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Sechzehntes Kapitel

Hatte der Geburtstag dem Jungen nur Verwirrung und Enttäuschung gebracht, so bedeutete er für Anna eine wahre Tortur; sie fand keine Erleichterung in dem Gedanken, daß es noch anderes auf der Welt als Liebe gab. Aber der nächste Morgen rückte die Dinge ins rechte Licht, brachte ihr das Übertriebene ihrer gestrigen Empfindungen zum Bewußtsein und rief neue Hoffnung in ihr wach. Unmöglich konnte sie in der kurzen Spanne Zeit von vierzehn Tagen verloren haben, was sie so sicher zu besitzen geglaubt! Sie müßte nur entschlossen handeln! Sie brauchte nur fest nach dem zu greifen, was ihr gehörte. Sollte sie nach all diesen leeren Jahren nicht eine Stunde des Glücks erleben? Sollte sie die Hände in den Schoß legen und zusehen, wie sie ihr von einem unfertigen, schwachen Ding entrissen wurde? Nein, tausendmal nein! Und sie wartete auf eine günstige Gelegenheit. Gegen Mittag sah sie ihn mit der Angel nach dem Bach gehen. Sie mußte ein wenig verweilen, da Gordy und sein Verwalter sich jetzt beim Tennisplatz aufhielten. Bald aber entfernten sie sich. Dann rannte sie zum Parktor hinaus. Wie sie hindurch war, fühlte sie sich sicher; sie wußte, daß ihr Gatte auf seinem Zimmer arbeitete; das Mädchen war nirgends zu erblicken; die alte Gouvernante machte sich noch im Haus zu schaffen; Mrs. Doone schrieb Briefe. Sie war voller Mut und Hoffnung. Dieses alte, verwilderte Dickicht des Parks, das sie noch nicht gesehen hatte, war wunderschön – ein wahres Stelldichein für Faune und Nymphen mit seinen bemoosten Bäumen und Felsblöcken und den hohen Farnkräutern. Sie hielt sich längs der Mauer in der Richtung des Baches, kam aber zu keinem Ausgang und fing an zu fürchten, daß sie sich verirrt hätte. Auf der andern Seite konnte sie den Bach hören, und sie sah sich nach einer Stelle um, wo sie emporklettern und genau ermitteln konnte, wo sie sich befand. Eine alte Esche schien ihr dazu geeignet. Sie stieg auf die Gabelung des Stammes, von wo sie gerade hinüberblicken konnte. Ganz nahe durch das dichte Laubwerk floß der kleine Fluß mit seinem klaren, dunklen Wasser. An seinem Ufer lag ein riesiger Felsblock auf einem andern, noch riesigeren Stein. Und den Rücken diesem Felsblock zugewendet, stand der Junge, und die Angel lehnte neben ihm. Vor ihm auf dem Boden, die Arme auf die Knie gestützt, das Kinn in der Hand, saß jenes Mädchen und blickte empor. Wie lebhaft seine Augen jetzt dreinsahen, wie grundverschieden von dem gestrigen düstern Blick!

»Das war also der Grund. Wirklich, du könntest mir verzeihen, Sylvia!«

Und Anna schien es wahrhaftig, als ob diese beiden jungen Gesichter eines wären: das Gesicht der Jugend.

