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Dreizehntes Kapitel

Draußen tat er einige Schritte und blieb stehen, um nach den Fenstern des Saales zurückzublicken durch ein paar Bäume hindurch, deren Stämme im Licht einer Laterne ihre Schatten wie die Rippen eines Fächers über den Boden hinspreizten. Eine Kirchenuhr schlug elf. Noch viele Stunden würde sie dort bleiben und in den Armen der Jugend eine Runde nach der andern tanzen. Wenn er sich auch noch so sehr mühte, würde doch nie wieder sein Antlitz den Ausdruck zeigen, den er bei Oliver gesehen hatte, jenen Ausdruck, der ein Symbol für so vieles war, was er selbst ihr nicht mehr geben konnte. Warum war sie in sein Leben getreten, zu ihrem Unheil und zu seinem? Und der bizarre Gedanke stieg in ihm auf: Wenn sie jetzt stürbe, würd ich mich dann ernstlich grämen? Würd ich mich nicht beinahe freuen? Wenn sie tot wäre, würde auch ihr Zauber tot sein, und ich könnte wieder den Kopf hoch tragen und den Leuten in die Augen sehen. Was war es nur für eine Macht, die mit den Männern spielte, sie jählings packte, ihnen das Herz in Stücke riß, jene Macht, die aus ihren Augen geblickt hatte, als sie den Fächer mit seinen Blumen auf ihre Lippen gelegt?

Das rhythmische Geräusch der Musik verstummte; er ging davon.

Es mußte fast zwölf gewesen sein, als er heimkam. Nun würde der entsetzliche Betrug von neuem beginnen, sein Gesicht wieder die unverschämte Ruhe zeigen, während seine Seele zuckte. Um wieviel besser wäre es, wenn das ganze heuchlerische Spiel nur schon begonnen hätte und im verborgenen seinen regelrechten Lauf nehmen würde, ohne daß es ein Zurück mehr gab!

Es war kein Licht im Salon, nur die Glut des Feuers. Wenn Sylvia nur schon zu Bett gegangen wäre! Dann sah er sie regungslos an dem unverhängten Fenster sitzen.

Er ging zu ihr hin und begann die verhaßte Leier:

»Du hast dich wohl recht einsam gefühlt? Ich mußte länger bleiben, als ich dachte. Ein langweiliger Abend.« Und weil sie sich nicht rührte und auch keine Antwort gab, sondern nur ganz still und bleich dasaß, zwang er sich, näher zu treten, sich über sie zu beugen und ihre Wangen zu berühren; er kniete sogar neben ihr nieder. Da blickte sie sich um; ihr Gesicht war zwar ganz ruhig, aber in ihren Augen glomm ein seltsames Feuer. Mit einem matten, jammervollen Lächeln stieß sie hervor:

»Ach, Mark! Was ist es, was ist es nur? Das Schlimmste ist besser als diese Ungewißheit!«

