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Zehntes Kapitel

Anna schloß die ganze Nacht kein Auge. Waren es Gewissensbisse, die sie wach hielten, oder der Taumel trunkener Erinnerung? Wenn sie den Kuß als ein Verbrechen empfunden hatte, so war es nicht ihrem Gatten oder sich selbst, sondern dem Jungen gegenüber – wie die Vernichtung einer Illusion, eines Heiligtums schien es ihr. Gleichzeitig aber konnte sie sich eines Glückseligkeitstaumels nicht erwehren, und es kam ihr auch nicht einen Augenblick in den Sinn, das, was sie getan, ungeschehen machen zu wollen.

Er war also bereit, ihr ein wenig Liebe zu schenken! Ein ganz klein wenig, verglichen mit der ihren, aber doch ein wenig! Etwas anderes konnte die Bewegung seines Gesichtes mit den geschlossenen Augen, als ob er es an ihre Brust hätte schmiegen wollen, nicht bedeuten.

Schämte sie sich ihrer kleinen Manöver in den letzten paar Tagen, dem jungen Geiger zugelächelt zu haben, so spät von der Klettertour zurückgekehrt zu sein, ihm die Nelke gegeben zu haben; schämte sie sich der ganzen planmäßigen Belagerung, die sie ins Werk gesetzt hatte seit jenem Abend, als ihr Gatte ins Zimmer getreten war und sie beobachtete, ohne zu wissen, daß sie ihn sah? Nein, sie schämte sich eigentlich nicht! Ihre Gewissenbisse entsprangen einzig und allein dem Kusse. Es tat ihr weh, daran zu denken, weil es das Ende, das gänzliche Aufhören des Muttergefühls in ihr bedeutete, das Erwachen von – wer konnte sagen was – in dem Jungen! Denn wenn sie ihm als etwas Rätselhaftes vorkam, um wieviel rätselhafter erschien er ihr, in seinem Eifer, seinem träumerischen Wesen, seiner jugendlichen Wärme, seiner Unschuld! Wie, wenn dadurch sein Vertrauen getötet, der Tau abgestreift, ein Stern am Firmament gestürzt worden wäre? Hätte sie sich das verzeihen können? Hätte sie's ertragen können, ihn so zu machen, wie so viele andere junge Leute waren, wie zum Beispiel der junge Geiger – zu einem zynischen Jüngling, der die Frauen als Freiwild betrachtete? Aber war es denn denkbar, ihn zu einem solchen Menschen zu machen, konnte er sich je nach dieser Richtung hin entwickeln? Nein, gewiß nicht, sonst hätte sie ihn nicht vom ersten Augenblick an lieben und ihn ›einen Engel‹ heißen können.

Nach jenem Kuß im Dunkeln, jenem Verbrechen, wenn es eines war, wußte sie nicht, was er getan, wohin er gegangen – vielleicht war er umhergewandert, vielleicht sofort in sein Zimmer hinauf. Warum hatte sie sich zurückgehalten, ihn dort allein gelassen, warum sich seinen Armen entzogen? Das konnte sie kaum selbst begreifen. Nicht aus Scham, nicht aus Furcht; aus Ehrfurcht vielleicht – aber wovor? Vor der Liebe – vor der Illusion, dem Geheimnisvollen, all dem, was die Liebe so herrlich machte; vor der Jugend, ihrer Poesie; vielleicht nur um der dunklen stillen Nacht willen und des Duftes jener Blume, jener dunklen Blume der Leidenschaft, die ihn zu ihr getrieben und die sie ihm wieder entwendet hatte, die sie jetzt die ganze Nacht lang dicht am Halse trug und morgens welk in ihrem Kleid verbarg. So lang hatte sie gehungert, so lang auf diesen Augenblick gewartet – es war gar nicht verwunderlich, wenn sie selbst nicht recht wußte, warum sie gerade dies und nicht jenes getan.

Und wie sollte sie ihm jetzt entgegentreten, wie ihm in die Augen blicken? Waren sie inzwischen anders geworden? Hatten sie vielleicht nicht mehr den geraden Blick, den sie so liebte? Ihr fiel nun die Führung zu, sie hatte die Zukunft zu gestalten. Und sie sagte sich in einem fort: Ich werd mich nicht fürchten. Es ist einmal geschehen. Ich will nehmen, was mir das Leben bietet! An ihren Gatten dachte sie dabei überhaupt nicht.

Aber in dem Augenblick, als sie den Jungen wiedersah, wußte sie auch schon, daß ihn seit jenem Kuß etwas von außen, etwas Ungünstiges beeinflußt hatte. Er kam zwar auf sie zu, sagte jedoch nichts, sondern stand an allen Gliedern zitternd da und reichte ihr ein Telegramm, das lautete: ›Komm sofort zurück, Hochzeit unmittelbar bevorstehend, erwarte dich übermorgen. Cicely.‹ Die Worte schienen ihr beim Lesen ganz verschwommen, und sie sah das Gesicht des Knaben wie durch einen Nebel. Dann bezwang sie sich und sagte gelassen:

»Sie müssen natürlich hingehn. Sie dürfen die Hochzeit Ihrer einzigen Schwester nicht versäumen.«

Er sah sie ohne jeden Widerspruch an, und sie konnte seinen Blick fast nicht ertragen – er schien so wenig zu wissen und so viel zu fragen. