Ferdinand Gregorovius
Wanderjahre in Italien
Ferdinand Gregorovius

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Wir eilten nach dem nahen Scurgola hinauf. Dieser kleine Ort bedeckt mit wüsten labyrinthischen Gassen den Abhang eines Felsens, dessen natürlicher Stein zum Teil als Straßenpflaster dient. Auf seiner Höhe steht die Hauptkirche S. Maria, angelehnt an die alte jetzt verfallene Burg mit einem Rundturm. Die Orsini erbauten sie, wie man mir sagte, dann gehörte sie den Colonna, die noch Barone von Scurgola sind. Efeu umwindet Mauern und Portal, dessen Wappenschild keine erkennbare Gestalt mehr hat.

Ganz Scurgola ist wie das Monument jener einen Schlacht. Mit Verwunderung liest man die historischen Namen dieser schmutzigen und engen Gassen: Via Carlo d'Angio, Via Corradina, Via Ghibellina. Selbst die Bewohner erscheinen wie lebendige Traditionen dieses Ereignisses; es ist ihr lokaler Ruhm und Stolz. Nur deswegen besuchen Fremde Scurgola. Wie in Benevent die Erinnerung an die Manfred-Schlacht nicht erloschen ist, so weiß in Scurgola jeder von Konradin. Jeder gebildete Scurgolaner scheint die Geschichte seines Unterganges bis in die kleinsten Einzelheiten zu kennen und könnte zum Führer für den Fremden dienen. Ein freundlicher Kanonikus führte uns in die Kirche. Sie hat noch ein gotisches Portal aus der Zeit der Anjou, ist aber im Innern ganz erneuert. Der Geistliche zeigte uns als größten Schatz seines Heimatortes eine Madonnenfigur, welche Karl in S. Maria della Vittoria gestiftet hatte, und er beschenkte uns auch mit einer Zeichnung davon. Die Figur ist von Holz, übergoldet, eine sitzende Gestalt; sie hält das Kind auf den Armen, welches die Weltkugel in der Hand trägt. Es ist eine keineswegs barbarische Arbeit, wohl eher in Italien gefertigt als in Frankreich, wie das die Tradition in Scurgola angibt. Man fand die Statue unter den Trümmern jenes Klosters im Jahre 1757 und trug sie dann in die Kirche des Orts. Mit barbarischem Geschmack bekrönte man bei dieser Gelegenheit beide Köpfe mit goldenen Flitterkronen. In der Sakristei wird auch der hölzerne Schrein dieser Figur aufbewahrt. Er ist mit den Lilien der Anjou geschmückt und mit noch wohlerhaltenen, sehr bemerkenswerten Bildern feinster Ausführung ausgestattet, welche die Kreuzigung Christi und andere biblische Szenen darstellen.

Von der Burg und der Kirche herabsteigend wanderten wir noch im unteren Teile der Stadt umher, ob wir etwas Merkwürdiges entdecken möchten. Ein kleiner Platz mit der Aufschrift Piazza del Municipio erregte unsere Aufmerksamkeit, zumal durch das Wappen des bescheidenen Stadthauses, worauf geschrieben steht: «Domus Universitatis Scurculae.» Es enthält das Abbild einer Brücke und fünf Lilien. Der Bürgermeister des Orts, ein stattlicher alter Mann mit langem grauen Bart, erklärte mir, daß dieses Wappen von dem Castrum S. Mariae in Pontibus herstammen welches die Tempelherren einst an der Saltobrücke besessen hatten; es muß dies also das Castrum Pontium gewesen sein, wo Konradin lagerte.

