Die Kleidung der Kavallerie wie der Infanterie ist durchweg von blaugrauer Leinwand, was ein trauriges Ansehen gibt. Die vielen funkelnden Bajonette, die mohrenhaft verbrannten Gesichter, der dichte weiße Staub auf allen Kleidern, das Drängen in die Quartiere und das Kommandorufen gaben ein kleines kriegerisches Bild, und so war ich denn hier allerdings auf die «question romaine» gestoßen. Diese Truppen marschierten nach den Abruzzen. Wenn sie eine Vorstellung von einem Feinde haben, so verkörpert sie sich in der Person Viktor Emanuels und Garibaldis. Die verschiedenartigsten Berichte kreuzten sich hier; man wußte sich zu erzählen, daß Garibaldi bereits in die Abruzzen eingefallen sei; andere versicherten: die Franzosen bewegten sich durch Latium gegen Ceprano. Die völlige Absperrung Neapels, die Unterdrückung der Zeitungen und Nachrichten begünstigten und begünstigen noch diese aufregenden Gerüchte, um so mehr, als die militärischen Maßregeln völlig nach Krieg aussahen.

Ich traf auf meiner Weiterreise überall marschierende Truppen, aber ich traute meinen Augen nicht, als ich bei der Heimkehr von Arce ab bis fast an die Brücke von Ceprano auf der friedlichsten Heerstraße wirkliche Vorposten aufgestellt fand, als stände der Feind schon an der Grenze. Diese ängstlichen Vorsichtsmaßregeln erregten lautes Gelächter im Römischen. «Ihr könnt nicht denken», so sagte man mir in Ceprano, «wie groß die Furcht der Neapolitaner vor Garibaldi ist; wir haben vor einigen Tagen hier ein Kirchfest gefeiert und, wie üblich, ein paar Böller abgebrannt und Raketen steigen lassen – was tun diese Neapolitaner? Sie blasen und trommeln gleich Alarm in Arce und Isola.» – «Was meint Ihr», so sagte mir ein Römer, «von diesen Neapolitanern? Wenn wir nur 500 Mann irgendwo in ihr Land hineinwerfen, so reiten sie mit Hurra durch ganz Neapel, ma bisogna che sieno buoni parlatori, sapete (aber sie müssen tüchtige Schwätzer sein», eine Phrase, die echt italienisch ist und dasjenige freilich trifft, was not tut.

Die Kriegswolke hatte sich in die Quartiere verzogen, und ich setzte mich auf einen Schnellfahrer, um in die Vaterstadt des Marius zu fahren. Wie toll rannte dieses winzige Fuhrwerk davon und warf gleich an der Brücke ein Weib um; ich schrie auf, doch glücklicherweise erhob sich die arme Frau sogleich, und mein Wagenlenker jagte wieder fluchend und das Tier peitschend davon. Um von Sora nach Arpino zu fahren, muß man die Straße bis hart vor Isola wieder zurücklegen. Wir nahmen hier zwei Herren aus Arpino auf; solange nun unsere Fahrt dauerte, waren sie sehr gesprächig, obwohl ich jedem politischen Gegenstand auszuweichen suchte; sobald wir aber ihre Stadt erreicht hatten, kannten sie den Fremden aus Furcht nicht mehr.

Nahe bei Sora kamen wir an der einst berühmten, nun verfallenen Klosterkirche S. Domenico vorbei. Sie liegt auf einer Insel des Fibrenus oder Carnello, wie der Fluß genannt wird, kurz vor seiner Mündung in den Liris, an einem wahrhaft entzückenden baumreichen Ort. Hier stand die Villa Ciceros, wo er und sein Bruder Quintus geboren wurden.

S. Domenico war ein Heiliger des 10. Jahrhunderts, ein Zeitgenosse des S. Nil und Romuald. Im Jahre 951 zu Foligno geboren, wurde er Benediktiner in Monte Cassino unter dem Abt Aligern; er stiftete dann viele Klöster in der Sabina, und auf Bitten des langobardischen Grafen Petrus von Sora dieses Kloster um das Jahr 1011. Die Urkunde seiner Stiftung lesen wir noch. Dominicus war hier Abt, und unter ihm lebte hier als Benediktinermönch Gregor VII., wie wenigstens die Tradition behauptet.

Oft mag dieser wunderbare Mensch in träumerischen Betrachtungen auf dieser schönen Insel Ciceros unter den Flüsterpappeln gesessen, aber wohl niemals geträumt haben, daß einst ein Kaiser im Büßerhemd an seiner Türe stehen werde, und daß seiner in Rom, ja in der Weltgeschichte eine größere Aufgabe warte, als sie Marius oder der schwache Cicero gehabt hatten. Trotz der Erinnerung an Gregor lösten die Mönche von S. Domenico später ihre Zucht in Wohlleben auf, verführt durch die Sirenenstimmen einer zu schönen Natur; denn es ist gefährlich, Mönche, statt auf rauhen Bergen, wie Benedikt es tat, im Paradies der Ebene anzusiedeln. Honorius III. vereinigte daher im Jahre 1211 S. Domenico di Sora, den «hortus deliciarum», wie er ihn in seiner Bulle nannte, für immer mit Casamari. Fünf Jahrhunderte lang blieb das Kloster geschlossen, bis Clemens XI. Trappisten dorthin schickte; sie vereinigten sich mit denen von Casamari. Der König Ferdinand II. schenkte endlich S. Domenico dem Kapitel der vatikanischen Basilika, die gegenwärtig eine kleine Rente davon bezieht.

