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Siebzehntes Kapitel

Ohne ein einziges Wort zu sagen, waren sie durch die Lorbeer – und Schneeballbüsche zum Flußufer hinuntergekommen; dann hatte er sich nach rechts gewandt und war am Wasser entlang, vorbei am Taubenhaus, zu den Eiben gegangen. Dort, im Pechdunkel des Laubwerks, blieb er stehen. Es kam ihr entsetzlich still vor; wenn man nur den leisesten Windhauch verspürt, nur den Laut eines einzigen Vogels vernommen hätte! Aber nichts, nichts war zu hören als sein tiefes, unregelmäßiges, bebendes Atemholen. Wozu hatte er sie hergebracht? Um ihr zu zeigen, wie sie so ganz sein Eigentum war? Wollte er denn nicht sprechen, wollte er denn nicht sagen, was er sich zu sagen vorgenommen hatte? Wenn er sie nur nicht anrühren würde!

Dann regte er sich, und ein loser Stein fiel klatschend ins Wasser. Unwillkürlich schnappte sie nach Luft. Wie schwarz der Fluß nur aussah! Doch langsam stahl sich am jenseitigen Ufer hinter der dunklen Gestalt der riesigen Pappel ein Lichtschimmer hervor, über den schwarzen Himmel hin – der Mond, dessen Rand sie jetzt über den Wäldern aufsteigen sah und der von massivem Gold wie eine Münze war. Ihr Herz flog jenem warmen Licht entgegen. Es gab doch wenigstens einen freundlichen Bewohner dieser Finsternis!

Plötzlich fühlte sie seine Hände an ihrer Taille. Sie rührte sich nicht, das Herz pochte ihr zu stürmisch; aber etwas wie ein Gebet flatterte daraus zu ihren Lippen empor. Welche Kraft lag in der zitternden Umklammerung jener schweren Hände!

Seine Stimme klang ganz heiser und ungewohnt: »Olive, so geht's nicht weiter. Ich halt es nicht länger aus! Herrgott! Ich halt es nicht länger aus!«

Es gab ihr einen Stich, es kam ihr wie eine Überraschung. Er hielt es nicht länger aus! Sie mochte ihn wohl tot wünschen, doch leiden lassen wollte sie ihn nicht – Gott war ihr Zeuge! Und dennoch konnte sie nicht hervorbringen: Das hab ich nicht gewollt!, während seine Hände sie umklammert hielten.

Er gab einen Laut von sich, der einem Stöhnen glich, und fiel auf die Knie. Wie sie sich so von ihm festgehalten fühlte, versuchte sie seine Stirn, die glühend heiß war, von ihrer Taille wegzustoßen. Sie hörte ihn murmeln: »Hab Erbarmen! Hab mich doch ein wenig lieb!« Aber der Griff seiner Hände, die auf der dünnen Seide ihres Kleides unaufhörlich hin und her fuhren, machte sie schwindeln. Sie versuchte sich loszuwinden, konnte es jedoch nicht, stand wieder regungslos da und fand endlich Worte.

»Erbarmen? Kann ich mich denn zur Liebe zwingen? Das hat noch niemand gekonnt, seit die Welt besteht. Bitte, bitte, steh doch auf! Laß mich los!«

Er aber zog sie zu sich nieder, so daß er sie ins Gras auf die Knie zwang, wobei ihr Antlitz dem seinen ganz nahe kam. Ein leises Stöhnen entrang sich ihm. Es war gräßlich – ganz gräßlich! Und in wirren Worten fuhr er fort zu bitten, ohne ihr ins Gesicht zu sehen. Es schien ihr, als ob es nie enden sollte, als ob sie von dieser Umklammerung sich nie befreien, dieser stammelnden, flüsternden Stimme nie entfliehen könnte. Instinktiv blieb sie ganz regungslos und schloß die Augen. Dann fühlte sie zum erstenmal an jenem Abend seinen Blick auf ihrem Antlitz, und es ward ihr klar, daß er nicht eher gewagt hatte sie anzusehen, bis ihre Augen geschlossen waren, aus Angst, in ihnen die Wahrheit zu lesen. Sie sagte flehend:

»Bitte, laß mich los! Ich werde ohnmächtig.«

Seine umklammernden Arme lösten sich; sie sank hin und blieb unbeweglich im Grase liegen. Nach einem so tiefen Schweigen, daß sie kaum mehr wußte, ob er noch da war, fühlte sie seine heiße Hand auf ihrer bloßen Schulter. Sollte alles wieder von vorne anfangen? Sie wich noch weiter zurück, und ein leises Stöhnen entfuhr ihr. Plötzlich ließ er sie los, und als sie endlich aufsah, war er fort.

Sie erhob sich zitternd und entfernte sich rasch von den Eiben. Sie versuchte zu denken, versuchte genau zu begreifen, was dies für sie, für ihn, für ihren Geliebten bedeutete. Aber sie konnte es nicht. Ihre Gedanken waren in die gleiche atemlose Finsternis gehüllt, die über dieser Nacht brütete. Ach, aber die Nacht besaß jenes blaßgoldene Mondlicht, sie jedoch gar nichts, nicht den leisesten Lichtschimmer; ebenso mochte man versuchen, das Dunkel jener Wasserfläche durchdringen zu wollen.

