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Elftes Kapitel

Die mehr als dreißig Kilometer lange Wagenfahrt war vielleicht der qualvollste Teil der Reise für den Jungen. Es ist stets schwer, leiden zu müssen und dabei ruhig zu sitzen.

Als Anna ihn in der vergangenen Nacht verlassen hatte, war er in der Dunkelheit umhergestrichen, ohne recht zu wissen, wohin er ging. Dann stieg der Mond empor, und er fand sich unter dem vorspringenden Dach einer Scheune sitzen, nahe bei der Sennhütte, wo alles schwarz und ruhig war; und unter ihm im Tal lag das mondbeglänzte Dorf mit seinen Dächern und Türmen und den kleinen, schimmernden, nebelhaften Lichtern.

Es wäre ein merkwürdiges Schauspiel für die Eigentümer jener Hütte gewesen, wenn sie ihn zufällig gesehen hätten, wie er im Gesellschaftsanzug, ohne Hut auf dem dunklen, wirren Haar, auf den heubedeckten Brettern gegen ihre Scheune gelehnt saß und in sehnsüchtigem Entzücken vor sich hin starrte. Doch sie gehörten zu den Leuten, denen der Schlaf kostbar ist …

Und nun war ihm alles entrissen worden, in solch ungeheuer weite Ferne entrückt! Würde es denn möglich sein, seinen Vormund zu bewegen, sie nach Hayle einzuladen? Und würden sie auch kommen? Sein Professor würde gewiß nicht gern nach einem Orte gehen, der so abseits auf dem Lande lag, so weit von Büchern und allem andern! Bei dem Gedanken an den Professor runzelte er die Stirn, von Zweifel und Unruhe erfüllt, doch aus keinem andern Grunde. Aber wenn er sie nicht dort haben konnte, wie sollte er die zwei Monate warten, bis das nächste Semester begann? Solche Gedanken gingen ihm im Kopf herum, während der Wagen ihn weiter und weiter von ihr forttrug.

Im Zuge war es besser; die Zerstreuung, die die seltsame Menge von Ausländern ihm bot, das Interesse an fremden Gesichtern und fremden Gegenden – und dann der Schlaf – eine ganze Nacht lang in eine Ecke geschmiegt, vollkommen erschöpft! Und am nächsten Tag wieder neue Gegenden, wieder neue Gesichter. Und allmählich wich sein Schmerz und seine Unruhe einem Gefühl der Erwartung von etwas, das man ihm versprochen hatte und worauf er sich freuen durfte. Endlich Calais und eine nächtliche Überfahrt in einem feuchten kleinen Dampfer, die sommerliche Brise, die ihm Gischt ins Gesicht spritzte, weißschäumende Wogen in der schwarzen See und das wilde Heulen des Windes. Zurück nach London, die Fahrt am frühen Morgen durch die Stadt, die noch im Augustnebel schlief; ein englisches Frühstück: Haferbrei, Hammelkoteletten, Orangenmarmelade. Und schließlich der Zug nach Hause. Auf alle Fälle konnte er ihr schreiben; er riß eine Seite aus seinem kleinen Skizzenbuch und begann:

›Ich schreibe im Zug, verzeihen Sie deshalb, bitte, die zitterige Schrift …‹

Dann wußte er nicht, wie er fortfahren sollte, denn alles, was ihm auf dem Herzen lag, war derart, daß er es ganz unmöglich niederschreiben konnte – was er fühlte, würde auf dem Papier entsetzlich aussehen! Außerdem durfte er doch nichts schreiben, was nicht jedermann hätte lesen können. Was sollte er also sagen?

Zuletzt schrieb er: ›Die Reise war lang, fort von Tirol.‹ (Er wagte nicht einmal zu schreiben ›von Ihnen‹.) ›Ich dachte, sie würde nie enden, aber schließlich hat sie doch geendet – beinahe. Ich habe viel über Tirol nachgedacht. Es war eine herrliche Zeit, die herrlichste Zeit in meinem Leben. Und da sie jetzt vorbei ist, suche ich mich mit dem Gedanken an die Zukunft zu trösten, nicht die allernächste Zukunft, die ist nicht sehr erfreulich. Ich möchte wissen, wie die Berge heute aussehen. Bitte, richten Sie ihnen meine herzlichsten Grüße aus, besonders denen, die wie Löwen aussehen, wenn sie im Mondlicht liegen – hier werden Sie sie schwerlich erkennen.‹ Dann folgte eine Skizze. ›Und das ist die Kirche, an der wir vorbeikamen, wo jemand auf den Knien lag. Und das sollen die ›englischen Moralhelden‹ sein, die eine mit einem Bergstock anstarren, die sehr spät heimkommt – nur daß mir die ›englischen Moralhelden‹ besser gelungen sind als die Dame mit dem Bergstock. Ich wollte, ich wäre einer der ›englischen Moralhelden‹ und jetzt noch in Tirol. Ich hoffe, bald einen Brief von Ihnen zu erhalten, daß Sie im Begriff sind zurückzukommen. Mein Vormund würde sich furchtbar freuen, wenn Sie uns besuchen wollten. Er ist gar kein übler Kerl, wenn man ihn erst näher kennt, und seine Schwester Mrs. Doone und ihre Tochter werden noch nach der Hochzeit dableiben. Es wäre einfach abscheulich, wenn Sie und Mr. Stormer nicht kämen. Ich wollt, ich könnte alles schreiben, was ich über die herrliche Zeit in Tirol fühle, aber Sie müssen sich das, bitte, selber denken.‹

