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Drittes Kapitel

Als der Junge sich verabschiedet und Anna ihm bis auf die Straße nachgesehen hatte, stand sie einen Augenblick in dem Streifen Sonnenlicht, der durch die offene Tür hereinfiel, und preßte die Hände an ihre flammenden Wangen. Dann schloß sie die Tür und drückte die Stirn gegen die Fensterscheibe, ohne etwas zu sehen. Das Herz klopfte ihr heftig. Immer wieder vergegenwärtigte sie sich die eben durchlebte Szene. Dies alles hatte doch für sie soviel tiefere Bedeutung, als sie anfänglich geglaubt …

Obgleich sie stets an Heimweh litt, besonders gegen Ende des Sommersemesters, war es diesmal doch ein ganz anderes Gefühl, das sie zu ihrem Gatten sagen ließ: »Ich möchte in die Berge gehn!«

Zwölf Jahre schon hatte sie sich jeden Sommer nach den Bergen gesehnt, aber nie darum gebeten hinzugehen; dieses Jahr hatte sie um die Reise gebeten, ohne sich jedoch nach den Bergen zu sehnen. Es war ihr nämlich auf einmal die seltsame Tatsache klargeworden, daß sie England gar nicht zu verlassen wünschte, und gerade aus diesem Grunde hatte sie gebeten, weggehen zu dürfen. Warum aber hatte sie gesagt: »Ja, er soll mitkommen«, da sie doch den Jungen unbedingt vergessen wollte. Freilich, das Dasein war ja immer ein unerklärlicher Kampf zwischen Pflichtgefühl und dem Wunsch, sich auszuleben, ein sonderbarer, stets wechselnder, qualvoller Zustand. Wie lang war es jetzt her seit jenem Tage, an dem er zum erstenmal zu Tisch gekommen war, still und scheu, und wie er plötzlich lächelte, als wäre es in seinem Innern auf einmal hell geworden, seit jenem Tage, da sie zu ihrem Gatten gesagt: »Ah, er ist ein Engel!« Noch kein Jahr, war es doch zu Anfang des letzten Semesters im Oktober gewesen. Er war anders als alle übrigen Jungen; nicht etwa, daß er ein Wunderknabe mit ungekämmtem Haar, schlechtsitzenden Kleidern und einem klugen Kopf gewesen wäre, sondern er besaß etwas – etwas – – ah, er war eben ganz anders; weil er eben – er war; weil sie sich danach sehnte, seinen Kopf zwischen ihre Hände zu nehmen und zu küssen. Sie erinnerte sich noch genau des Tages, an dem diese Sehnsucht zuerst über sie gekommen war. Er war zum Tee bei ihr, es war ganz zu Anfang des Ostersemesters; er streichelte ihre Katze, die stets zu ihm gelaufen kam, und erzählte ihr, daß er Bildhauer werden wolle, sein Vormund es aber nicht erlaube, so daß er natürlich nicht beginnen könne, bevor er mündig sei. Die Lampe auf dem Tisch hatte einen rosenfarbenen Schirm; er hatte gerudert – es war ein sehr kalter Tag –, und sein Gesicht glühte, während er sonst etwas blaß war. Und plötzlich lächelte er und sagte: »Es ist abscheulich, warten zu müssen, nicht wahr?« In diesem Augenblick hätte sie fast die Arme nach ihm ausgestreckt, um seine Stirn an ihre Lippen zu pressen. Damals hatte sie gedacht, daß sie ihn küssen möchte, weil es doch so schön gewesen wäre, seine Mutter zu sein – sie hätte gerade seine Mutter sein können, wenn sie mit sechzehn Jahren geheiratet hätte. Nun aber wußte sie schon lange, daß sie nicht seine Stirn, sondern seine Lippen zu küssen verlangte. Er war das in ihrem Leben, was ein Feuer in einem kalten, verschlossenen Hause ist; sie konnte kaum noch begreifen, wie sie diese ganzen Jahre ohne ihn hatte existieren können. Sie hatte ihn so sehr vermißt während der sechswöchigen Osterferien, hatte in seinen drei kurzen, sonderbaren Briefen, die halb schüchtern, halb vertraulich waren, geschwelgt, hatte sie geküßt und in ihrem Kleid getragen. Und als Antwort ihm lange, vollkommen korrekte Episteln in ihrem noch immer seltsamen Englisch geschrieben. Sie hatte ihn nie etwas von ihren Gefühlen merken lassen; der Gedanke daran flößte ihr einen unaussprechlichen Schauder ein. Als das Sommersemester anfing, schien ihr ganzes Dasein nur aus Gedanken an ihn zu bestehen. Wäre vor zehn Jahren ihr Kind am Leben geblieben; hätte ein grausamer Tod, nach all ihren Qualen, nicht ein für allemal den Wunsch, ein zweites zu haben, in ihr ausgelöscht; wäre es ihr nicht schon jahrelang klar gewesen, daß sie keine Zärtlichkeit mehr zu erwarten hatte, daß die Liebe für sie vorbei war; hätte das Leben in der schönsten aller alten Städte etwas Anziehendes für sie