Der Bürgermeister und andere Herren ergingen sich in Bewunderung der deutschen Heldenschlachten, denen eben das große Frankreich erlag, und wir überdachten in erregter Stimmung den Zusammenhang von Vergangenheit und Gegenwart, die Größe und den Fall unseres alten Reiches in der Hohenstaufenzeit, die langen Leiden und Kämpfe unseres Vaterlandes, die darauf folgten: das Erwachen Barbarossas in unseren Tagen, die späte Erfüllung der deutschen Messiashoffnung, das Wiedererstehen des Reichs der Hohenstaufen in den Hohenzollern. Was Heinrich VI. vergebens erstrebt hatte, die Einheit Deutschlands unter einer erblichen Dynastie, das ist nun nach mehr als 600 Jahren erreicht worden. Die Hohenstaufen gingen unter, weil sie sich von dem nationalen Boden losrissen und den Schwerpunkt des Reichs in das fremde Italien verlegten, wie noch später Dante in den Träumen von der römischen Weltmonarchie befangen. Noch der edle Heinrich VII. büßte denselben Cäsartraum durch ein italienisches Grab. Welche Kämpfe und Revolutionen im Meinen und Denken, in der Politik und Religion der Völker mußten erst durchgekämpft werden, ehe dieses römische Kaiserprinzip überwunden werden konnte, ehe vor dem Angesicht des belagerten Paris, in dem Versailler Schlosse Ludwigs XIV., das deutsche Nationalreich verkündet werden konnte! «Es muß das unschuldig vergossene Blut Chunradini allerweilen gerochen werden», so sagte noch zur Zeit Karls V. Reißner, der Biograph Frundsbergs. Das Blut Konradins ist gerochen für alle Zeit; auch die Sünden der Hohenstaufen an diesem Land Italien (wenn man nach den Rechtsbegriffen jener Zeit überhaupt von solchen reden kann) sind alle gesühnt. In Verklärung stehen die großen Schwabenkaiser auf den Gipfeln unserer Geschichte, deren glänzendste Heldengestalten sie bleiben werden, solange das deutsche Erinnern dauert.

Ich denke, keinem Deutschen war es je zuvor vergönnt, mit so gehobenen Gefühlen auf dem Schlachtfeld Konradins zu stehen, als uns beiden am dritten Pfingsttag des Jahres 1871. Mit welchen Empfindungen würde heute der ehrwürdige Raumer diese Palentinische Ebene betrachten, die er im Jahre 1817 durchforscht hat, zwei Jahre nach der endlichen Niederwerfung des ersten Napoleon. Wie fern lag damals ihm, der uns das Nationalwerk der Geschichte der Hohenstaufen liefern sollte, der Gedanke, daß er im Patriarchenalter den Sturz noch eines Napoleon und die Wiederherstellung Deutschlands zu einem nationalen Reich und zur ersten Macht der Welt erleben sollte!

So lange Unbill, so viel Hohn und Schimpf, Zerstückelung und Verwüstung erlebte unser Vaterland durch Frankreich seit den Zeiten der Anjou; in so lange Ohnmacht waren wir durch unsere eigene Zerrissenheit und jammervolle Schwäche versunken, daß uns heute wohl erlaubt sein darf, unser Haupt voll Nationalstolz aufzurichten. Vom Palentinischen Felde Scurgolas sei darum ein Jubelgruß dem Vaterlande dargebracht, dem ehrwürdigen neuen Kaiser vom Stamm der Hohenzollern, dem Wiederhersteller des Reichs, und allen den Männern des Geistes und des Schwerts, die uns dieses Deutsche Reich so heldenhaft errungen haben. Ihre Namen und Taten werden von Geschlecht zu Geschlecht und bis zur Mythe hinüberwandern, und wie auf dem Felde von Scurgola noch nach langen Jahrhunderten Enkel vergangenen Heroenzeiten nachsinnen, so werden solche einst auch mit Hochgefühl auf den Feldern von Wörth und Metz, von Sedan und Paris der großen Zeiten gedenken, wo das freie, einige Deutschland heiß erstritten worden ist.

