Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Zweites Kapitel

Jawohl, es hatte in ihm vor mehr als einem Jahre angefangen, mit einer sonderbaren, unseligen Ruhelosigkeit, einem Empfinden, daß ihm das Leben entschlüpfte, ihm gewissermaßen unter den Händen zerrann und er sie doch nie ausstreckte, um es festzuhalten. Es hatte mit einem Gefühle steter Sehnsucht begonnen, die er nur durch schwere Arbeit zu stillen vermochte, einer Sehnsucht, er konnte nicht sagen wonach, einem Weh, das immer dann am ärgsten war, wenn ein weicher Wind wehte.

Es heißt, daß die Jahre um etwa fünfundvierzig ein kritisches Alter für den Mann sind, besonders für den Künstler. Den ganzen Herbst des vergangenen Jahres hatte er diese unerklärliche Not schwer empfunden. Fast den ganzen Dezember und Januar blieb er von ihr verschont, während er so eifrig an seiner Löwengruppe arbeitete; aber im Augenblick, als sie vollendet war, hatte es ihn wieder gepackt. Er erinnerte sich ganz genau, wie er in jenen letzten Tagen des Januar alltäglich in den Parks umhergewandert war, um es loszuwerden. Mildes Wetter, ein Duft im Wind! Mit welchem Neid hatte er die Kinder beim Spielen beobachtet, die frühzeitigen Knospen an den Büschen, alles, alles, was jung war! Mit welchem Weh empfand er auch, wie zahllose Leben um ihn her gelebt wurden und Lieben geliebt – und er ausgeschlossen, ihnen fremd war, nicht imstande, sie zu fassen, festzuhalten, während all die Zeit über der Sand durch sein Stundenglas rann! Ein unvernünftiges, ganz lächerliches Gefühl bei einem Mann, der alles hatte, was er wünschte, Arbeit, die er liebte, genügend Geld und eine so gute Frau wie Sylvia – ein Gefühl, das einen Engländer von sechsundvierzig mit vortrefflicher Gesundheit auch keinen Augenblick hätte beunruhigen dürfen! Ein Gefühl, das zu empfinden tatsächlich noch kein Engländer je zugegeben hat, so daß bisher nicht einmal ein Verein zu seiner Bekämpfung existierte. Denn was anderes war dies Bangen als das Bewußtsein, daß seine Zeit vorbei war, daß er nimmer wieder die Ekstase und angstvolle Freude des Verliebtseins durchkosten, sondern sich höchstens nach dem Vergangenen und Verlorenen zurücksehnen würde! Konnte ein verheirateter Mann etwas Tadelnswerteres empfinden?

Jawohl, es war am letzten Tag des Januar, als er auf der Rückkehr von einer jener ruhelosen Wanderungen im Hydepark auf Dromore stieß. Seltsam, einen Menschen wiederzuerkennen, den man seit der Schulzeit kaum gesehen hatte. Aber kein Zweifel, Johnny Dromore war's, der Piccadilly am Geländer des Greenparks entlang hinunterbummelte, mit dem etwas schwankenden Gang und den dünnen Reiterbeinen, seinem etwas schief sitzenden Modehut und jenen sonderbaren, spöttelnden Glotzaugen, als ob er beständig wetten wollte. Jawohl, genau derselbe spöttische, einmal nachdenkliche, dann wieder sorglose, immer schlaue Johnny Dromore mit dem guten Herzen und dem Äußeren, das sich dessen zu schämen schien. Wahrlich, an der Universität zusammengewesen zu sein, ein Zimmer geteilt zu haben waren geheimnisvolle, unzerstörbare Bande.

»Mark Lennan! Donnerwetter! Hab dich 'ne Ewigkeit nicht gesehn! Seit damals nicht, wo man dich zu einem – wie heißt man's gleich? – gemacht hat. Freu mich furchtbar, dich zu treffen, alter Knabe!«

Das war tatsächlich die dem Denken, Fühlen und allem übrigen längst entschwundene Vergangenheit, und Lennan wirbelte der Kopf, als er ein gemeinsames Interesse mit diesem Jagd und Rennen liebenden Lebemann zu finden suchte.

Johnny Dromore, der wieder auferstanden war – er, dem das Leben schon mit zweiundzwanzig den Stempel schlauer Einfalt aufgedrückt und ihn seit damals in seinem Denken und Fühlen gänzlich unberührt gelassen hatte; Johnny Dromore, der nie über die Philosophie hinauskam, daß alles komisch und wunderlich war, was nicht mit Pferden, Weibern, Wein, Zigarren, Witzen, Gutherzigkeit und jenem ewigen Wetten zu tun hatte, Johnny Dromore, dessen Seele irgendwo ein geheimes Eckchen barg, einen ganz leisen Hunger, der nicht just Johnny Dromore war.

Wie seltsam seine sprunghaften Sätze sich anhörten!