Vielleicht war es ihr Lächeln, vielleicht ihre Stimme oder ihre Augen – das Eis in Lennan brach. Er ließ alle Heimlichkeit und Vorsicht fallen. Seinen Kopf gegen ihre Brust gelehnt, schüttete er ihr sein ganzes Herz aus, während sie sich umschlungen hielten, sich aneinander klammerten im Halbdunkel wie zwei erschrockene Kinder. Erst als er zu Ende war, wurde ihm klar, daß, wenn sie ihn nicht weggestoßen, seine Berührung nicht geduldet hätte, es lange nicht so schrecklich, lange nicht so schwer zu ertragen gewesen wäre wie ihr bleiches Gesicht und ihre Hände, die sich an ihn klammerten, und ihre Worte: »Ich hätt ja nie geglaubt – du und ich – oh, Mark! – du und ich …« Welch Vertrauen in ihr Zusammenleben, in ihn selbst enthüllten diese Worte! Und doch war es nicht größer, als das seine je gewesen, ja noch immer war. Sie konnte es nicht verstehen, er hatte ja gewußt, daß sie es nie verstehen würde, deshalb hatte er die ganze Zeit so gekämpft, es geheimzuhalten. Sie faßte es genauso auf, als hätte sie alles verloren, und doch war er davon überzeugt, daß sie nichts verloren hatte. Diese Leidenschaft, dieses Dürsten nach Jugend und Leben, diese Tollheit, oder wie man's sonst nennen mochte, war etwas ganz für sich, das gar nichts mit seiner Liebe und seinem Bedürfnis nach ihr zu tun hatte. Wenn sie es ihm nur glauben wollte! Wieder und immer wieder sagte er es ihr; wieder und immer wieder merkte er, daß sie es nicht fassen konnte. Sie konnte nur das eine sehen: daß seine Liebe von ihr auf eine andere übergegangen war –, obgleich das gar nicht zutraf. Plötzlich riß sie sich aus seinen Armen los, stieß ihn von sich und schluchzte auf: »Dieses Mädchen – wie falsch, abscheulich, niederträchtig!« Noch nie hatte er sie so gesehn, mit brennenden Flecken auf den bleichen Wangen, die sanften Lippen und das Kinn verzehrt; die blauen Augen flammten, ihre Brust hob sich schwer, als ob jeder Atemzug aus luftleeren Lungen käme. Und dann erstarb das Feuer in ihr ebenso rasch wieder; sie sank aufs Sofa nieder, bedeckte das Gesicht mit den Armen und wiegte sich verzweifelt hin und her. Sie weinte nicht, nur ab und zu entrang sich ihr ein leises Stöhnen. Und jeder dieser Laute traf Lennan wie der Schrei eines Wesens, das er mordete. Schließlich setzte er sich zu ihr aufs Sofa und sagte:

»Sylvia! Sylvia! Hör auf, hör doch auf!« Und sie verstummte und lag ganz unbeweglich da und ließ sich streicheln und trösten. Doch ihr Gesicht hielt sie verborgen, und nur einmal sagte sie so leise, daß er es kaum verstehen konnte: »Ich kann nicht – ich will dich nicht von ihr trennen.« Und mit dem entsetzlichen Gefühl, daß kein Trost die Wunde in ihrem Herzen zu erreichen oder zu lindern vermochte, konnte er nur immer wieder ihre Hände streicheln und küssen.

Es war grausam – abscheulich – was er getan! Gott wußte, daß er es nicht gesucht hatte – es war einfach über ihn gekommen. Selbst in ihrem Jammer mußte sie doch das einsehn. Bei allem Kummer und aller Selbstverachtung wußte er doch im Innersten seiner Seele, was weder sie noch sonst jemand wissen konnte, daß er dies Gefühl, welches in eine Zeit zurückreichte, da er das Mädchen noch gar nicht gesehen hatte, nicht hätte verhindern können, daß kein Mann dies Gefühl in sich hätte ersticken können. Dieses Hungern und Suchen war ebenso ein Teil seines Selbst wie seine Augen und Hände, ebenso natürlich und unwiderstehlich wie sein Verlangen nach Arbeit oder sein Bedürfnis nach dem Frieden, den Sylvia ihm gab, den nur sie allein ihm geben konnte. Das war das Tragische daran – es wurzelte gänzlich in der innersten Natur des Mannes. Seit das Mädchen in beider Leben getreten, war er seiner Frau im Geiste genauso treu, wie er es stets gewesen. Wenn sie ihm nur ins Herz sehen, ihn nur so sehen könnte, wie er wirklich war, mit all seinen Fehlern und Vorzügen, für die er nicht verantwortlich war, dann würde sie alles verstehen und vielleicht nicht einmal darunter leiden; aber es war ihr unmöglich, und er konnte es ihr nicht klarmachen. Und fast inbrünstig, verzweifelt, mit dem müden Gefühl, daß alle Worte vergeblich waren, bemühte er sich wieder: Ob sie es denn nicht einsehen könnte? Es stünde ja ganz außerhalb seines eigentlichen Wollens – dieses Sehnen, diese Jagd nach Schönheit und Leben, nach seiner eigenen Jugend! Bei diesem Wort sah sie ihn an:

»Und glaubst du, ich wünsche meine Jugend nicht zurück?« Er hielt inne.

