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Achtzehntes Kapitel

Als sie mit einem Lächeln am Morgen erwachte, stand Cramier neben ihrem Stuhl. Sein finsteres, verbittertes Gesicht hatte den müden, stieren Blick eines Mannes, der stark getrunken hat.

»Hm!« sagte er, »ein solches Nachtlager scheint also deinen Träumen nicht zu schaden. Ich will sie nicht stören. Ich fahr jetzt in die Stadt zurück.«

Wie ein erschreckter Vogel blieb sie regungslos sitzen und starrte seinen Rücken an, wie er im Fenster lehnte, bis er sich ihr wieder zuwandte:

»Aber das eine sag ich dir: Was ich nicht haben kann, soll auch kein andrer haben! Verstehst du mich? Kein andrer!« Und er beugte sich dicht zu ihr herab und wiederholte: »Verstehst du mich – du schlechtes Weib!«

Vier Jahre voll Widerwillen seine Berührung erduldet zu haben – vier Jahre unausgesetzten Bemühens, diesen Widerwillen zu überwinden! Und nun – schlechtes Weib! Nicht wenn er sie umbrächte, würde sie jetzt etwas entgegnen!

»Hörst du?« wiederholte er, »laß dir das gesagt sein! Ich red im Ernst.«

Er packte die Lehnen ihres Stuhles so krampfhaft, daß sie erzitterten. Würde er ihr jetzt mit der Faust ins Gesicht schlagen, das sie noch immer zu einem Lächeln zwang? Doch in seine Augen trat nur ein Ausdruck, den sie nicht verstehen konnte.

»Also jetzt weißt du's!« sagte er und schritt schwer auf die Tür zu:

Im Augenblick, als er fort war, sprang sie auf. Jawohl, sie war ein schlechtes Weib! Ein Weib, das am Ende seiner Kräfte stand! Ein Weib, das haßte, wo es lieben sollte! Ein Weib im Kerker! Schlechtes Weib! Ein Martyrium weiter zu ertragen, nun doch sein Glaube an sie schon geschwunden, wäre geradezu verrückt! Wenn sie ihm schlecht und falsch erschien, was für einen Zweck hatte es dann noch, ihm etwas andres vorzutäuschen? Nicht länger sollten die Worte des alten Liedes wahr sein: ›Sie saß und seufzte – zupfte Flachs, zupfte Flachs.‹ Nicht länger wollte sie so entsetzlich nach Liebe hungern und die Nächte in so banger Qual verbringen wie die letzte, deren Leidenschaft sie nicht hatte stillen dürfen!

Und während sie sich anzog, war sie erstaunt, daß sie nicht müde aussah. Nur rasch fort! Und sogleich dem Geliebten die Botschaft senden, daß er zu ihr eile, solang er noch sicher war, damit sie ihm sagen könne, sie wolle aus dem Kerker zu ihm! Sie würde ihm telegraphieren, heute abend, der hohen Pappel gegenüber, in einem Boot auf sie zu warten. Sie, die Tante und der Onkel waren zwar zum Abendessen ins Pfarrhaus geladen, aber sie würde in der letzten Minute Kopfweh vorschützen. Nachdem die Ercotts fort waren, würde sie hinausschlüpfen, und beide wollten sie dann nach dem Walde hinüberrudern und zwei selige Stunden miteinander verbringen! Auch mußte sie einen klaren Plan fassen, denn morgen würden sie ja zusammen ein neues Leben beginnen. Es war jedoch nicht sicher, ihre Botschaft vom Dorf aus zu schicken; sie mußte zum Fluß hinüber und über die Brücke zu dem Postamt auf dem andern Ufer gehen, wo man sie nicht kannte. Es war bereits zu spät, um es vor dem Frühstück zu erledigen. Lieber danach, wenn sie davonschlüpfen konnte, weil sie dann ihren Gatten sicher fort wußte. Ihr Telegramm würde Lennan immer noch rechtzeitig erreichen, denn er verließ seine Wohnung nie vor der Mittagspost, die ihre Briefe brachte.