»Siehst du jetzt den alten Fookes? Überhaupt auf Rennen gewesen? Du wohnst in London? Erinnerst du dich noch an den lieben alten Blenker?« Dann Schweigen und hernach ein neuer Ausbruch: »Kommst du noch zu Bambury? Gehst auf Rennen? … Komm mit auf meine Bude! Hast doch nichts zu tun.« Unmöglich, einen Johnny Dromore zu überzeugen, daß ein – wie heißt man's gleich? – etwas zu tun haben könnte. »Komm mit, alter Knabe! Hab 'nen Katzenjammer. 's ist dieser verdammte Ostwind.«

Wie gut erinnerte er sich daran, als sie ein Zimmer bei Bambury teilten, an den Katzenjammer Johnny Dromores nach irgendeinem lustigen Abenteuer oder einem besonders argen Streich.

Und jene enge Seitengasse von Piccadilly ging er hinab und zu jener ›Bude‹ im ersten Stock empor, mit ihrem kleinen dunklen Vorraum, ihren Van-Beer-Zeichnungen und Vanity-Fair-Karikaturen und den Drucken von Rennpferden und vom alten ›Nachthemd-Hürdenrennen‹, mit den großen Stühlen und all den Siebensachen wie Renn-Almanachen und Krimstechern, Fuchsschädeln, Geweihen und Reitpeitschen. Und doch fiel ihm vom ersten Augenblick an etwas auf, das mit alledem nicht ganz in Einklang stand, sozusagen nicht in den Rahmen paßte: ein kleiner Stoß Bücher, eine Vase mit Blumen, ein graues Kätzchen.

»Setz dich, altes Haus! Was willst du trinken?«

Lennan ließ sich in den Schoß eines höchst behaglichen braunen Ledersessels fallen, der riesige Armlehnen hatte, und lauschte und redete schlaftrunken. »Bambury, Oxford, Gordys Klub, der gute alte Gordy, auch schon tot!« – Diese längst vergangenen Dinge schienen alle wieder vor ihm aufzutauchen. Und doch drängte sich zwischen diese auferstandenen Geister, den Rauch ihrer Zigarren und Johnny Dromores abgehackte Reden immer wieder ein unbestimmtes Gefühl von etwas, das nicht ganz hierhergehörte. War es vielleicht jene Sepiazeichnung dort hinten über dem ›Tantalus‹ auf der eichenen Anrichte, jenes Frauenantlitz, das in das Zimmer herabsah und das seltsamerweise so wenig zur Umgebung paßte, nur zu den Blumen und dem Kätzchen, das den haarigen kleinen Kopf an seiner Hand rieb? Seltsam, wie ein einziger Gegenstand manchmal ein Zimmer beherrscht, so fremd er auch seinem Geiste sein mag! Es schien sich wie ein Schatten über Dromores hingestreckte Gestalt zu breiten, über das wettergebräunte, langnasige Gesicht hinter der riesigen Zigarre, über seine merkwürdigen, ernsten, spöttelnden Augen, in deren Tiefen etwas wie ein Brüten lag.

»Kriegst je Katzenjammer? Einfach scheußlich, nicht? Ja, man wird alt. Wir sind schon greulich alt, weißt du, Lenny!« Ah! Schon zwanzig Jahre hatte ihn niemand mehr ›Lenny‹ genannt. Ganz richtig: Sie waren schon unsagbar alt.

»Wenn einer anfängt, sich alt zu fühlen, dann soll er sich auch aus dem Staub machen, weißt du – oder sonst was; man kann unmöglich die Hände in den Schoß legen und es ruhig herankommen lassen. Geh doch mit mir nach Monte!«

Monte! Jene alte Wunde, die nie ganz vernarbt war, fing bei dem Wort zu schmerzen an, so daß er kaum herausbrachte: »Nein, ich mag Monte nicht.«

Und sofort merkte er, wie Dromores Augen ihn sondierten, als dieser fragte:

»Verheiratet?«

»Ja.«

»Hab dich mir nie verheiratet vorgestellt!«

Also hatte Dromore doch an ihn gedacht! Komisch! Er hatte niemals an Johnny Dromore gedacht.

»Der Winter ist verdammt öd, wenn man nicht auf die Jagd geht. Du hast dich stark verändert, hätt dich kaum wiedererkannt. Wie ich dich das letztemal gesehn hab, warst du grad von Rom oder irgendwo zurückgekommen. Wie ist das, so 'n – Bildhauer sein? Hab mal was von dir gesehn. Machst du je Pferde?«

Jawohl, erst voriges Jahr hätte er ein Ponyrelief gemacht.

»Machst gewiß auch Frauen?«

»Nicht oft.«

Die Augen glotzten etwas. Seltsam, dies heidnische Interesse! Immer wie die Kinder, die Johnny Dromores – wurden nie zu Erwachsenen, wie ihnen das Leben auch mitspielte. Wenn Dromore seine geheimsten Gedanken ausgesprochen hätte, wie er es einst bei Bambury zu tun pflegte, so hätte er gesagt: Dabei gibt's Auswahl; du amüsierst dich wohl nicht übel, was? So also faßten sie es auf! Genau die entgegengesetzte Äußerung desselben Gefühles der Kunst gegenüber, das die frommen Philister empfanden, wenn sie unwillig die Augenbrauen in die Höhe zogen und von der ›Gefahr für die Seele‹ sprachen! Kinder allesamt! Keine Ahnung von dem, was die Kunst bedeutete – von ihren Mühen, ihrer Sehnsucht!