Und ebensowenig, wie er eine Anrede für sie gefunden hatte, wußte er jetzt auch nicht, wie er sich unterzeichnen sollte, und schrieb einfach ›Mark Lennan‹.

Er warf den Brief in Exeter, wo er Aufenthalt hatte, in den Kasten, und seine Gedanken wanderten immer mehr von der Vergangenheit zur Zukunft. Jetzt, da er seiner Heimat näher kam, fing er an, an seine Schwester zu denken. In zwei Tagen würde sie nach Italien abgereist sein, und dann würde er sie lange Zeit nicht wiedersehen. Eine ganze Reihe von Erinnerungen streckte ihm die Hände entgegen. Wie sie oft beide in dem von einer Mauer umgebenen Garten und auf dem vertieften Krocket-Spielplatz zusammen spazierengegangen waren, wobei sie, weil sie zwei Jahre älter und in jenen Tagen größer war als er, ihren Arm um seinen Hals geschlungen und ihm Geschichten erzählt hatte. Das erste Gespräch an jedem Ferienanfang, wenn er zu ihr zurückkam; der erste Tee – mit unbeschränkter Marmelade – in dem alten Schulzimmer, das Fenster mit Steinpfeilern und Kattunvorhängen hatte, nur er, sie und die alte Tingle (Miß Tring, die ehrwürdige Gouvernante, die jetzt ihren Schützling verlor) und manchmal noch das kleine Ding, die Sylvia, wenn sie gerade mit ihrer Mutter zu Besuch dort war. Cicely hatte ihn stets verstanden, wenn er ihr erklärte, wie dumm die Schule war, weil die Vögel und andern Tiere nur dazu zu existieren schienen, um umgebracht zu werden, und niemand Interesse daran fand, sie zu zeichnen und zu modellieren oder sonst etwas Vernünftiges mit ihnen anzufangen. Sie pflegten zusammen im Park umherzustreifen oder am Bach entlang, wo alles so wild und ungewöhnlich aussah – die knorrigen Eichbäume und die riesigen Felsblöcke, von denen der alte Kutscher Godden behauptete: ›Die sind gewiß noch von der Sintflut zurückgeblieben, junger Herr‹. Diese und noch tausend andere Erinnerungen stürmten auf ihn ein. Und wie der Zug immer näher an die Station heranfuhr, machte er sich eifrigst bereit, aus dem Wagen zu springen, um sie zu begrüßen. Das Wartezimmer und die Holzpfosten des Bahnsteigs waren über und über mit blühendem Geißblatt bedeckt – herrlich in diesem Jahr; und dort stand sie allein auf dem Bahnsteig. Aber das war ja gar nicht Cicely! Ganz verwundert stieg er aus, als hätten ihm seine Erinnerungen einen Streich gespielt. Es war zwar auch ein Mädchen, doch sah sie nur wie etwa sechzehn aus und trug einen großen Sonnenhut, der ihr Haar und das halbe Gesicht verdeckte. Sie hatte einen blauen Rock an und ein paar Geißblattblüten im Gürtel stecken. Sie schien ihn anzulächeln und zu erwarten, daß er ihr Lächeln erwidern würde; und deshalb lächelte auch er sie an. Sie kam auf ihn zu und sagte:

»Ich bin Sylvia.«

Er erwiderte: »Oh! Tausend Dank! Furchtbar nett von dir, mich abzuholen.«

»Cicely hat so viel zu tun. Wir haben nur den kleinen Wagen. Hast du viel Gepäck?«

Sie ergriff seinen Mantelsack, und er nahm ihn ihr wieder ab; sie ergriff seine Handtasche, und er nahm sie ihr wieder ab; dann gingen sie zu dem Wägelchen. Ein kleiner Groom stand dort bereit, der einen kleinen, lebhaft tänzelnden hellen Rotschimmel mit schwarzer Mähne und schwarzem, buschigem Schweif am Zügel hielt.

Sie sagte: »Hast du was dagegen, wenn ich lenke? Ich lern es gerade.«

Und er erwiderte: »Nein, durchaus nicht.«

Sie stieg in den Wagen; er merkte, daß ihre Augen ganz aufgeregt dreinsahen. Dann brachte man seinen Koffer, der mit den übrigen Sachen hinten verstaut wurde, und er nahm neben ihr Platz.