Sie beendete ihre Toilette, und da sie keine Spur von Erregung zeigen durfte, saß sie einige Minuten ganz still da und zwang sich zur Rühe. Dann ging sie hinunter. Ihr Gatte hatte gefrühstückt und war fort. Bei allem, was sie jetzt tat, bei jedem Wort, das sie sprach, lächelte sie wie erstaunt, als sähe sie ihrem frühern Selbst zu, das sie wie ein altes Gewand abgestreift hatte und das zu ihrem Amüsement Komödie zu spielen schien. Nicht einmal der Gedanke, daß ihr Vorhaben den guten Oberst furchtbar kränken würde, verursachte ihr Gewissensbisse. Sie hatte ihn lieb, aber das kam jetzt nicht in Betracht. All das war überwunden. Nichts kam in Betracht – nichts in der Welt! Es amüsierte sie, daß ihr Onkel und ihre Tante den Spaziergang der vorigen Nacht in dem dunklen Garten, ihre anscheinende Gelassenheit und Mattigkeit offenbar mißverstanden. Und bei der ersten Gelegenheit flog sie hinaus und schlüpfte davon unter den bergenden Eiben hindurch zum Flusse hin. Wie sie an der Stelle vorbeikam, wo ihr Gatte sie zu sich nieder ins Gras auf die Knie gezogen, empfand sie etwas wie Überraschung, daß sie sich so hatte erschrecken lassen. Was war er denn? Was die Vergangenheit? Nichts! Und sie flog weiter. Sie merkte sich genau das Ufer der hohen Pappel gegenüber. Es würde ganz leicht sein, dort in ein Boot zu steigen. Aber sie würden nicht in dem dunklen Stauwasser bleiben. Sie würden zum andern Ufer hinüberrudern und in jene Wälder gehen, aus denen gestern nacht der Mond aufgestiegen war, in jene Wälder, aus denen ihr die Tauben jeden Morgen wie spottend zuriefen, in jene Wälder, so übervoll vom Sommer. Bei der Rückkehr würde sie niemand landen sehen, denn im Stauwasser würde es pechfinster sein. Und während sie dahineilte, blickte sie über die Schulter zurück und merkte sich genau die Grenze zwischen dem leuchtenden Fluß und dem dunklen Stauwasser. Eine Libelle streifte ihre Wange; sie sah sie verschwinden an der Stelle, wo kein Sonnenlicht mehr hindrang. Wie plötzlich ward ihr seliger Flug zunichte in jenem düstern Schatten, wie eine Kerzenflamme, die man auslöscht! Die Bäume standen dort zu dicht – die seltsamen Baumstümpfe und Knorren zeigten unheimliche Formen wie riesige Ungeheuer, deren Augen einen anzuglotzen schienen. Es überlief sie kalt. Sie hatte diese Unholde mit ihren Glotzaugen schon irgendwo gesehen. Ah, in Monte Carlo, in ihrem Traum von jenem Stierkopf, der von den Ufern aus nach ihr hinüberstarrte, während sie vorbeitrieb und keinen Laut hervorbringen konnte! Nein, das Stauwasser war kein Ort des Glücks – sie wollte keine Minute dort verweilen. Und schneller als vorher flog sie den Pfad entlang. Bald hatte sie die Brücke überschritten, ihre Botschaft abgesandt und den Rückweg angetreten. Aber bis acht Uhr mußte sie noch zehn Stunden totschlagen, und daher ließ sie sich jetzt Zeit. Dieser Sommertag sollte ihr allein gehören, sollte ein Tag des Träumens sein, bis er kam; dieser Tag, für den das Leben sie all die Jahre hindurch vorbereitet hatte – der Tag der Liebe! Wunderbares Walten des Geschicks! Wenn sie zuvor geliebt, wenn sie in ihrer Ehe Freude erlebt hätte, so hätte sie nie das empfinden können, was sie nun empfand und – sie wußte es wohl – nie wieder empfinden würde. Sie schritt durch eine frischgemähte Heuwiese und warf sich an einem Abhang zwischen den hohen Gräsern auf den Rücken hin. Weit weg am andern Ende mähten die Männer. Alles war so wunderschön: Weiche Wolken zogen dahin, die Kleestengel drängten sich an ihre Hände, und die langen Quecken legten sich kühl an ihre Wangen; kleine blaue Schmetterlinge; eine unsichtbare Lerche; der Duft des reifen Heus; und die goldenen Zauberpfeile der Sonne auf Antlitz und Gliedern; wachsen und dem Sommer entgegenreifen das war eines jeden Bestimmung. Das war der eigentliche Zweck des Daseins. Alle Furcht und Zweifel hatten sie verlassen. Sie fühlte weder Angst noch Bitternis, noch Gewissensbisse über ihr Vorhaben. Sie tat es, weil sie mußte … Ebensowenig konnte das Gras seinem Reifen Einhalt tun, weil man es später niedermähen würde! Statt dessen hatte sie ein erhebendes Gefühl, als wäre ihr Tun gesegnet. Welche Macht auch ihr Herz erschaffen, die hatte auch diese Liebe hineingesenkt. Was es auch war, wer es auch war, er konnte ihr nicht zürnen.