»Machst du Geld damit?«

»O ja.«

Wieder jenes billigende Glotzen, das zu sagen schien: Ei, da steckt doch mehr dahinter, als ich dachte!

Hierauf ein langes Schweigen in dem dämmerigen Zimmer, in das ein violetter Schimmer durch die Fenster hereinfiel, während das Feuer vor ihnen flackerte, das graue Kätzchen auf seiner Schulter schnurrte, der Rauch ihrer Zigarren in die Höhe stieg und solch ein sonderbares, einschlummerndes Behagen ihn überkam, wie er es schon lange nicht empfunden hatte. Und dann – etwas, jemand an der Tür, drüben bei der Anrichte! Und Dromore sagte mit einer etwas seltsamen Stimme:

»Komm doch herein, Nell! Kennst du meine Tochter?« Eine Hand ergriff die Lennans, eine Hand, die zwischen der Sicherheit einer Weltdame und der impulsiven Wärme eines Kindes zu schwanken schien. Und eine jugendliche, helle, deutliche Stimme sagte:

»Guten Abend! Das Kätzchen ist doch herzig, nicht wahr?«

Dann drehte Dromore das Licht an. Lennan erblickte eine ziemlich große Gestalt in grauem Reitkleid von erstaunlich gutem Schnitt, ein sehr ruhiges Gesicht, das nicht mehr ganz so rund wie das eines Kindes war und doch nicht so wie ein Frauenantlitz geformt und das jetzt leicht errötete; unter dem hübschen Hut krauses, hellbraunes Haar, das mit einem schwarzen Bande zurückgebunden war; und Augen wie die der ›Perdita‹ von Gainsborough: bedächtige, graue, magnetische Augen mit langen, nach aufwärts geschwungenen Wimpern, Augen, die alles an sich heranziehen – noch unschuldig.

Und gerade als er sagen wollte: Es schien mir, als wären Sie aus jenem Bild herausgetreten, erblickte er Dromores Gesicht und murmelte statt dessen:

»Also Ihnen gehört das Kätzchen?«

»Ja; es geht zu jedem. Haben Sie Angorakatzen gern? Es ist fast nur Fell. Fühlen Sie!«

Seine Finger in den Pelz des Tierchens vergrabend, sagte er:

»Katzen ohne Fell sehn komisch aus.«

»Haben Sie schon eine ohne Fell gesehn?«

»Ja freilich! In meinem Beruf muß einer unter das Fell gehn – ich bin Bildhauer.«

»Das muß furchtbar interessant sein!«

Welch eine Gesellschaftsdame! Und doch welch Kind zugleich! Und jetzt sah er auch, daß das Gesicht auf der Sepiazeichnung bedeutend älter war, die Lippen nicht so voll, der Blick nicht so unschuldig, die Wangen nicht so rund, und daß ein trauriger, verzweifelter Zug darin lag: ein Antlitz, in das das rauhe Leben seine Linien gezeichnet hatte. Aber dieselben Augen blickten daraus – und wie reizvoll war es trotz des Ausdrucks der Enttäuschung, obwohl es eine Geschichte zu erzählen schien. Dann bemerkte er am Rahmen an einer dünnen Stange einen staubgrauen Vorhang, der zur Seite gezogen war. Die junge, selbstgewisse Stimme sagte wieder:

»Darf ich Ihnen meine Zeichnungen zeigen? Es wäre so furchtbar nett von Ihnen. Sie könnten mir was drüber sagen.« Und mit Schrecken sah er sie eine Mappe öffnen. Während er diese Schulmädchenzeichnungen gründlich prüfte, konnte er fühlen, wie sie ihn ansah, wie Tiere es tun, wenn sie sich überlegen, ob sie einen leiden mögen oder nicht; dann kam sie näher und stand so dicht bei ihm, daß ihr Arm den seinen berührte. Er verdoppelte seine Bemühungen, etwas Gutes an den Zeichnungen zu finden. Aber es war wahrhaft nichts Gutes daran. Und wenn er auch in andern Sachen ganz herzhaft lügen konnte, um die Gefühle anderer zu schonen – wo es sich um die Kunst handelte, war es ihm unmöglich; daher sagte er nur:

»Sie haben eben keinen Lehrer gehabt.«

»Wollen Sie mein Lehrer sein?«

Noch ehe er aber Zeit zu einer Antwort fand, verbesserte sie schon selbst diese naive Frage in der vollendeten Art einer Erwachsenen.

»Ich hätte gar nicht fragen sollen, natürlich nicht. Es würde Sie ja entsetzlich langweilen.«

Er erinnerte sich jetzt nur dunkel, daß hierauf Dromore ihn fragte, ob er manchmal im Hydepark ritte, daß ihre Augen ihm folgten und ihre Hand die seine wieder mit kindlicher Herzlichkeit drückte. Und daß er dann die schwach erleuchtete Treppe hinunterging an der endlosen Reihe von Vanity-Fair-Karikaturen vorbei, hinaus in den Ostwind.


 << zurück weiter >>