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Zwölftes Kapitel

Das Betrügen erfordert zweifellos gründliche Übung. Und in dieser Kunst nicht bewandert, fand Lennan es gar bald unerträglich, auf Ausflüchte zu sinnen, fortwährend auf der Hut zu sein und die irreführen zu müssen, die schon seit ihrer Kindheit stets zu ihm emporgeblickt. Und doch hatte er die ganze Zeit über das Gefühl, daß, da nur er allein alle Einzelheiten seines Falles kannte, auch nur er allein dazu berechtigt war, sich zu verurteilen oder sich freizusprechen. Das Verdammungsurteil, das die Tugendrichter über sein Betragen fällen würden, konnte nur die Geistesschwäche eitler, pharisäischer Narren offenbaren, derer, die nie unter solch berückendem Zauber gestanden oder gar nicht genug Blut in den Adern hatten, um je in seinen Bann zu geraten.

Am Tage nach dem Ritt war Nell nicht gekommen, und er erhielt keine Nachricht von ihr. Hatte sie sich am Ende doch verletzt? Sie hatte so regungslos im Sessel gelegen. Und Sylvia fragte ihn gar nicht, ob er wüßte, wie sich das Mädchen nach dem Sturz befände und ob sie jemand hinschicken sollte, um sich zu erkundigen. Wollte sie nicht von ihr sprechen, oder hatte sie es einfach – nicht geglaubt? Da er von so vielem nicht reden durfte, schien es unbillig, wenn gerade das, was wirklich wahr war, keinen Glauben fand. Zwar hatte sie noch durch kein einziges Wort angedeutet, daß sie den Betrug empfand, der seiner innersten Überzeugung nach gar kein Betrug war … Konnte irgend etwas jenen Instinkt, jenes Feingefühl des liebenden Weibes täuschen? …

Gegen Abend steigerte sich seine Sehnsucht, das Mädchen zu sehen, zu einer fast unerträglichen – er hatte die Empfindung, als riefe sie ihn zu sich; doch er fühlte, daß Sylvia wissen würde, wo er hinginge. Er saß auf der einen Seite des Kamins, sie auf der andern, und beide lasen; nur war es sonderbar, daß keines von ihnen überhaupt ein Blatt umwandte. Er las im ›Don Quichotte‹ die Seite, auf der die folgenden Worte standen: ›Altisidora mag weinen oder singen, und dennoch gehöre ich Dulcinea, ihr allein, tot oder lebendig, treu und gehorsam, allen Zauberkräften in der Welt zum Trotz!‹ So verstrich der Abend. Als sie zu Bett gegangen, war er ganz nahe daran, sich hinauszustehlen und zu den Dromores zu fahren, um sich bei dem Vertrauensmann zu erkundigen; aber der Gedanke an den Blick des verwünschten Kerls war zu viel für ihn, und er bezwang sich. Er nahm Sylvias Buch zur Hand, Maupassants ›Fort comme la mort‹, dort aufgeschlagen, wo die arme Frau findet, daß sie ihren Liebhaber an die eigene Tochter verloren. Und wie er las, liefen ihm die Tränen über die Wangen. Sylvia! Sylvia! Waren seine alten Lieblingsworte aus jenem alten Lieblingsbuche nicht immer wahr? ›Dulcinea del Toboso ist die schönste Dame der Welt, und ich bin der unseligste Ritter auf Erden.‹ Es wäre unrecht, daß solche Herrlichkeit durch meine Schwäche leiden sollte. ›Nein, durchbohre meinen Leib mit deiner Lanze, Ritter, laß mich mein Leben verhauenen und meine Ehre …‹ Warum konnte er sich dies Gefühl nicht aus dem Herzen, das Bild des Mädchens nicht aus der Seele reißen? Warum konnte er der nicht die Treue halten, die immer treu zu ihm gestanden? Gräßlich, dies willenlose, ohnmächtige Gefühl, diese Lähmung, als wäre er eine Marionette, von einer grausamen Hand gelenkt! Und wie schon einmal vorher schien es ihm, als säße das Mädchen in ihrem dunkelroten Kleide dort in Sylvias Stuhl und heftete die Augen auf ihn. Unheimlich lebendig – jener Eindruck! … Es war undenkbar, diese fürchterliche Lage länger auszuhalten, ohne wahnsinnig zu werden!