Wenn sie dort für ewig stehengeblieben wäre, hätte sich ihrem Herzen kein unauslöschlicheres Bild einprägen können. Das Bild des Frühlings, alles dessen, was sie auf immer verloren hatte! Sie fuhr zurück, sprang aus dem Geäst der alten Esche herunter, und wie ein getroffenes Tier eilte sie, taumelte sie über Gestein und Farnkräuter hinweg. So lief sie etwa einen halben Kilometer, dann sank sie mit ausgestreckten Armen ins Farnkraut und blieb auf dem Gesicht liegen. Das Herz schlug ihr so heftig, daß sie nichts andres als den physischen Schmerz empfand. Ach, hätte sie nur sterben können! Aber sie wußte, es war nur Atemlosigkeit. Es ging vorüber, und was an seine Stelle trat: wahnsinniger Schmerz, trostlose Leere, suchte sie dadurch zu ersticken, daß sie die Brust gegen den Boden drückte und die Stengel der Farnkräuter krampfhaft packte. Jugend zu Jugend! Sie hatte ihn verloren – und sie stand wieder allein! Sie weinte nicht. Was nützte Weinen? Doch ein unendliches Schamgefühl schüttelte sie immer wieder, Scham und Wut. So wenig war sie also wert! Die Sonne brannte ihr heiß auf den Rücken, als sie so zwischen den wilden Farnkräutern lag, in die sie gefallen war; sie fühlte sich matt und elend. Sie war sich bis jetzt nicht klar darüber gewesen, was ihr diese Leidenschaft für den Jungen bedeutet hatte; wieviel von ihrem ganzen Selbstvertrauen darin begründet war; wie sehr sie dadurch ihre eigene Jugend hatte festhalten wollen. Wie bitter! Ein nichtssagendes, schwaches, blondes Ding – ein junges Ding – und sie galt ihm so gut wie nichts! Aber verhielt es sich denn wirklich so? Konnte sie ihn nicht jetzt noch mit einer Leidenschaft an sich reißen, von der dies Kind keine Ahnung hatte? Gewiß! Ganz gewiß! Er sollte nur einmal all das Herrliche kosten, das sie ihm zu bieten vermochte! Und bei diesem Gedanken ließ sie die Stengel der Farnkräuter fahren und lag ebenso unbeweglich da wie die Steine um sie her. Konnte sie es nicht? Sollte sie's nicht jetzt noch tun? Und als hätte sie ein Taumel erfaßt, erstarb in ihr alles Empfinden bis auf ein leises Beben! Warum schwanken? Warum dieses Mädchen schonen? Sie war die erste gewesen! In Tirol hatte er ihr gehört. Und noch immer besaß sie die Macht, ihn an sich zu reißen. Am ersten Abend beim Diner hatte sie seinen Blick auf sich gezogen, von jenem Mädchen fort – fort von der Jugend, wie der Magnet Stahl anzieht. Noch immer konnte sie ihn mit Ketten an sich fesseln, die er wenigstens für kurze Zeit nicht würde brechen wollen! Ihn fesseln? Hassenswertes Wort! Ihn festhalten, der nach dem trachtete, was sie ihm nicht geben konnte – Jugend, reine Unschuld, Frühling? Das wäre schändlich. Sie sprang aus den Farnkräutern auf und lief den Hügel entlang, ohne darauf zu achten, wohin, stolperte durch das Pflanzengewirr, über die Felsblöcke hinweg, bis sie zum zweitenmal atemlos auf einen Stein sank. Sie befand sich auf einer Lichtung und konnte jenseits des Flußtals den hohen, von Lärchen gekrönten Hügel erblicken. Der Himmel war klar, die Sonne hell. Ein Habicht kreiste über jenem Berg, hoch oben, ganz nah dem Blau. Schändlich! Das konnte sie nicht tun! Sie konnte ihn nicht bestricken, ihn nicht durch seine Sinne an sich reißen, durch all das, was am wenigsten edel in ihm war, wo sie ihm doch das Höchste wünschte, was ihm das Leben nur zu bieten hatte, als wäre sie seine Mutter gewesen. Nein, sie konnte es nicht. Es wäre geradezu verbrecherisch! In diesem Augenblick qualvollster Seelenpein schienen die beiden dort unten in der Sonne bei dem grauen Fels und dem dunklen Wasser vor ihr sicher, geborgen. Wie des Mädchens bleiches, zartes Gesicht zu ihm emporzitterte, des Jungen Augen leidenschaftlich auf sie herabsahen! Sonderbar, daß ein Herz, das so empfand, im selben Augenblick jenes zarte Gesicht zu hassen vermochte und danach brannte, die Wünsche in des Jungen Antlitz mit Küssen zu ertöten. Allmählich aber legte sich der Sturm in ihr. Und sie betete darum, nur nichts fühlen zu müssen. Es war ja ganz natürlich, daß sie um die Stunde ihres Glückes kommen, daß ihr Durst ungelöscht bleiben, ihre Leidenschaft sich nie entfalten sollte, natürlich, daß sich die Jugend zur Jugend gesellte, dieser Knabe zu seinesgleichen durch das Gesetz der – Liebe. Der Wind, der durch das Tal blies, fächelte ihre Wangen und brachte ihr ein ganz leises Gefühl der Erleichterung. Edelmut! War es nur ein leeres Wort? Oder fühlen sich die edel, die auf Glück verzichten?