gehabt – dann wäre sie wohl imstande gewesen, diesem Gefühl Einhalt zu tun. So aber konnte nichts in der Welt den Strom eindämmen. Und sie war so übervoll von Energie und wußte genau, daß ihre ganze Lebenskraft vergeudet wurde! Manchmal hatte sie dies Gefühl, leben zu wollen, ein Betätigungsfeld für ihre Kräfte zu finden, geradezu gefoltert. So viele hundert einsame Spaziergänge hatte sie während all dieser Jahre unternommen, hatte versucht, sich in der Natur zu verlieren, war allein umhergelaufen, war in die Wälder geflüchtet, hinaus auf die Felder, wo keine Menschen hinkamen, hatte versucht, jenes Gefühl der überschüssigen Kraft loszuwerden, hatte versucht, wieder so zu empfinden, wie sie als Mädchen empfunden, als noch die ganze Welt vor ihr lag. Nicht umsonst war ihre Gestalt so herrlich, ihr Haar so glänzend braun, waren ihre Augen so leuchtend geblieben. Sie hatte viele Zerstreuungen versucht: Arbeit im Armenviertel, Musik, Theaterspielen, Jagen; eines nach dem andern hatte sie fallenlassen, um es dann leidenschaftlich wieder aufzugreifen. Früher hatte das geholfen, dieses Jahr jedoch war alles vergebens … Eines Sonntags, als sie aus der Beichte kam, ohne gebeichtet zu haben, hatte sie sich selbst unter die Lupe genommen. Es war sündhaft! Sie mußte dies Gefühl in sich ertöten, sie mußte vor dem Jungen fliehen, der sie so sehr in Aufruhr brachte. Handelte sie nicht schnell, so würde sie davon fortgerissen werden. Und dann war ihr der Gedanke gekommen: Warum nicht? Das Leben war dazu da, um gelebt zu werden, nicht um es stumpfsinnig zu verträumen in dieser sonderbaren Pflegestätte der Kultur, wo einem die Überlieferung geradezu im Blut lag. Das Leben war zum Lieben da, zum Genießen! Und nächsten Monat würde sie sechsunddreißig! Sie kam sich schon ungeheuerlich alt vor. Sechsunddreißig! Bald würde sie alt sein, tatsächlich alt, ohne je die Leidenschaft gekannt zu haben! Die Anbetung, die aus dem vornehm aussehenden, zwölf Jahre älteren Engländer, der eine Gesellschaft auf den Cimone della Pala führen konnte, einen Helden gemacht, war keine Leidenschaft gewesen. Sie wäre vielleicht zur Leidenschaft geworden, wenn er es gewollt hätte. Er aber war nichts weiter als Form, Eis, Bücher. Hatte er überhaupt ein Herz? Floß Blut in seinen Adern? Gab es denn irgendwelche Lebensfreude in dieser viel zu schönen Stadt und den Leuten, die darin wohnten, in dieser Stadt, wo selbst die Begeisterung nur Formsache zu sein schien und keine Schwingen hatte, wo alles festgelegt und ausgeklügelt war wie in ihren Kirchen und Klöstern? Und dennoch, solche Gefühle für einen Knaben zu empfinden, der jung genug war, ihr Sohn zu sein! Es war so – schamlos! Dieser Gedanke verfolgte sie förmlich, ließ sie im Dunkeln erröten, wenn sie nachts wachlag. Und voll Verzweiflung betete sie dann – denn sie war fromm – um ihre Reinheit, um die heiligen Gefühle einer Mutter, bat darum, nur von dem herrlichen Bewußtsein erfüllt zu werden, alles zu seinem Besten tun zu können, alles für ihn leiden zu dürfen. Nach diesen langen Gebeten fühlte sie sich beruhigt und wie betäubt, als hätte sie ein Schlafmittel genommen. Stundenlang pflegte sie so dazuliegen. Und dann überkamen sie alle diese Empfindungen wieder von neuem. Nie dachte sie daran, ob auch er sie lieben könnte; das wäre – unnatürlich. Warum auch sollte er sie lieben? Sie war darin sehr bescheiden. Seit jenem Sonntag, als sie die Beichte vermieden, brütete sie unausgesetzt darüber, wie sie ein Ende machen, wie sie von dieser Sehnsucht, die zu mächtig für sie wurde, loskommen könne. Da war sie auf den Plan verfallen, um eine Reise in die Berge zu bitten, dorthin zurückzukehren, wo ihr Gatte in ihr Leben getreten war und wo jenes Gefühl vielleicht wieder schwinden würde. Wenn es nicht besser würde, wollte sie, dieser Gefahr entrückt, dort bei ihren Angehörigen bleiben. Und nun hatte dieser Narr, dieser blinde Narr, dieser überlegene Narr mit seinem spöttischen Lächeln und seinem ewigen Gönnertum sie dahin gebracht, ihren eigenen Plan umzustoßen! Gut, mochte er die Folgen tragen, sie hatte ihr Bestes getan. Sie wollte wenigstens einmal wissen, was Freude ist, selbst wenn sie dann dort bleiben mußte und den Jungen niemals wiedersehen sollte.