Am Samstagnachmittag, als es zu dämmern anfing, gab er dies unerträgliche Warten auf und öffnete die Ateliertür, um zu Nell zu gehen. Es war genau zwei Tage her, seit er sie gesehen oder von ihr gehört hatte. An diesem Abend hatte sie ja auf einen Ball gehen wollen, und er hätte auch hin sollen. Sie mußte krank sein!

Aber er war noch keine sechs Schritte gegangen, als er sie kommen sah. Sie hatte einen langen Pelz um den Hals geschlungen, der ihren Mund verbarg und ihr ein viel älteres Aussehen verlieh. Im Augenblick, als die Tür sich schloß, warf sie ihn ab, ging zum Kamin, zog sich ein Stühlchen zurecht, und die Hände ans Feuer haltend, sagte sie: »Hast du an mich gedacht? Hast du dir's gründlich überlegt?«

Er entgegnete: »Ja, ich hab mir's überlegt, aber ich bin noch zu keinem Entschluß gekommen.«

»Warum? Niemand braucht je zu erfahren, daß du mich liebhast. Und wenn auch – ich mach mir nichts draus!«

Wie einfach! Wie furchtbar einfach! Wie herrlich egoistisch doch die Jugend war.

Zu diesem Kinde konnte er nicht von Sylvia sprechen, nicht von seiner Ehe, die bisher so voller Würde, ja fast heilig gewesen war. Es war unmöglich. Dann hörte er sie sagen:

»Es kann doch kein Unrecht sein, dich liebzuhaben! Und wenn's unrecht ist, was liegt mir dran?« Und er sah ihre Lippen beben und ihre Augen plötzlich traurig und erschreckt dreinblicken, als zweifelte sie zum ersten Male an dem Ausgang der Sache. Das war neue Qual für ihn. Das Kind unglücklich zu sehen! Und was hätte es selbst genützt, wenn er ihr, die gerade auf der Schwelle des Lebens stand, klarzumachen versucht hätte, in welch einem Irrgarten er verzweifelt umhertappte! Wie sollte sie auch verstehen, durch wieviel Schlamm und verworrenes Schlingkraut er sich arbeiten mußte, um sie zu erreichen! ›Niemand braucht es zu erfahren.‹ Wie einfach! Und was würden er und seine Frau dabei durchmachen? Er wies auf sein neues Werk – der erste Mann, der von der ersten Nymphe bezaubert wird – und sagte:

»Sieh dir das an, Nell. Die Nymphe bist du, und der Mann da bin ich.« Sie stand auf, um es sich anzusehen. Und während sie hinschaute, sogen seine Augen sich verlangend an ihr fest. Welch seltsame Mischung – halb unschuldsvolles Kind, halb Sirene! Wie wunderbar, dies junge Geschöpf in seinen Armen zum vollen Verständnis der Liebe erwachen zu lassen! Und er sagte: »Du solltest lieber einsehen, was du mir bist – all das, was ich nie wieder erleben kann, es spricht aus dem Antlitz der Nymphe da. O nein, nicht dein Gesicht! Und das bin ich, wie ich mir durch den Schlamm einen Weg zu dir bahne – natürlich nicht mein Gesicht!«

Sie sagte: »Armes Gesicht!« und bedeckte ihr eigenes Antlitz. Würde sie jetzt weinen und ihn noch mehr quälen? Statt dessen aber murmelte sie nur: »Aber du hast mich doch erreicht!«, wankte auf ihn zu und drückte ihre Lippen auf die seinen.