Da ist Tagliacozzo! Ein aus der Ferne finster aussehender Ort mit der verfallenen Burg der Colonna auf dem Felsen droben, dicht zusammengedrängt und über mächtig ausstrebendem Bergrücken hingelagert. Einen Steinklumpen glaubten wir zu betreten, als wir durch das große stattliche «Marsentor» einfuhren, und erstaunten dann, einen freundlichen Platz mit schönem Brunnen vor uns zu sehen, umstellt von malerischen Gebäuden mit Logen oder mit gotischen Fenstern, oder von Renaissancepalästen. Wir kehrten in einem Gasthaus ein, dessen palastähnliche Dimensionen, wie überhaupt die ganze großstädtisch aussehende Straße, uns in Verwunderung setzten. Hier müssen im 15. und 16. Jahrhundert reiche Familien unter dem Lehensschutze der Colonna geblüht haben. Einen Gastfreund hatte ich dort, einen Patrizier Tagliacozzos, der mich in Rom oft eingeladen hatte, ihn in seiner Heimat zu besuchen. Dieser Herr war leider verreist, aber wir fanden vor des Apothekers Türe seinen Neffen, einen jungen Mann, der nun mit Freuden die Rolle seines Oheims übernahm. Seiner Güte verdanken wir es, daß wir alles Sehenswürdige dieses Ortes kennenlernten. Er heißt in Urkunden Taliacotium, eine alte Stadt der Equer oder Cicolaner. Da man nun im Vulgär daraus Tagliacozzo machte, so erfand man das wunderlichste Stadtwappen: zwei Ritter, die ein Wams durchschneiden. So sah ich dieses Wappen im Gemeindehaus, welches sich in einem alten verlassenen Kloster eingenistet hat.

Herr B. führte uns in mehrere altertümliche Kirchen und endlich in den Palast Colonna, ein burgähnliches Gebäude, dessen obere Teile noch den gotischen Stil des 14. Jahrhunderts an den Fenstern zeigen, während das Portal aus der Renaissancezeit stammt. Das Wappen Aragons gibt zu erkennen, daß der Bau orsinisch ist, da mehrere Orsini in die Familie der Aragonen von Neapel aufgenommen waren. Dieses Schloß baute vielleicht Johann Jordan Orsini, der Feind Cesar Borgias; er nannte sich de Aragonia, Conte di Tagliacozzo. Erst im Jahre 1499 fällte der König Federigo von Neapel das endgültige Urteil, daß Tagliacozzo und Alba und die Baronie Carsóli den Colonna gehören sollten. Wie fanden im Innern großartige Säle mit alten Familienbildern, deren Namen niemand mehr zu sagen weiß. Fromme Schwestern haben jetzt dort Schulen für Töchter der unteren und besseren Stände eingerichtet. Wir verwunderten uns über die Jugend, die Anmut und die feinen Weltformen zweier dieser «Schwestern», die aus Piemont nach Tagliacozzo gekommen waren. Sie zeigten uns bereitwillig die Räume des Palastes, worunter die Kapelle mit alten Fresken sehenswert ist. Diese Gemälde, dem 15. Jahrhundert angehörig, sind stark übermalt. Eins ist eine vortreffliche Verehrung der Jungfrau und des Kindes. Auch die Loggia des Palastes ist sehenswert. Solche Logen mit einer Aussicht in die freie Natur pflegen nirgends in Baronalpalästen zu fehlen. Ich sah viele ähnliche. Die von Tagliacozzo erinnerte mich ganz und gar an die Loge des colonnischen Palastes in Genazzano, worin die Städte abgemalt sind, welche diese Familie besaß. Die Loggia dieses Schlosses öffnet sich gegen den Monte Velino hin. Sie ruht auf korinthischen Säulen. Auf den Wänden sind Freskobilder toskanischen Stils gemalt, Einzelfiguren von römischen Kaisern und Feldherren; auch Ovidius, in roten Gewändern, fast wie ein Kardinal anzusehen.

Wir besuchten zum Schluß und auf ausdrückliches Verlangen der «Schwestern» ihre Töchterschule, deren Lokal einer der großen Säle ist. Da mußten wir mit Inspektormienen Schreibhefte durchsehen, welche herbeizureichen diese Kinder nicht müde wurden, und auch einem geographischen Examen beiwohnen. Keine bessere Bestimmung kann so ein altes Baronalschloß heute finden als die einer Schule. Volksschulen tun in Italien not; sie allein werden die tiefe Unwissenheit und auch die Unmoral zerstreuen, in welcher dieses Volk noch zum Teil versunken liegt.