Wie sie so in dem dämmerigen Vorraum dastand, wo man einen leisen Geruch von altem Holz wahrnahm, sobald die Fenster und Türen geschlossen waren, bebte sie am ganzen Körper vor heimlicher Glückseligkeit. Mit ihm in ihren Bergen zu sein! Ihm alle jene wundervollen, glitzernden oder lohfarbenen Felsen zu zeigen! Mit ihm die Gipfel zu besteigen und die Königreiche der Welt ausgebreitet unter sich zu sehen! Mit ihm durch die Nadelwälder zu wandern, über die Almen in dem Duft der Bäume und Blumen, wo die Sonne so heiß herabschien! Am ersten Juli! Und jetzt war es erst Mitte Juni! Würde sie es noch erleben? Sie wollte diesmal lieber nicht nach San Martino gehen, nein, eher nach Cortina, nach einem unbekannten Ort, an den sich keine Erinnerungen knüpften.

Plötzlich wandte sie sich vom Fenster weg und machte sich mit einer Blumenschale zu schaffen. Sie hatte den summenden Laut vernommen, der oft ihres Gatten Ankunft kündete, als hätte er die Welt dadurch auffordern wollen, die gebührende Haltung wiederzugewinnen, ehe er eintrat. In ihrem Glück fühlte sie sich gütig und freundlich gegen ihn gestimmt. Hatte er auch nicht beabsichtigt, ihr Freude zu bereiten, so hatte er es dennoch getan! Er kam die Treppe herunter, zwei Stufen auf einmal, mit jener Miene, die sagte: ›Ich bin kein Pädagoge‹ und die sie so gut kannte; er nahm seinen Hut und wandte sich ihr halb zu.

»Ein lieber Bursch, der junge Lennan; hoffe, er wird uns da draußen nicht langweilen.«

In seiner Stimme schien ein leiser Selbstvorwurf zu liegen, als bäte er wegen dieser impulsiven Einladung um Verzeihung. Und der überwältigende Wunsch zu lachen überkam sie plötzlich. Um es zu verbergen und eine Entschuldigung dafür zu finden, rannte sie zu ihm hin, zog ihn an den Rockaufschlägen, bis sie sein Gesicht erreichen konnte, und küßte ihn auf die Nasenspitze. Dann lachte sie. Und er stand da und sah sie an, den Kopf ein wenig auf die Seite geneigt und die Augenbrauen ein wenig in die Höhe gezogen.


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