Da gab er nach. Vor seinem zu stürmischen Kuß wich sie einen Augenblick zurück, schmiegte sich aber sofort wieder an ihn, als wäre sie vor sich selbst erschrocken. Das instinktive Zurückweichen der Unschuld war jedoch für Lennan genug gewesen – er ließ die Arme sinken und sagte:

»Du mußt jetzt gehen, Kind.«

Ohne ein Wort zog sie ihren Pelz an und wartete, daß er sprechen solle. Da er schwieg, hielt sie ihm etwas Weißes entgegen. Es war die Karte zum Ball.

»Du hast gesagt, daß du kommen wolltest.«

Er nickte. Ihre Augen und Lippen lächelten ihm zu; dann öffnete sie die Tür und ging hinaus, das stille, glückliche Lächeln noch immer auf dem Antlitz …

Ja, er würde kommen, wo sie auch war, wann immer sie ihn wünschte …

Von Fieberhitze gepackt, einzig von dem Gedanken beseelt, das Glück zu verfolgen, verbrachte Lennan die wenigen Stunden bis zum Ball. Er hatte Sylvia gesagt, daß er sein Abendessen im Klub einnehmen würde, einer Reihe von Zimmern in Chelsea, die einem kleinen Kreis von Künstlern gehörten. Diese Vorsicht hatte er gebraucht, da er fühlte, daß er während des Abendessens ihr nicht gegenübersitzen konnte und dann auf jenen Ball gehen – und zu Nell! Er hatte von einem Gast im Klub gesprochen, um seinen Frack zu rechtfertigen – wieder eine Lüge, aber was lag schon dran? Er log ja die ganze Zeit über, wenn nicht in Worten, so in seinen Handlungen – mußte ja lügen, um sie zu schonen.

Vor dem Blumenladen der Französin blieb er stehen.

»Que désirez-vous, monsieur? Des œillets rouges – j'en ai de bien beaux, ce soir.«

Des œillets rouges? Ja, die paßten für heute abend. An diese Adresse. Kein Grün dabei, keine Karte.

Nachdem die Würfel einmal zugunsten der Liebe gefallen waren, welch ein seltsames Gefühl, ihr nachzujagen und zu sehen, wie sein eigen Selbst zurückblieb!

Vor einem kleinen Restaurant in der Brompton-Straße spielte ein magerer Musikant auf einer Violine. Ach, er kannte diesen Ort; hier würde er hineingehn, nicht in den Klub, und der Fiedler sollte alles haben, was er entbehren konnte, weil er diese Liebesweisen geigte. Er trat ein. Er war nicht wieder hier gewesen seit dem Tage vor jener Nacht auf der Themse vor zwanzig Jahren, niemals wieder. Und dennoch fand er ihn unverändert. Dieselbe schmutzige Vergoldung und derselbe Speisengeruch; dieselben Makkaroni in derselben Tomatensauce; dieselben Chiantiflaschen; dieselben grellen hellblauen, mit rosa Blumen bemalten Wände. Nur der Kellner war ein anderer – hohlwangig, geduldig, mit dunklen Augen. Er sollte ein gutes Trinkgeld bekommen. Und jene arme Dame mit dem übertrieben geputzten Hut, die ihr einfaches Mahl verzehrte, sie sollte auf alle Fälle einen freundlichen Blick erhalten. Für alle verzweifelten Geschöpfe mußte er fühlen in dieser verzweifelten Nacht. Und plötzlich dachte er an Oliver. Noch ein Verzweifelter. Was sollte er Oliver auf diesem Balle sagen – er, der, siebenundvierzig Jahre alt, ohne seine Frau hinkam? Irgendeine Dummheit, zum Beispiel: ›Um die göttergleiche menschliche. Gestalt in Bewegung zu studieren‹, ›einige Streiflichter von Nell für die Statuette aufzufangen‹ – irgendeinen Unsinn; es war ja ganz gleich. Der Wein war eingeschenkt, er mußte trinken!