Was mußte eine Frau empfinden, wenn ihre Schönheit, der Glanz ihrer Augen und Haare, die Anmut und Geschmeidigkeit ihrer Glieder allmählich dahinschwanden für sie und für den Mann, den sie liebte! Konnte es etwas Schmerzlicheres geben oder eine heiligere Pflicht, als diese Bitternis nicht noch zu vergrößern, die Frau nicht noch in Leid und Alter hineinzustoßen, sondern mitzuhelfen, um den Stern des Glaubens an ihre Reize vor dem Erblassen zu bewahren!

Mann und Frau – beide wünschen ihre Jugend zurück; sie, um ihn damit zu beglücken; er, weil sie ihm – neues Erleben brächte! Nur dieser weltenweite Unterschied!

Er erhob sich und sagte:

»Komm, liebes Kind, wir wollen zu schlafen versuchen.«

Er hatte nicht einmal erklärt, daß er es aufgeben könnte. Die Worte wollten ihm nicht über die Lippen, er hätte sie nicht gesagt, obgleich er wußte, daß sie daran dachte und sich danach sehnte, sie zu hören. Alles, was er hatte sagen können, war:

»Solange du mich brauchst, sollst du mich nicht verlieren« … Und: »Ich will nie wieder ein Geheimnis vor dir haben.«

Oben in ihrem Zimmer lag sie Stunde auf Stunde in seinen Armen, ohne alles Zürnen, aber auch ganz leblos, und ihre Augen waren stets naß, wenn seine Lippen sie berührten.

Welch ein Chaos war doch das Herz eines Mannes, in dem er sich jeden Augenblick verlieren mußte! Welch verwickelte, verworrene Irrpfade ohne Ausweg! Welch rastloser Wechsel der Gefühle! Welcher Kampf zwischen Mitgefühl und Leidenschaft! Welche Sehnsucht nach Frieden!

Und in der fiebrigen Erschöpfung, die fast Schlaf war, wußte Lennan kaum noch, ob es der Rhythmus der Musik oder Sylvias Stöhnen war, das er vernahm, ihr oder Nells Körper, der in seinen Armen lag …

Aber das Leben mußte gelebt, die äußere Ruhe der Welt gegenüber gewahrt, Verabredungen gehalten werden. Und die Gespenster der Nacht verfolgten sie weiter, während der Sonntag seinen gewöhnlichen Lauf nahm. Sie glichen Menschen, die am Rande einer hohen Klippe wandelten und nicht wußten, ob sie beim nächsten Schritt abstürzen würden, oder Schwimmern, die sich aus einem dunklen Wasserwirbel herausarbeiten wollten.

Am Nachmittag gingen sie zusammen in ein Konzert, nur um etwas zu tun – etwas, das sie für ein oder zwei Stunden vor der Möglichkeit bewahrte, von dem einen Thema zu sprechen, das ihnen geblieben war. Ihr Schiff war untergegangen, und für den Augenblick klammerten sie sich an alles, was sie über Wasser halten konnte.

Am Abend kamen ein paar Leute zum Essen, ein Schriftsteller und zwei Maler mit ihren Frauen. Ein qualvoller Abend – besonders, als sich die Unterhaltung jenem ewigen Thema zuwandte: der Freiheit des Geistes, der Seele und des Körpers als Notwendigkeit für den künstlerisch tätigen Menschen. All die abgedroschenen Argumente wurden vorgebracht, und man mußte sich zu ihnen äußern, ohne eine Miene zu verziehen. Aber trotz ihrer Rederei über Freiheit sah Lennan die plötzliche Umkehr seiner Freunde voraus, sowie sie es erfahren würden. Es gehörte sich nun einmal nicht, junge Mädchen zu verführen – als ob nur das Freiheit wäre, wovon die Leute dachten, daß es sich gehöre! Ihr Geschwätz, daß der freie Künstlergeist alles durchleben müsse, würde in dem Augenblick verstummen, wo etwas gegen den ›guten Ton‹ verstieße, so daß sie in Wirklichkeit nicht freier waren als der konventionelle Durchschnittsmensch oder der Priester, der nur immer ›Sünde‹ schreit! Nein, nein! Um widerstehen zu können – wenn ein Widerstand gegen diese lockende Macht überhaupt möglich war –, halfen keine guten Regeln des ›guten Tones‹, keine Dogmen der Religion oder Moral, nichts half, nur ein Gefühl, das stärker wäre als die Leidenschaft selbst. Sylvias Antlitz mit dem erzwungenen Lächeln! – Das war in der Tat Ursache genug, ihn zu verdammen. Keiner ihrer Lehrsätze über die Freiheit konnte diesen Zwiespalt aus der Welt schaffen – den Jammer, das Elend in der Seele eines Mannes, der über ein treues, liebevolles Wesen Leid gebracht.

