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Elftes Kapitel

Als Lennan nach der Begegnung mit den Ercotts wieder nach Hause kam, fand er in seinem Briefkasten eine Visitenkarte ›Mrs. Doone‹ und ›Miß Sylvia Doone‹ und mit Bleistift darauf die Worte geschrieben: ›Bitte komm doch zu uns, ehe wir nach Hayle fahren. Sylvia.‹ Ausdruckslos starrte er die mädchenhaften Schriftzüge an, die er so gut kannte.

Sylvia! Wohl nichts hätte es ihm so klarmachen können, wie in diesem Wirbelsturm der Leidenschaft die Welt um ihn her versunken war. Sylvia! Er hatte fast ihre Existenz vergessen; und doch war er erst im vorigen Jahr, nachdem er sich in London endgültig niedergelassen, recht oft mit ihr zusammen gewesen und hatte oft liebevoll an sie gedacht – an ihr blaßgoldenes Haar, ihren aufrichtigen Blick, ihre Anmut. Dann waren sie des Gesundheitszustandes ihrer Mutter wegen für den Winter nach Algier gegangen, um Erholung zu suchen.

Als sie zurückkamen, vermied er es bereits, sie zu besuchen, obzwar das noch vor Olives Reise nach Monte Carlo war und er sich noch nicht einmal seine Liebe eingestanden hatte. Und seit damals – hatte er kein einziges Mal an sie gedacht. Kein einziges Mal! Die Welt war in der Tat versunken. ›Bitte, komm doch zu uns. Sylvia.‹ Der bloße Gedanke daran irritierte ihn. Kein Vergessen seines Wehs und seiner Ungeduld konnte er dort erhoffen.

Und dann kam ihm der Gedanke: Warum die Stunden bis zur morgigen Zusammenkunft nicht damit totschlagen, daß er auf der Themse ruderte und an ihrem Haus vorbeifuhr? Es ging noch ein Zug hinaus, den er erreichen konnte.

Nach Einbruch der Dunkelheit kam er im Dorfe an und verbrachte die Nacht im Gasthof, stand am folgenden Morgen zeitig auf, nahm ein Boot und ruderte stromabwärts. Die Anhöhen des jenseitigen Ufers waren von hohen Bäumen bestanden. Die Sonne schien mild auf ihre Blätter, und eine Brise, die das Schilfrohr bog und die Wasserblumen leise schaukelte, kräuselte den hellen Strom. Ein schmaler, durchsichtiger Wolkenstreif dehnte sich über den blauen Himmel. Er zog die Ruder ein, ließ sich treiben, wobei er den Ringeltauben lauschte und die Schwalben auf ihrer Jagd beobachtete. Wenn sie doch hier wäre! Einen langen Tag so mit ihr verbringen und sich vom Strome treiben lassen! Nur einmal so vor seiner Sehnsucht Ruhe haben! Ihr Landhaus lag, wie er wußte, auf derselben Seite wie das Dorf und einer Insel schräg gegenüber. Sie hatte ihm von einer Eibenhecke und einem weißen Taubenschlag erzählt, die fast am Wasser standen. Er kam an die Insel heran und ließ sein Boot in das Stauwasser gleiten. Es war ganz von Weiden und Erlen überdacht, selbst in diesem frühen Morgenglanze finster und wunderbar still. Es war nicht genug Raum zum Rudern da; er ergriff den Bootshaken und versuchte den Kahn fortzustoßen, aber das grüne Wasser war zu tief und zu sehr von großen Wurzeln durchwachsen, so daß er nur weiterkam, indem er sich mit dem Haken von Ast zu Ast vorwärtszog. Die Vögel schienen dies Dunkel zu meiden, nur eine einzige Elster flog über den kleinen, hellen Ausschnitt des Himmels und verschwand tief hinter den Weiden. Die Luft hatte hier einen süßlichen, jedoch dumpfen Geruch zu üppigen Laubwerks; alle Freude schien hier begraben. Er war froh, an einer riesigen Pappel vorbei wieder in das zitternde Gold und Silber des Morgens hinauszugelangen. Und fast im selben Augenblick sah er die Eibenhecke am Rande eines hellgrünen Rasens und ein cremeweiß angestrichenes Taubenhaus auf einem hohen Pfahl. Eine Anzahl Ringeltauben und schneeweißer Tauben saßen hier oder flogen umher; und jenseits des Rasens konnte er die dunkle Veranda eines niederen Hauses erblicken, das von gerade verblühenden Glyzinen umrankt war. Ein Dufthauch von spätem Flieder und frischgemähtem Gras wurde zu ihm herübergetragen, zusammen mit dem Geräusch einer Mähmaschine und dem Gesumme zahlloser Bienen. Es war wunderschön hier, und über allem schien trotz der Ruhe etwas von jener Lebendigkeit zu liegen, die er so sehr an ihrem Antlitz liebte, an ihrem losen gewellten Haar und dem raschen, sanften Blick ihrer Augen. Oder war es nur das Dunkel der Eibenbäume, das Weiß des Taubenschlags und die Tauben selbst in ihrem lebendigen Treiben?