Es war noch früh, als er das Restaurant verließ – eine trockene Nacht, ganz still, nicht kalt. Wann hatte er zum letztenmal getanzt? Mit Olive Cramier, ehe er wußte, daß er sie liebte. Nein, diese Erinnerung sollte nicht zerstört werden, denn er würde heute nacht nicht tanzen. Nur zuschaufeln paar Minuten bei dem Mädchen sitzen, fühlen, wie ihre Hand die seine umklammerte, sehen, wie ihre Augen ihm folgten und – wieder fortgingen. Und dann – die Zukunft! Denn der Wein war eingeschenkt! Ein Platanenblatt, das herniederflatterte, fiel auf seinen Ärmel. Bald würde der Herbst vorbei sein, und nach dem Herbst – nur Winter. Sie würde sich von ihm abwenden, lang ehe sein Winter kam. Die Natur würde es schon so fügen, daß die Jugend nach ihr rief und sie davontrug. Die Natur auf ihrer Bahn. Aber die Natur betrügen können, für eine kleine Weile nur, die Natur betrügen – gab es ein größeres Glück?

Da war das Haus mit dem rotgestreiften Leinenschutzdach, Wagen fuhren fort, und Müßiggänger sahen zu. Mit klopfendem Herzen trat er ein. War er vor ihr da? Wie würde sie auf ihren ersten Ball kommen? Allein mit Oliver? Oder hatte sie eine Gardedame gefunden? Hierhergeraten zu sein, weil sie, das liebreizende Kind, das ›nicht rechtmäßig‹ zur Welt gekommen war, eines Schutzes bedürftig sein könnte, hätte seine Würde, die ganz in Sehnsucht aufgegangen war, ein wenig gehoben. Aber ach, er wußte, daß er nur deshalb gekommen war, weil er nicht hatte fortbleiben können!

Oben im Saal wurde bereits getanzt, sie war jedoch noch nicht dort, und er stand gegen die Wand gelehnt da, wo sie vorbeikommen mußte. Er fühlte sich fremd und nicht hierhergehörig, als wüßte jeder, warum er da war. Die Leute starrten ihn an, und er hörte ein Mädchen fragen: »Wer ist der mit dem dichten Haar und dunklen Schnurrbart, der da an der Wand lehnt?«; wie ihr Partner die Antwort murmelte und sie wieder sagte: »Jawohl, sieht aus, als sähe er Wüstensand und Löwen vor sich.« Für wen hielten sie ihn eigentlich? Gott sei Dank, alle nur gewöhnlicher Durchschnitt. Keiner unter ihnen, den er kannte. Wie, wenn nun Johnny Dromore selbst mit Nell käme? Er hatte am Samstag zurück sein wollen. Was sollte er dann sagen? Wie jenen zweifelnden, listigen Augen begegnen, aus denen die fixe Idee glotzte, daß das Weib für den Mann nur einen Zweck hatte? Himmel, er hätte recht! Einen Augenblick stand er im Begriff, Hut und Überzieher zu verlangen, um sich davonzustehlen. Das hieße, sie bis Montag nicht sehen; da blieb er. Aber nachher durfte er nicht mehr soviel aufs Spiel setzen, ihre Zusammenkünfte mußten vorsichtig geplant werden, mußten das Tageslicht scheuen. Und dann erblickte er sie am Fuß der Treppe in einem Kleid von zartestem Lachsrot, eine seiner Blumen in dem lichtbraunen Haar und die andern am Griff eines winzigen Fächers befestigt. Wie selbstbewußt sie dreinsah, als wäre dies ihr eigentliches Element – Hals und Arme entblößt, die Wangen sanft gerötet und der Blick lebhaft hin und her schweifend. Sie stieg die Treppe empor und erblickte ihn. Konnte man sich etwas Liebreizenderes vorstellen als sie in diesem Augenblick? Hinter ihr bemerkte er Oliver und ein großes rothaariges Mädchen mit einem andern jungen Manne. Er stellte sich absichtlich am Ende der Treppe an die Wand, so daß die andern hinter ihr ihr Gesicht nicht sehen sollten, wenn sie ihn grüßte. Sie legte den kleinen Fächer mit den Blumen an die Lippen und sagte rasch und leise, wobei sie ihm die Hand entgegenhielt: »Nummer vier, eine Polka – wir wollen sitzen bleiben, nicht wahr?«