Endlich aber gingen sie davon mit ihrem ›Besten Dank!‹ und ihrem ›Hat mich sehr gefreut!‹

Und die beiden waren eine zweite Nacht sich selbst überlassen.

Er wußte, daß alles wieder, von vorne beginnen mußte, unvermeidlich, nachdem ihnen der Dolch dieses teuflischen Arguments ins Herz gestoßen und den ganzen Abend darin um und um gedreht worden war.

»Ich will nicht, ich darf dich nicht hungern lassen und dein Schaffen hindern. Denk nicht an mich, Mark! Ich kann es ertragen.«

Und dann brach sie zusammen, schlimmer als in der vergangenen Nacht. Was für eine Gabe, was für eine besondere Gabe doch die Natur besaß, ihre Geschöpfe zu quälen! Wenn ihm jemand gesagt hätte, selbst noch vor einer Woche, daß er solches Leid über Sylvia bringen könnte – Sylvia, die er als Kind mit großen blauen Augen und einer blauen Schleife in dem Flachshaar im Felde vor Stieren, die nur in ihrer Einbildung vorhanden waren, beschützt hatte; Sylvia, in deren Haar sich sein Stern verfangen hatte; Sylvia, die fünfzehn Jahre lang Tag und Nacht seine ergebene Frau gewesen war; die er liebte und noch immer bewunderte – er würde ihn schlankweg der Lüge geziehen haben. Es wäre ihm lächerlich, unglaublich, entsetzlich vorgekommen. Mußten alle verheirateten Männer und Frauen solche Dinge durchmachen – war dies nur eine ganz gewöhnliche Wanderung durch die Wüste? Oder bedeutete es endgültigen Untergang? Tod – elenden, qualvollen Tod in einem Sandsturm?

Wieder eine Nacht der Verzweiflung, und noch immer keine Antwort auf jene Frage.

Er hatte ihr versprochen, Nell nicht wiederzusehen, ohne es ihr zu sagen. Daher schrieb er, als der Morgen kam, nur die Worte auf ein Blatt: ›Komm heute nicht!‹, zeigte es Sylvia und sandte es dann durch einen Diener zu Dromore.

Das bittere Gefühl, mit dem er an diesem Morgen sein Atelier betrat, läßt sich nur schwer beschreiben. Was sollte nur aus seiner Arbeit werden in all diesem Wirrwarr? Konnte er je wieder die nötige Seelenruhe dazu haben? Jene Leute von gestern abend hatten von der ›Inspiration der Leidenschaft und der Erfahrung‹ geredet. Als er sich vor Sylvia verteidigte, hatte er die Worte selbst gebraucht. Sie – das arme Wesen – hatte sie nur nachgesprochen, hatte versucht, sie zu ertragen, sie für wahr zu halten. Aber waren sie denn wahr? Wieder keine Antwort, wenigstens keine, die stichhaltig gewesen wäre. Daß das Eis gebrochen, daß er in der Leidenschaft untergetaucht, in allen Tiefen aufgewühlt war, anstatt im alten Trott weiterzugehen – wer weiß, ob er nicht vielleicht eines Tages dankbar dafür sein mochte? Eines Tages mochte jenseits dieser Wüste wieder schönes Land vor ihm liegen, wo er am Ende noch besser schaffen konnte als zuvor. Doch im Augenblick hätte man ebensogut schöpferische Arbeit von einem zum Tode Verurteilten erwarten können. Sein Leben schien ihm zerstört, ob er nun Nell aufgab und ihn dadurch diese quälende, verlangende Unrast ein für allemal verließ, die eigentlich schon längst hätte befriedigt sein sollen und es doch nicht war; oder ob er Nell nahm mit dem Bewußtsein, daß er eine Frau martere, die ihm teuer war. So weit konnte er heute sehen. Was er später sehen würde, wußte Gott allein. Aber ›Geistesfreiheit‹ – das war in der Tat ein Schlagwort voll bitterer Ironie. Und da, inmitten seiner Werke, überkam ihn – wie einen an Händen und Füßen Gefesselten – eine so wahnsinnige Wut, wie er sie noch nie empfunden. Die Frauen! O diese Frauen! Wenn er nur frei wäre von beiden, von allen Frauen und von Leidenschaft und Mitgefühl, die sie erweckten, so daß sein Hirn und seine Hände wieder leben und wieder arbeiten könnten! Sie sollten ihn nicht erdrosseln, nein, bei Gott, sie sollten ihn nicht zugrunde richten!