So irrte sie lange Zeit im Park umher. Erst spät am Nachmittag ging sie wieder zum selben Tor hinaus, durch das sie voller Erwartung eingetreten war. Sie traf niemand, ehe sie ihr Zimmer erreichte, und um dort ganz sicher zu sein, flüchtete sie in ihr Bett. Sie fürchtete nur, daß sie das Gefühl gänzlicher Erschöpfung verlassen könnte. Sie wünschte sich keine Seelen-, keine Körperkraft, bis sie von hier fort war. Sie wollte nicht essen noch trinken, nur schlafen, wenn es möglich war. Wenn morgen ein Frühzug fuhr, konnte sie schon fort sein, noch ehe sie jemand zu sehen brauchte; ihr Mann mußte das arrangieren. Was er sich dabei denken oder was sie ihm sagen sollte – Zeit genug, sich das zu überlegen. Was lag auch daran? Ihr einziger Gedanke war jetzt, den Jungen nicht wiederzusehen, denn sie konnte solch qualvolle Stunden unmöglich ein zweites Mal durchmachen. Sie läutete und sandte das erschreckte Stubenmädchen mit einer Botschaft an ihren Gatten. Und während sie auf ihn wartete, begann ihr Stolz sich aufzubäumen. Er durfte nichts merken, das wäre entsetzlich! Sie schlüpfte aus dem Bett, nahm eine Flasche Kölnisches Wasser und ein Taschentuch, das sie sich um die Stirn band. Er kam fast sogleich, trat in seiner raschen und geräuschlosen Art ein, blieb stehen und sah sie an. Er fragte sie nicht, was vorgefallen war, sondern wartete bloß. Und noch nie zuvor war es ihr so klar zum Bewußtsein gekommen, daß er sozusagen dort anfing, wo sie aufhörte, daß er in einem Boden wurzelte, von dem Instinkt und natürliches Empfinden mit solcher Sorgfalt ausgerodet waren, als wären sie das ärgste Unkraut gewesen. Sie nahm ihren ganzen Mut zusammen und sagte: »Ich bin in den Park gegangen, die Sonne muß zu heiß gewesen sein. Ich möchte morgen nach Hause fahren, wenn du nichts dagegen hast. Ich kann es nicht ertragen, in einem fremden Hause krank zu sein.«

Sie fühlte, wie ein Lächeln über sein Gesicht huschte und wie es wieder ernst ward.

»Aha!« sagte er, »so! Ein Sonnenstich. Das wird ein paar Tage dauern. Wirst du trotzdem reisen können?«

Sie hatte die plötzliche Überzeugung, daß er alles wüßte, doch da alles zu wissen für ihn gleichbedeutend damit war, sich lächerlich vorzukommen, hatte er die Kraft, sich selbst glauben zu machen, daß er nichts wüßte. Sollte man ihn deshalb bewundern oder hassen?

Sie schloß die Augen und sagte:

»Mein Kopf schmerzt, aber ich werde reisen können. Nur will ich kein Aufhebens machen. Könnten wir einen Zug benützen, ehe jemand unten ist?«

Sie hörte ihn sagen:

»Ja, das wäre sehr zweckmäßig.«

Danach vernahm man auch nicht einen Laut, obwohl er natürlich noch immer da war. In dieser stummen, regungslosen Gegenwart lag ihre ganze Zukunft. Ja, das würde ihre Zukunft sein – ohne jegliches Gefühl, ohne Leben. Eine schaudernde Neugier überkam sie hinzuschauen. Sie öffnete die Augen. Er stand noch immer genauso da und blickte sie immerzu an. Doch seine Hand am Rande der Rocktasche gewissermaßen nicht zum Bilde gehörig – schloß und öffnete sich nervös. Und plötzlich wurde sie von Mitleid ergriffen. Nicht etwa wegen ihrer Zukunft, die so sein mußte, sondern für ihn. Wie furchtbar, zu einem Menschen geworden zu sein, der sich jedem Gefühl verschlossen hatte – wie furchtbar! Und sie sagte leise:

»Es tut mir leid, Harold.«

Als hätte er etwas Seltsames, Erschreckendes vernommen, wurden seine Augen merkwürdig weit, er verbarg die nervös zuckende Hand in seiner Tasche, wandte sich um und ging hinaus.


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