Dann ein wenig schwankend, so daß ihr Haar und die Blume darin fast sein Gesicht streiften, ging sie vorbei, und an ihrer Statt stand Oliver da.

Lennan war auf einen seiner gewohnten kecken Blicke gefaßt, doch das Gesicht des jungen Mannes war ganz freundlich und erwartungsvoll.

»Furchtbar nett von Ihnen, daß Sie gekommen sind, Mr. Lennan. Ist Mrs. Lennan …«

Und Lennan murmelte:

»Sie hat nicht gekonnt, sie ist nicht ganz …« Er hätte in den Boden sinken mögen. Die Jugend mit ihrer rührenden Offenheit, ihrem entgegenkommenden Vertrauen! So erfüllte er seine Pflicht der Jugend gegenüber!

Als sie in den Ballsaal getreten waren, ging er zu seinem früheren Platz an der Wand zurück. Sie tanzten Nummer drei, seine Wartezeit näherte sich also ihrem Ende. Von seinem Platz aus konnte er die Tänzer nicht erblicken – wozu auch sehen, wie sie in den Armen eines andern umherwirbelte!

Kein eigentlicher Walzer war's, irgendein französischer oder spanischer Gassenhauer, im Walzertempo gespielt, bizarr, wehmütig, wie nach dem eigenen Glück jagend. O diese Jagd nach dem Glück! Ja, das Leben mit all seinen Schätzen und Möglichkeiten bot doch am Ende nichts, das einen restlos hätte befriedigen können – außer den flüchtigen Augenblicken der Leidenschaft. Nichts anderes, das so überwältigend war, daß man es reine Freude hätte heißen können. Wenigstens schien es ihm so.

Der Walzer war zu Ende. Er sah sie jetzt mit dem andern jungen Mann auf einem kleinen Stuhl an der Wand sitzen und sich fortwährend nach ihm umschaun, ob er auch noch da war. Wie geschickt doch das Feuer in ihm stets geschürt ward durch ihre ihm so schmeichelnde, unerklärliche Anbetung, durch ihre Blicke, die ihn zu ihr hinzogen und die ihm doch zugleich ergeben folgten! Während sie an der Wand saß, sah er, wie Oliver und das rothaarige Mädchen ihr fünfmal Herren vorstellten; sah, wie die Jünglinge ihr sehnsüchtige Blicke zuwarfen; sah, wie die Mädchen sie mit kalten Blicken maßen oder mit aufrichtigem, rührendem Entzücken. Von dem Augenblick ihres Eintritts an spielte sie, um einen Ausdruck ihres Vaters zu gebrauchen, die erste Geige. Und trotzdem konnte sie nach ihm verlangen. Unglaublich!

