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Vierzehntes Kapitel

Doch jetzt, da er in ihrer Nähe war, zögerte er; er hatte sein Wort gegeben – wollte er es brechen? Da wandte sie sich um und erblickte ihn; er konnte nicht zurück. In dem schneidenden Ostwind sah ihr Gesicht schmal, spitz und verfroren aus; aber ihre Augen waren um so größer, um so bezaubernder, als würden sie ihn beschwören, ihr nicht zu zürnen, sie nicht fortzuschicken.

»Ich hab kommen müssen; ich bin so erschrocken! Warum hast du mir nur die paar armseligen Worte geschrieben?«

Er versuchte mit ruhiger, gewöhnlicher Stimme zu sprechen.

»Du mußt dich zusammennehmen, Nell! Ich hab's ihr sagen müssen.«

Sie packte seinen Arm; dann richtete sie sich auf und sagte in ihrer klaren, deutlichen Stimme:

»Oh! Sie haßt mich jetzt gewiß!«

»Sie ist furchtbar unglücklich.«

Eine Minute lang, die ihnen eine Stunde deuchte, gingen sie schweigend weiter, nicht um den Platz herum, wie er mit Oliver gegangen war, sondern vom Hause fort. Endlich sagte sie mit halb erstickter Stimme: »Ich will ja nur ein ganz klein wenig von dir!«

Er erwiderte dumpf: »In der Liebe gibt es kein ganz klein wenig – kein Stillstehen.«

Plötzlich fühlte er ihre Hand in der seinen, wie ihre Finger in einem fort sich in den seinen wanden und zusammenkrampften; und die halb erstickte Stimme sagte wieder:

»Aber du wirst mich doch manchmal treffen? Du mußt!«

Diesem rührenden, erschrockenen, sich an ihn klammernden Kinde gegenüber standhaft zu bleiben war das allerschwerste. Und nicht ganz im klaren darüber, was er sagte, murmelte er:

»Ja – ja; es wird schon gehn. Nimm dich zusammen du mußt dich zusammennehmen, Nell! Es wird alles noch gut werden.«

Doch sie antwortete nur:

»Nein, nein! Ich nehm mich nicht zusammen! Ich werde etwas tun!«

Ihr Gesicht sah genauso aus wie in dem Augenblick, als sie auf die Sandgrube zugeritten war. Wild, zügellos, ohne jeden Rückhalt – was mochte sie in ihrer Liebe und Verzweiflung nicht alles tun? Warum konnte er sich nicht rühren, ohne die eine oder die andere unglücklich zu machen? Und zwischen diesen beiden schwankend, die seinetwegen so leiden mußten, war es ihm, als hätte er sein eigen Leben eingebüßt. So weit war er also auf der Suche nach dem Glück gekommen!

Auf einmal sagte sie:

»Oliver hat mich Samstag auf dem Ball wieder gefragt. Er sagte, du hättest ihm geraten, Geduld zu haben. Ist das wahr?«

»Ja.«

»Warum?«

»Er hat mir leid getan.«

Sie ließ seine Hand fahren.

»Vielleicht möchtest du, daß ich ihn heirate?«

Ganz deutlich sah er die beiden vor sich, wie sie über den glänzenden Boden hintanzten.

»Es wäre besser, Nell.«

Sie stieß einen leisen Schrei aus – war's Zorn oder Bestürzung?

»Du brauchst mich also wirklich nicht?«

Das war der entscheidende Augenblick. Aber als sie ihn jetzt mit bleichem, verzweifeltem Gesicht am Arme faßte und ihre so berückenden Augen auf ihn heftete, hätte er nicht eine solche Lüge sagen können und erwiderte nur:

»Ja, ich brauch dich, weiß Gott!«

Ein Seufzer der Erleichterung entschlüpfte ihr, als sagte sie sich: Wenn er mich braucht, wird er nicht von mir lassen.

Welch einen seltsamen, kleinen Tribut zollte sie ihrem Vertrauen zur Liebe und ihrer Jugend!

Unterdessen waren sie nach Pall Mall gekommen. Und erschrocken darüber, daß er sich inmitten der Jagdgründe der Dromores befand, wandte sich Lennan hastig dem St.-James-Park zu, damit sie im Dunkeln quer hindurch nach Piccadilly gehen könnten. Sich mit der Tochter seines alten Kameraden so vor den Augen der Welt zu verbergen – von allen Menschen auf der Welt war der vielleicht der letzte, dem er das antun konnte! Ein nettes Schurkenstückchen! Aber das, was die Menschen Ehre nannten – was war es, wenn ihre Augen ihn anblickten und ihre Schulter ihn berührte?