Die reaktionäre Partei war in Tagliacozzo sehr stark, wie man uns sagte, und noch zählt das alte neapolitanische Regiment dort seine Anhänger. Nach dem Jahre 1860 gab es blutige Zusammenstöße mit den Freischaren genug und heftige Fehden zwischen beiden Parteien. Dieses Wesen wurde durch die Nähe der römischen Grenze unterstützt, von woher die Reaktion unterhalten werden konnte. Jetzt aber ist auch hier wie im ganzen Grenzlande Ruhe eingetreten, und die offiziellen wie privaten Briganten sind verschwunden.

In Tagliacozzo endet die Via Valeria wie in einem Sack. Keine Fahrstraße führt in die Sabina, wohin wir gelangen wollten, nur Saumpfade gibt es über das steile Grenzgebirge. Wir mieteten Gebirgspferde, starkknochige große Tiere, welche diese steinigen Pfade zu erklettern gewohnt sind. An einer Leine führte ein jedes sein Führer, gleich ihnen ans Klettern gewöhnt. So ritten wir von Tagliacozzo hoch aufwärts in die gigantische Bergwildnis hinein und acht Stunden lang fort über hohe Felsenmassen, durch tiefschattige Buchen- und Eichenwälder, in Rinnsalen von Bergwassern, über Flüsse und sie durchwatend, wo es keine Brücken gab. Wir kamen erst an der zerstörten Burg Tagliacozzo vorbei, dann nach der wolkenhohen Rocca di Cerro, wo wir uns rückwärts wendeten, um von dem Theater des Marsenlandes Abschied zu nehmen. Es ist ein überwältigend großes Panorama von farbigen Bergreihen, die in riesigen Abstufungen übereinander zum Himmel steigen. Majestätisch steht der Monte Velino da; aus der Ferne strahlen auch die Berge Sulmonas und die von Sora, während im Mittelgrunde die zersplitterte Burg von Tagliacozzo auf der schwarzen Felsenmasse sich monumental erhebt und adlergleich in den Lüften frei zu schweben scheint. Mein Freund Lindemann, Meister der italienischen Landschaft, war hingerissen von der Erhabenheit dieser unvergleichlichen Szene. Sie würde ein Gemälde vom größten heroischen Stil geben, und ich wünschte, daß er dies als Seitenstück zu seinem «Ätna» malen möchte. Auch das Schlachtfeld Konradins mit dem Monte Velino im Hintergrund wünschte ich von seiner Hand gemalt zu sehen.

Ein entsetzlicher Pfad von Felsengeröll führte uns nach Colle, einem in der Wildnis an Abgründen schwebenden Felsennest. Auch hier machten wir die Bemerkung, daß der Renaissancestil am Ende des 15. und dem Anfange des 16. Jahrhunderts die durchgehende architektonische Form in allen, selbst den kleinsten Orten des Landes ist. In diesen Kastellen dauern Häuser, weil sie aus dem Stein des Gebirges erbaut sind, 300 und 400 Jahre unverändert fort. Selbst an den kleinsten und elendesten fanden wir oft die feinsten Renaissancefenster und -türen. In den Abruzzen, schon von Antrodóco und Citta Ducale ab, bemerkten wir das Vorherrschen der Gotik. Sie scheint sich in jenem Lande länger erhalten zu haben als im Römischen, wo sie nach der Mitte des 15. Jahrhunderts zu weichen beginnt. Beide Stilformen sind die architektonischen Charaktere in allen Landschaften, die wir durchzogen hatten.

Von Colle stiegen wir ab und senkten uns in einen prachtvollen Eichenwald, durch dessen Grund noch ein Nebenfluß des Salto, der Torano, fließt. Dann erreichten wir Carsóli und, nach mehrstündigem Ritt durch entzückende Wildnisse unterhalb der öden und rauhen Gebirge von Riofreddo und Oricola, beim Mondeslicht endlich Arsoli an der Via Valeria, ein Feudum der römischen Massimi. Hier begrüßten wir mit Heimatsgefühl das alte römische Land wieder, die Campagna di Roma, wie jenes Gebiet schon dort genannt wird. Die Straße führt von Arsoli weiter durch das schöne Aniotal nach Tivoli, und dann nach Rom.


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