Eine wilde Biene flog auf ihren Arm, und sie hielt sie empor in die Sonne, so daß sie sich an ihrem bräunlichen Glanz erfreuen konnte. Sie würde sie nicht stechen – heute nicht! Auch die kleinen blauen Schmetterlinge ließen sich oft auf ihr nieder, die da so unbeweglich lag. Und keinen Augenblick verstummte das Liebesgurren der wilden Tauben, das leise Rauschen der Sichel.

Schließlich erhob sie sich, um heimzugehen. Ein Telegramm war gekommen mit dem einfachen Bescheid: ›Ja.‹ Sie las es mit unveränderten! Gesicht, denn sie hatte wieder die Maske müder Gelassenheit angenommen. Um die Teezeit klagte sie über Kopfweh und sagte, daß sie sich niederlegen wolle. Droben in ihrem Zimmer verbrachte sie die drei Stunden mit Schreiben – sie schrieb, so gut sie konnte, alles nieder, was sie in Gedanken und Gefühlen durchlebt hatte, ehe sie zu diesem Entschluß gekommen war. Es schien ihr, daß sie es sich selbst schuldig sei, dem Geliebten zu sagen, wie sie zu einer Entscheidung gelangt war, die sie früher nie für möglich gehalten hätte. Das Geschriebene steckte sie in einen Umschlag, den sie siegelte. Sie wollte es ihm geben, damit er es lesen und verstehen sollte, nachdem sie ihm mit ihrem ganzen Selbst gezeigt, wie sehr sie ihn liebte. Es würde ihm die Zeit vertreiben bis morgen – bis sie zusammen ein neues Leben anfangen konnten. Denn heute nacht wollten sie ihre Pläne machen und morgen beginnen.

Um halb acht ließ sie sagen, daß ihr Kopfweh zu arg sei, als daß sie ausgehen könnte. Das veranlaßte einen Besuch Mrs. Ercotts: der Oberst und sie wären untröstlich; aber am Ende wäre es klug von Olive, sich nicht zu überanstrengen! Und bald darauf rief ihr der Oberst selbst mit bedauernder Stimme durch die Tür zu: Nicht wohl genug, um auszugehn? Es wäre gar kein Vergnügen ohne sie! Aber sie dürfe sich auf keinen Fall übermüden! Auf keinen Fall!

Es gab ihr einen Stich. Er war doch immer so gut zu ihr!

Endlich beobachtete sie vom Gang aus, wie sie den Fahrweg hinunterschritten – der Oberst, der die Abendschuhe seiner Frau trug, ein wenig voraus. Wie lieb er aussah mit seinem braunen Gesicht und dem grauen Schnurrbart, so aufrecht und wie immer so besorgt um das, was er gerade vorhatte.

Keine Spur von Mattigkeit zeigte sich jetzt. Sie hatte sich weiß gekleidet und nahm einen blauen Seidenmantel mit einer Kapuze, ergriff die Blume, die wie durch ein Wunder die vergangene Nacht überdauert hatte, und steckte sie an ihre Brust. Nachdem sie sich noch vergewissert hatte, daß niemand von der Dienerschaft sich blicken ließ, schlüpfte sie die Treppe hinunter ins Freie. Es war gerade acht, und die Sonne bestrahlte noch immer den Taubenschlag. Sie hielt sich in einiger Entfernung davon, damit die Vögel sie nicht umflattern und durch ihr Gurren verraten sollten. Als sie fast den Schleppweg erreicht hatte, hielt sie erschrocken inne. Wahrhaftig, da hatte sich etwas geregt, etwas Schweres, denn brechende Zweige hatten geknackt! Überkam sie nur die Erinnerung an die vorige Nacht, oder war wirklich jemand dort? Sie ging ein paar Schritte zurück. Törichte Angst! In der Wiese drüben rieb sich eine Kuh an der Hecke. Und Olive stahl sich am Gras entlang zu dem Schleppweg hin und ging rasch auf die Pappeln zu.


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