Unglücklicherweise erkannte er sogar in seiner Wut, daß Flucht vor beiden ihm nicht das geringste nützen würde. So oder so, die Sache wollte durchgefochten sein. Hätte er nur wenigstens gewußt, was er bekämpfen sollte, die Leidenschaft oder das Mitleid. Doch beide liebte er, und für beide fühlte er Mitleid. Er sah nirgends einen geraden, klaren Weg vor sich: Alles war zu tief in der menschlichen Natur verankert. Und das entsetzliche Empfinden, unaufhörlich wie zwischen zwei Mauern hin und her zu rennen, fing bereits an, auf sein Gehirn zu wirken.

Zwar hatte er hie und da ein paar lichte Augenblicke, wenn die stets wechselnde Natur seiner Qualen ihm ganz besonders interessant und seltsam vorkam; das war jedoch nicht gerade eine Erleichterung, denn so wie bei lange währendem Zahnweh bedeutete es nur, daß sein Empfindungsvermögen für einen Augenblick gelähmt war. Eine schöne Hölle, wahrhaftig!

Den ganzen Tag über hatte er ein Vorgefühl, fast die Gewißheit, daß Nell bei den drei Worten, die er ihr geschickt, Verdacht schöpfen und trotzdem herkommen würde. Doch was hätte er sonst schreiben können? Nichts, was sie nicht noch mehr erschreckt oder ihn noch mehr hätte verwickeln können. Er hatte das Gefühl, daß sie seine Stimmungen mitempfand, daß ihre Augen ihn überall sehen konnten, wie die Augen einer Katze das Dunkel durchdringen. Dies Gefühl hatte ihn mehr oder weniger stets verfolgt seit jenem letzten Oktoberabend, jenem Abend, als sie aus den Ferien zurückgekehrt war – erwachsen. Wie lang war das her? Erst sechs Tage – war es denkbar? Ja, ja! Sie wußte genau, wann ihr Zauber seine Macht verlor, wann der Strom sozusagen erneuert werden mußte. Und gegen sechs Uhr – es war schon dämmerig – hörte er ohne die geringste Überraschung, nur vor Erschöpfung bebend, ihr Pochen. Und ihr so nahe wie möglich, stand er mit verhaltenem Atem dicht an der geschlossenen Tür. Er hatte Sylvia sein Wort gegeben, hatte es aus freiem Willen gegeben. Durch das dünne Holz der alten Tür vernahm er das leise Geräusch ihrer Füße auf dem Pflaster, die ein wenig hin und her scharrten, als flehten sie das unerbittliche Schweigen an. Er wähnte ihren Kopf zu sehen, wie sie, ein wenig nach vorne gebeugt, lauschte. Dreimal klopfte sie, und jedesmal wand sich Lennan vor Qual. Es war so grausam! Bei ihrem Sehersinn wußte sie gewiß, daß er drin war; gerade sein Schweigen mußte es ihr verraten denn sein Schweigen besaß eine Stimme, eine jammervolle, klanglose Stimme. Er hörte ganz deutlich, wie sie seufzte und wie dann ihre Schritte verhallten; und mit den Händen das Gesicht bedeckend, rannte er wie ein Wahnsinniger im Atelier umher.

Kein Laut mehr von ihr! Fort! Es war unerträglich! Er ergriff den Hut und lief hinaus. Wohin? Aufs Geratewohl rannte er nach dem Platz. Dort drüben am Gitter ging sie müde und unentschlossen nach Hause.


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