Dort lag er lange Zeit dicht am Ufer und gab acht, nicht die Aufmerksamkeit des alten Gärtners zu erregen, der planmäßig seine Maschine über den Rasen hin und her zog. Wie er sich danach sehnte, sie bei sich zu haben! Wunderbar, daß es im Leben solche Schönheit, solch wilde Sanftheit gab, daß einem das Herz vor Entzücken weh tat, und in diesem selben Leben graue Gesetze und starre Mauern – Gräber des Glücks! Daß sich die Türen vor der Liebe und Freude verschließen sollten! Es gab nicht allzuviel davon in der Welt. Sie, der Geist dieses daseinsfrohen, elfengleichen Sommers, mußte vor der Zeit im Winterfrost des Leids erstarren. Der Gedanke daran war so töricht, so hassenswert; er schien so grausam und unnatürlich, so schauerlich wie eine Leiche, so engherzig und überspannt. Welchen Zweck hatte es nur, daß sie unglücklich sein sollte? Selbst wenn er sie nicht geliebt hätte, wäre ihm ihr Schicksal ebenso verhaßt gewesen – Geschichten von eingekerkerten Menschenleben hatten schon in seiner Knabenzeit seinen Zorn erregt.

Sanfte, weiße Wolken – jene lichten Engel des Flusses, die niemals lange fortbleiben – begannen jetzt ihre Schwingen über die Wälder zu breiten; und der Wind hatte sich gelegt, so daß die schläfrige Wärme und das Raunen des Sommertags schwer über dem Wasser lag. Der alte Gärtner war mit dem Mähen fertig und brachte einen kleinen Korb voll Körner, um die Tauben zu füttern. Lennan sah zu, wie sie herbeikamen und die Ringeltauben, so zierlich und mutwillig, unter sich blieben. Anstelle des Alten sah er eigentlich sie, wie sie aus ihren Händen die Vögel der Cypris fütterte. Was für eine Gruppe hätte er schaffen können, sie mit den Vögeln, die ihr auf Arm und Schulter saßen oder sie umflatterten! Wenn sie sein wäre, was könnte er nicht alles vollbringen, um sie unsterblich zu machen – wie die alten Italiener, die in ihren Werken ihre Geliebten der Nachwelt überliefert hatten …

Zwei Stunden, ehe er wagte, sie zu erwarten, war er wieder in seiner Londoner Wohnung. Da er allein hauste und nur eine Aufwartefrau hatte, die jeden Morgen für eine oder zwei Stunden kam, Staub aufwirbelte und dann wieder verschwand, brauchte er keine Vorsichtsmaßregeln zu treffen. Und nachdem er Blumen beschafft und Obst und Kuchen, die sie gewiß nicht essen würden, nachdem er den Teetisch gedeckt und mindestens zwanzigmal die Runde gemacht, setzte er sich mit einem Buch an das kleine runde Fenster, um ihre Ankunft zu erwarten. Dort saß er ganz still, ohne ein Wort zu lesen, befeuchtete fortwährend seine trockenen Lippen und seufzte, um die Spannung seines Herzens zu lösen. Endlich sah er sie kommen. Sie ging dicht an den Gittern der Häuser entlang und blickte weder rechts noch links. Sie trug ein Batistkleid und einen Strohhut von blassestem Kaffeebraun, mit schmalem schwarzem Samtband. Sie kreuzte die Seitenstraße, hielt eine Sekunde inne, sah sich rasch um und kam dann entschlossen heran. Warum liebte er sie eigentlich so? Worin lag das Geheimnis ihrer Anziehungskraft? Gewiß war's keine bewußte Lockung. Niemals hatte jemand weniger versucht zu fesseln. Er konnte sich nicht der geringsten Kleinigkeit erinnern, durch die sie ihn hätte an sich ziehen wollen. War es vielleicht gerade ihre Passivität, ihr angeborener Stolz, der niemals etwas anbot oder forderte, etwas wie sanfter Stoizismus in ihrem ganzen Wesen; dies und ein geheimnisvoller Reiz, so zart und intim wie der Duft einer Blume?