Bei den ersten Klängen der Polka ging er zu ihr hinüber. Sie hatte ihr Versteck ausgesucht, eine kleine, hinter zwei Palmen verborgene Nische. Aber während er dort saß, erkannte er wie nie zuvor, daß zwischen ihm und diesem Kinde keinerlei geistige Gemeinschaft bestand. Sie mochte ihm ihre Sorgen oder ihre Freuden erzählen, er konnte sie besänftigen oder mit ihr fühlen, doch die Kluft zwischen ihren Naturen und Lebensaltern war nie und nimmer zu überbrücken. Seine Glückseligkeit bestand nur darin, sie zu sehen und zu berühren. Aber das war, weiß Gott, Glückseligkeit genug, eine fieberige, gierige Freude, wie der Durst eines Übermüdeten, der mit jedem neuen Trunke, der ihn stillen soll, nur wächst. Wie er so dasaß, vom Dufte jener Blumen und eines lieblichen Parfüms in ihrem Haar umhüllt, während ihre Finger die seinen berührten und ihre Augen die seinen suchten, war er großherzig bemüht, sich selbst zu vergessen, ihre Empfindungen auf dem ersten Ball zu verstehen und nur dafür zu sorgen, daß sie sich glücklich fühlte. Aber er konnte nicht – gelähmt, berauscht von jener unsinnigen Sehnsucht, sie in die Arme zu schließen und sie an sich zu pressen, wie er es noch vor wenigen Stunden getan. Er konnte wahrnehmen, wie sie sich gleich einer Blume entfaltete in all dem Licht und der Bewegung und der berückenden Bewunderung um sie her. Welches Recht hatte er auf ihr Leben mit seinem finstern Hunger nach geheimen Stunden, er, eine schon abgenutzte Münze, ein Zerstörer der Frische und des Schmelzes ihrer Jugend, ihrer Schönheit!

Während sie dann die Blume in die Höhe hielt, sagte sie:

»Hast du mir die da gegeben, weil ich dir mal eine geschenkt hab?«

»Ja.«

»Was hast du damit getan?«

»Sie verbrannt.«

»Ach! Warum nur?«

»Weil du eine Hexe bist – und man Hexen mitsamt ihren Blumen verbrennen muß.«

»Wirst du mich verbrennen?«

Er legte seine Hand auf ihren kühlen Arm.

»Fühl nur! Die Glut!«

»Tu's! Mir ist es einerlei!«

Sie nahm seine Hand und lehnte ihre Wange dagegen; und doch schlug sie bereits mit der Fußspitze den Takt zu der Musik, die wieder begonnen hatte. Und er sagte:

»Du solltest tanzen, Kind.«

»Ach nein! Nur schade, daß du nicht willst.«

»Ja! Verstehst du auch, daß jetzt alles heimlich, verstohlen geschehen muß?«

Sie hielt den Fächer vor seine Lippen und sagte: »Du sollst nicht nachdenken; du sollst nicht nachdenken – niemals! Wann kann ich zu dir kommen?«

»Ich muß sehen, wie's am besten geht. Morgen nicht. Niemand darf's erfahren, Nell – deinetwegen – ihretwegen niemand!«

Sie nickte und wiederholte mit sanftem, sonderbarem Verstehen: »Niemand.« Und dann sagte sie laut: »Da ist Oliver! Es war furchtbar lieb von Ihnen herzukommen. Gute Nacht!«

Und als sie an Olivers Arm ihr kleines Versteck verließ, blickte sie nach ihm zurück.

Er zögerte noch, um sie bei diesem einen Tanz zu beobachten. Wie die beiden alle andern Paare in den Schatten stellten, mit jenem Etwas in ihnen, das mehr als nur gutes Aussehen war, jenem Etwas, das man nicht übertrieben oder exzentrisch nennen konnte, sondern temperamentvoll und eigensinnig! Sie paßten gut zusammen, diese beiden Dromores – sein dunkler Kopf und ihr heller; seine klaren, braunen, kühnen Augen und ihre grauen, schmachtenden, magnetischen Augen. Ah, Herr Oliver schwamm jetzt in Glückseligkeit, sie so nah bei sich zu haben! Aber Lennan fühlte keine Eifersucht. Nicht gerade das, junge Leute konnten keine Eifersucht erregen; es war etwas Tiefbegründetes – Stolz, Sinn für das richtige Verhältnis, er wußte nicht recht was, das sie nicht aufkommen ließ. Auch sie sah glücklich aus, als tanzte ihre Seele und vibrierte mit der Musik und dem Duft der Blumen. Er wartete, bis sie noch einmal vorbeikam, um zum letzten Male ihren flüchtigen Blick über die Schulter zurück aufzufangen, dann nahm er Hut und Mantel und ging davon.


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