Seit seiner Antwort: »Ja, ich brauch dich!« hatte sie geschwiegen, vielleicht aus Furcht, daß andere Worte diesen tröstlichen Eindruck verwischen könnten. Doch in der Nähe des Tores bei Hydepark Corner legte sie wieder ihre Hand in die seine, und wieder sagte ihre klare Stimme:

»Ich will niemand weh tun, aber ich darf doch manchmal zu dir kommen – ich darf dich doch sehn – du wirst mich doch nicht ganz allein lassen, daß ich glauben muß, ich soll dich nie wiedersehn?«

Und noch einmal murmelte Lennan, ohne recht zu wissen, was er zur Antwort gab:

»Nein, nein! Es wird schon gehen, liebes Kind – es wird noch alles gut werden. Es muß – und wird auch.«

Und wieder flochten sich ihre Finger wie die eines Kindes in die seinen. Mit wundervollem Verständnis schien sie immer gerade das zu sagen und zu tun, was ihn ihr gegenüber machtlos machte! Denn sie fuhr fort:

»Ich kann ja nichts dafür, daß ich dich liebhabe – es ist doch kein Unrecht, jemand liebzuhaben – es braucht ihr nicht weh zu tun! Du sollst mich ja nur ein klein wenig liebhaben!«

Ein klein wenig – immer ein klein wenig! Doch war er jetzt nur noch bemüht, sie zu trösten. Sich vorzustellen, wie sie heimging und den ganzen Abend einsam, angsterfüllt, unglücklich verbrachte, war entsetzlich. Und indem er ihre Finger festhielt, murmelte er fortwährend scheinbar tröstliche Worte.

Dann merkte er, daß sie in Piccadilly waren. Wie weit würde er es wagen, mit ihr am Gitter entlangzugehen, ehe er sich verabschiedete? Ein Mann kam auf sie zu, gerade dort, wo er Dromore an, jenem ersten folgenschweren Nachmittag vor neun Monaten begegnet war, ein Mann mit einem etwas schlürfenden Gang und einem hohen glänzenden Zylinder, der ein wenig auf der Seite saß. Aber Gott sei Dank, es war nicht Dromore, nur einer, der ihm ähnlich sah und im Vorbeigehn Nell rätselhaft anstarrte. Und Lennan sagte:

»Du mußt jetzt nach Hause gehen, Kind; man darf uns nicht zusammen sehen.«

Einen Augenblick lang glaubte er, sie würde sich weigern, ihn zu verlassen, könnte am Ende zusammenbrechen. Dann warf sie den Kopf in den Nacken – sie blickte ihm eine Sekunde lang ganz regungslos ins Gesicht. Plötzlich streifte sie den Handschuh ab und drückte ihre warme Hand voll Innigkeit in die seine. Ihre Lippen lächelten matt, Tränen standen in ihren Augen; dann zog sie die Hand zurück und schritt mitten in das Gewühl hinein. Er sah sie um die Straßenecke biegen und verschwinden. Und während ihm von dem warmen, leidenschaftlichen Druck ihrer kleinen Finger die Hand noch brannte, rannte er förmlich dem Hydepark zu.

Ohne auf die Richtung zu achten, stürzte er sich in sein Dunkel – der Park lag verlassen in dem kalten, heimatlosen Winde da, der fast ohne Laut und ohne Duft unbarmherzig seine Straße unter dem grauschwarzen Himmel dahinwehte.

Das finstere Firmament und die schneidend kalte Luft waren gut für einen, der der Aufrüttelung seiner Gefühle kaum bedurfte, für einen, der nur den einzigen Wunsch hatte, das entsetzliche Gefühl in seinem Kopf wenn irgend möglich loszuwerden, jenes niederschmetternde, zerschlagende Gefühl eines Eingekerkerten, der in seiner Zelle hin und her läuft und über – überall an Mauern rennt. Ohne Gedanken, ohne Ziel ging er mechanisch weiter; er lief nicht, denn er wußte, daß es ihn nur um so früher erschöpfen würde. Ach, konnte es ein komischeres Schauspiel für die guten Bürger geben, als diesen verheirateten Mann in mittlerem Alter stundenlang über die dunklen, trockenen, leeren Rasenflächen wandern zu sehen, von Leidenschaft und Mitleid gejagt, so daß er nicht einmal wußte, ob er zu Abend gegessen hatte! Aber kein guter Bürger war in dem schneidenden Ostwind einer solchen Herbstnacht unterwegs. Die Bäume waren die einzigen Zeugen dieses tollen Wanderns, die Bäume, die dem kalten Sturmwind ihre dürren Blätter hingaben, die, nur ein wenig heller als die Dunkelheit, an ihm vorbeiflatterten. Ab und zu raschelten seine Füße durch Blätterhaufen, die darauf harrten, in den kleinen Feuern aufzugehen, deren Duft noch in der Luft lag. Ein verzweifelter Gang in diesem Herzen Londons – hin und her, auf und ab, Stunde für Stunde, immer im Dunkeln; kein Stern am Himmel, keine menschliche Stimme zu vernehmen, nicht einmal jemand deutlich zu erblicken, kein Vogel oder Tier; nur das Glimmen der Lichter, weit weg, und das dumpfe Brausen des Verkehrs. Ein Gang, so einsam wie die Wanderung der Menschenseele von der Geburt bis zum Tode, auf der nur der flackernde Schein des eigenen vergänglichen Geistes ihr Führer ist, ohne daß sie weiß, an welchem Feuer sich sein Licht entzündet hat …

Und so müde, daß er kaum die Füße heben konnte, doch endlich frei von dem entsetzlichen Gefühl in seinem Kopf, zum erstenmal seit vielen Tagen wieder frei, verließ Lennan den Park durch dasselbe Tor, durch das er eingetreten war, und ging seinem Hause zu in der Gewißheit, daß heute nacht, so oder so, die Entscheidung fallen würde …


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