Die gotische Kirche liegt in Trümmern, und das Kloster hat nichts Merkwürdiges mehr; nur die Erinnerung an Cicero macht es zu einer Stelle, an der man gern verweilt.

Hier war es, wo Cicero, Quintus und Atticus das Gespräch führten, welches wir als die drei Bücher «De legibus» besitzen. Sie wandern spazierend von Arpinum nach dem Fibrenus, sie gelangen nach der «insula quae est in Fibreno», sie wollen hier sitzend weiterphilosophieren. Atticus wundert sich über die Schönheit des Orts, und Cicero, welcher bemerkt, daß er hier gerne nachdenke, lese oder schreibe, sagt ihm: er habe außerdem noch einen besonderen Reiz für ihn, denn er sei seine eigene Wiege: «quia haec est mea et hujus fratris mei germana patria; hinc enim orti stirpe antiquissima, hic sacra, hic gens, hic majorum multa vestigia.» Schon sein Großvater, so erzählt er, habe dieses Landhaus besessen; sein kränklicher Vater, der es vergrößert, sei dort in den Studien alt geworden. Beim Anblick seiner heimischen Stätte gesteht Cicero, daß ihn das Gefühl überschleiche, welches Odysseus gehabt, da er den Anblick Ithakas der Unsterblichkeit vorgezogen. Er bekennt, daß Arpinum seine Heimat als civitas sei, daß er aber dem arpinatischen Ager angehöre, und Atticus malt nun die schöne Lage der Insel in den Armen des Fibrenus, welcher das Wasser des Liris erfrische und so kalt sei, daß er es kaum mit dem Fuß berühren dürfe. Sie sitzen nieder, um sich über die Gesetze weiter zu unterhalten, und wir sehen lieber der Gruppe dieser drei Männer von römischer Urbanität und feinster Bildung in ihren Togen zu, als jener Gesellschaft von Mönchen in Kutten, da Gregor VII. neben einem Heiligen mit verwildertem Bart sitzt, im 11. Jahrhundert, der Zeit der tiefsten Barbarei Roms. Wie wurden ein Cicero, Atticus und Quintus die Menschen des 11. Säkulum von Rom angestarrt haben!

So umstanden die Wiege Ciceros die redseligen Pappeln des Fibrenus. Ja, eine recht beneidenswerte Geburtsstätte hat Cicero gehabt; aber was hilft's denen davon zu reden, die nicht selbst einen Blick in dieses nymphäische Land eines ewigen Frühlings werfen können? Ringsumher, welches Panorama von Bergen, die braun oder hyazinthfarbig in stiller Majestät sich in die Fernen verlieren! Cicero war ein Kind der Ebene, nicht des Gebirges; sein großer Verstand sammelte in sich wie ein breiter Strom die Bäche des Wissens seiner Zeit auf; aber Marius war ein Sohn des Bergs, oben in Arpinum auf den Mauern der Zyklopen geboren, und dahin wollen wir uns nun aufmachen.

Ich habe selten einen so unruhigen und geschwätzigen Boden durchzogen als diese ciceronische Heimat, denn überall hier Quellen, Kanäle, reißende Bäche, bald blau, bald grün, bald milchweiß, dazu das Klappern von Mühlrädern, das Rufen der Arbeiter, und unser wie proskribiert und auf der Flucht toll dahinschießender Char-à-banc. Über lachende Fluren, immer an Kasinos, an Gärten ging es eine Zeitlang fort, dann verließen wir das Fibrenustal, und die gute Straße stieg bergan. Neue Blicke auf die ferne Campagna Roms und die Ebene von Pontecorvo in hinreißender Mannigfaltigkeit.

Die Fahrt von Sora nach Arpino beträgt sieben Millien; vier davon fährt man aufwärts über ein ölreiches Bergland, tief unter sich den Liris. Der Anbau wird auf der Höhe sparsamer, und nur selten steht am Wege ein Landhaus.

Ich erreichte endlich auf der im Zickzack fortgehenden Straße Arpino um ein Uhr nachmittags und fuhr durch das alte römische Stadttor ein.

Die Vaterstadt des Cicero und Marius zählt heute 12 000 Einwohner. Ihre Straßen sind eng, ihr Platz ist klein, an palastähnlichen Häusern fehlt es nicht. Indes alles sieht hier abgestorben aus. Die Städte im Römischen pflegen altertümliche Kirchen auszuzeichnen; Arpinum hat deren keine, obwohl die Kathedrale einst ein Tempel der neun Musen gewesen ist. Nun gehört sie den neun Engelchören, denn so vieler massenhafter himmlischer Musik und so vieler Musikanten bedurfte es, um die süßredenden heidnischen neun Jungfrauen vom Olymp durch das Christentum zum Schweigen zu bringen.


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