Sie sagte: »Laß los, Billy!«

Der Rotschimmel flog an dem kleinen Groom vorbei, dessen Stulpenstiefel zu funkeln schienen, als er hinten aufsprang. Sie verließen den Bahnhof und sausten um die Ecke, und als er merkte, daß ihr Mund ein ganz klein wenig geöffnet war, als hätte sie das verwirrt, sagte er:

»Er zerrt ein bißchen.«

»Ja – aber ist er nicht reizend?«

»Wirklich ein famoser Kerl.«

Ah! Wenn sie kam, wollte er sie fahren; allein mit ihr in dem kleinen Wagen, würde er ihr die ganze Gegend zeigen.

Da wurde er aus seinem Traum aufgescheucht.

»Ach, er scheut gewiß!« Gleich darauf sprang der Rotschimmel zur Seite. Er ging in leichten Galopp über.

Sie waren an einem Schwein vorbeigekommen.

»Sieht er jetzt nicht prächtig aus? Hätt ich ihm die Peitsche geben sollen, wie er gescheut hat?«

»Aber nein!«

»Warum nicht?«

»Weil Pferde Pferde sind und Schweine Schweine; es ist nur natürlich, wenn die Pferde vor ihnen scheuen.«

»Ach so!«

Er sah sie von der Seite an. Wange und Kinn zeigten ganz weiche Linien und gefielen ihm recht gut.

»Weißt du, ich hab dich zuerst gar nicht erkannt!« sagte er. »Du bist so schrecklich in die Höhe geschossen.«

»Ich hab dich sofort erkannt. Deine Stimme ist noch immer so samtweich.«

Wieder trat ein Schweigen ein, bis sie sagte:

»Er zerrt ganz tüchtig, nicht wahr? Weil er wieder nach Hause will.«

»Soll ich fahren?«

»Ja, bitte!«

Er stand auf und ergriff die Zügel, und sie schlüpfte vor ihm darunter durch; ihr Haar duftete genauso wie Heu, als sie sanft gegen ihn geschleudert wurde.

Jetzt, da sie nicht mehr zu lenken brauchte, sah sie ihn immerzu aus tiefblauen Augen an.

»Cicely hat gefürchtet, daß du nicht kommen würdest«, sagte sie unerwartet. »Was für Leute sind diese alten Stormers eigentlich?«

Er fühlte, wie er über und über rot wurde, würgte etwas hinunter und gab zur Antwort:

»Nur er ist alt. Sie ist nicht mehr als ungefähr fünfunddreißig.«

»Das ist aber alt.«

Er wollte sagen: Freilich ist's alt für so 'n Küken wie du! Statt dessen sah er sie nur an. War sie denn ein Küken? Für ein Mädchen schien sie ganz groß zu sein und auch nicht sehr mager, und ihr Gesicht hatte einen sanften, freimütigen Ausdruck, als verlangte sie, daß man nett zu ihr sein sollte.

»Ist sie sehr hübsch?«

Diesmal wurde er nicht rot, so sehr setzte ihn diese Frage in Verwirrung. Es schien ihm, daß ein ›Ja‹ der ganzen Welt seine Anbetung verraten müsse; doch etwas anderes zu sagen wäre wie Untreue gewesen. So sagte er am Ende doch »Ja« und lauschte gespannt auf den Ton seiner eigenen Stimme.

»Das hab ich mir gedacht. Hast du sie sehr gern?«

Wieder würgte er etwas hinunter und sagte abermals: »Ja.«

Er hätte dieses Mädchen hassen können, aber es war ihm unmöglich – sie sah so sanft und vertrauensvoll aus. Als sie jetzt vor sich hin starrte, waren ihre Lippen noch immer ein wenig geöffnet; es war also vorher gar nicht deshalb gewesen, weil Bolero gezerrt hatte; trotzdem waren sie hübsch, ebenso wie die kurze, gerade, kleine Nase und ihr Kinn, und sie war furchtbar blond. Seine Gedanken flogen zu jenem andern Gesicht zurück, das so herrlich, so voller Leben war. Plötzlich konnte er es sich unmöglich wieder vorstellen, zum erstenmal seit seiner Abfahrt konnte er es nicht deutlich vor sich sehen.

»Ach, sieh nur!«

Ihre Hand zog ihn am Arm. Dort im Feld hinter der Hecke sauste ein Habicht wie ein Stein zu Boden.

»Ach, Mark! Ach! Ach! Er hat's gepackt!«

Sie bedeckte ihr Gesicht mit beiden Händen, und der Habicht, der ein junges Kaninchen in den Klauen trug, schwebte wieder empor. Es war ein so schöner Anblick, daß ihm das Kaninchen eigentlich gar nicht leid tat; doch wollte er sie trösten und beruhigen und sagte:

»Es ist ganz in Ordnung, Sylvia; glaub mir's nur! Siehst du, das Kaninchen ist doch schon tot. Und alles ist auch ganz natürlich.«

Sie nahm die Hände von ihrem Gesicht, das aussah, als wollte sie weinen.

»Das arme kleine Kaninchen! Es war so 'n ganz kleines!«


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