Sie fuhr mit den Händen über Gesicht, Haar und Kleid. Wie lang hatte es eigentlich gedauert? Wie lang waren sie hier draußen gewesen? Und langsam begann sie nach dem Haus zurückzugehen. Gott sei Dank, sie hatte sich nicht von Furcht oder Mitleid hinreißen lassen, keine Lügen gestammelt, keine Liebe geheuchelt und ihr Herz verleugnet. Das wäre das einzige gewesen, dessen Erinnerung sie nicht hätte ertragen können! Sie stand lange da und starrte zu Boden, als versuchte sie, die Zukunft in ihren dunklen Blumenbeeten zu lesen; dann raffte sie sich auf und eilte ins Haus. Niemand war auf der Veranda, niemand im Salon. Sie sah nach der Uhr, Fast elf. Nachdem sie dem Dienstmädchen geläutet hatte, das die Fenster schließen sollte, stahl sie sich hinauf in ihr Zimmer. War ihr Gatte weggegangen, wie er gekommen? Oder würde sie bald jenes Bangen noch einmal durchzukosten haben, das ihr unausgesetzt in allen Gliedern lag, das Bangen vor der Nacht, wo er nahe war? Sie beschloß, nicht zu Bett zu gehen, rückte einen Liegestuhl zum Fenster, warf sich einen Mantel um und lehnte sich zurück.

Die Blume an ihrem Kleid, die wie durch ein Wunder während jener finstern Minuten auf dem Grase nicht zerdrückt worden war, stellte sie in Wasser neben sich ans Fenster – Marks Lieblingsblume, wie er ihr einmal gesagt hatte; ihr Duft und ihre Farbe, die Erinnerung an ihn waren ihr ein Trost.

Seltsam, daß sie trotz all der Gesichter, die sie gesehen, und all der Männer, die sie in ihrem Leben kennengelernt, keinen einzigen geliebt hatte, bis sie Lennan getroffen! Sie war sogar überzeugt gewesen, daß die Liebe nie zu ihr kommen würde, hatte sich gar nicht allzusehr danach gesehnt, hatte geglaubt, ganz gut ohne sie auszukommen und schließlich dahinzugehen, ohne den Hochsommer je gekannt oder recht herbeigewünscht zu haben. Nun hatte sich die Liebe an ihr gerächt für all die Gleichgültigkeit, mit der sie sie bisher behandelt hatte, hatte sich an ihr gerächt um der einen verhaßten Liebe willen, die heute nacht vor ihr auf den Knien gelegen. Es hieß, die Liebe käme einmal zu jedem Mann und zu jeder Frau, dieser Zauber, dies dunkle, wonnige Gefühl, ohne daß man hätte sagen können, wieso und warum. Sie hatte nicht daran geglaubt, doch jetzt kannte sie's. Was nun auch kommen mochte, sie hätte es nicht anders haben wollen. Da sich auf Erden alles änderte, mußte auch sie sich ändern und alt werden und würde dann nicht mehr schön genug für ihn sein, doch dies Gefühl in ihrem Herzen konnte sich nicht ändern. Dessen war sie sicher. Es war, als hätte etwas gesagt: ›Es ist auf ewig, übers Leben hinaus, über den Tod hinaus, es ist auf ewig! Er wird zu Staub, und du wirst zu Staub, doch eure Liebe wird weiterleben! Irgendwo – in den Wäldern, bei den Blumen oder unten im dunklen Wasser wird sie geistern! Nur ihretwegen habt ihr ja gelebt …‹ Dann bemerkte sie, wie ein zartes, silberflügeliges Geschöpfchen, ganz verschieden von jeder andern Motte, die sie bisher gesehen, sich auf ihrem Mantel dicht an ihrem Halse niedergelassen hatte. So winzig war es und so müde, schien zu schlafen, nachdem es aus der atemlosen Nacht hereingeflattert war – vielleicht weil es ihre weiße Gestalt für ein Licht gehalten hatte. Welch dunkle Erinnerung erweckte es doch – an ihn, an etwas, das er getan, in der Dunkelheit, in einer Nacht wie dieser! Ach ja, der Abend nach Gorbio, der kleine Nachtschmetterling auf ihrem Knie! Damals hatte er sie berührt, als er jenes traute, bleiche, samtäugige Dingelchen von ihr entfernte!

Sie lehnte sich hinaus, um Luft zu schöpfen. Welch eine Nacht, deren Sterne sich verbargen in der schweren, warmen Atmosphäre; deren kleiner, runder, güldner Mond undurchsichtig war! – Eine Nacht wie ein schwarzes Stiefmütterchen mit einem kleinen güldnen Herzen! Und schweigsam! Denn von den Bäumen, die nächtlich so viel flüsterten, hatten selbst die Espen die Stimme verloren. Die unbewegliche Luft schmiegte sich lind an ihre Wangen. Doch in all der Stille, welch Gefühl, welche Leidenschaft – wie in ihrem eigenen Herzen! Konnte sie ihn nicht an sich ziehen aus jenen Wäldern, aus jenem dunklen, glitzernden Strom, aus den Blumen und Bäumen und der Leidenschaftsstimmung des Himmels, ihn an sich ziehen, die hier wartete, so daß sie nicht mehr dies Geschöpf voll Sehnsucht blieb, sondern sich ihm und der Nacht vereinte? Und sie ließ den Kopf auf die Hände niedergleiten.

Die ganze Nacht blieb sie dort am Fenster, manchmal in ihrem Stuhl schlummernd und dann nieder erschrocken in die Höhe fahrend, wenn sie glaubte, ihr Gatte beuge sich über sie. War er hier gewesen und hatte sich wieder fortgeschlichen? Und die Dämmerung kam, taugrau, sinnend und verschleiert, um jeden schwarzen Baum gewoben und um das weiße Taubenhaus, und schärpenartig auf den Fluß herniedersinkend. Und Vogelgezwitscher regte sich in den noch unsichtbaren Blättern.

Dann schlief sie ein.


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