Er wartete mit dem Öffnen, bis er ihren Schritt vor der Tür vernahm. Sie kam herein, ohne ein Wort zu sagen oder ihn auch nur anzusehen. Und auch er sprach kein Wort, bis er die Tür geschlossen und sich ihrer vergewissert hatte. Dann wandten sie sich einander zu. Ihre Brust hob sich ein wenig unter dem dünnen Kleid, doch war sie gefaßter als er, denn sie besaß jene wundervolle Gelassenheit schöner Frauen in allen Stadien der Liebe, die zu sagen schien: Dies ist mein Element!

Sie standen und blickten einander an, als ob sie sich nicht satt sehen könnten, bis er endlich sagte:

»Ich hab zu sterben geglaubt, eh dieser Augenblick da war. Keine Minute vergeht, in der ich mich nicht so entsetzlich nach dir sehne, daß ich kaum leben kann.«

»Und glaubst du, ich sehn mich nicht nach dir?«

»Dann komm doch zu mir!«

Sie sah ihn traurig an und schüttelte den Kopf.

Er hatte ja gewußt, daß sie's nicht tun würde! Er hatte sie nicht verdient. Mit welchem Recht konnte er von ihr verlangen, gegen die Welt anzukämpfen, allem Trotz zu bieten, solches Vertrauen in ihn zu setzen – jetzt schon? Er hatte nicht das Herz, sie zu drängen, und fing an, die lähmende Wahrheit zu begreifen, daß er nicht mehr diesen oder jenen Entschluß fassen konnte; wer so liebte wie er, hatte aufgehört, ein Einzelwesen mit eigenem Willen zu sein. Er war zu sehr eins mit ihr geworden und konnte nur handeln, wenn ihr und sein Wille sich zu einem verschmolzen. Niemals würde er zu ihr sagen können: ›Du mußt!‹ Er liebte sie zu sehr. Und sie wußte es. So blieb ihm denn nichts andres übrig, als sein Leid zu vergessen und die Stunde zu einer glücklichen zu machen. Wie aber stand es um jene andre Wahrheit – daß es in der Liebe keine Pause, keine Rast gibt? Bei jedem Begießen, wenn es auch noch so spärlich ist, wächst die Blume, bis ihre Zeit kommt, gepflückt zu werden … Diese Oase in der Wüste, diese wenigen Minuten mit ihr allein wurden von einem heißen Fieberwind durchbraust. Dichter bei ihr zu sein! Wie nicht danach trachten? Wie sich nicht nach ihren Lippen sehnen, wenn er nur ihre Hand küssen durfte? Wie nicht von dem Gedanken vergiftet werden, daß sie ihn in wenigen Minuten verlassen und zu jenem andern zurückgehen würde, der, obgleich sie ihn verabscheute, sie sehen und berühren konnte, wann es ihm gefiel? Sie saß in demselben Stuhl zurückgelehnt, wo er sie in Gedanken gesehen hatte, und er wagte nur zu ihren. Füßen zu sitzen und zu ihr aufzublicken. Und was ihm noch vor einer Woche Entzücken bereitet hätte, jetzt wurde es ihm fast zur Qual, so wenig stillte es sein Sehnen. Auch bereitete es ihm Pein, seine Stimme der nüchternen Anmut der ihren anzupassen. Und bitter dachte er: Wie kann sie nur dasitzen und nicht ebenso nach mir verlangen wie ich nach ihr? Plötzlich, wie ihre Finger sein Haar berührten, verlor er die Selbstbeherrschung und küßte ihre Lippen. Sie ließ es nur eine Sekunde lang geschehen.

»Nein, nein – du darfst nicht!«

Diese traurige Überraschung ernüchterte ihn sofort.

Er stand auf, trat von ihr zurück und bat sie um Verzeihung.

Nachdem sie fort war, setzte er sich in den Stuhl, in dem sie gesessen hatte. Ihre Umarmung, der Kuß, den er sie gebeten hatte zu vergessen – zu vergessen! Nichts konnte das wieder ungeschehen machen. Er hatte unrecht getan, hatte sie erschreckt, hatte sich unritterlich benommen! Und dennoch – ein Lächeln höchster Glückseligkeit umspielte seine Lippen. Sein schwer zu befriedigendes Wesen, seine Phantasie gaukelte ihm fast vor, daß dies alles sei, was er begehrte.

Wenn er jetzt nur die Augen schließen könnte und dahingehen, ehe ihm dieser Augenblick halber Erfüllung entschwand!

Und das Lächeln noch immer auf den Lippen, lehnte er sich zurück und sah den Fliegen zu, wie sie um die Hängelampe wirbelten und jagten. Sechzehn waren es, die da umherwirbelten und sich jagten – ohne Rast und Ruh.


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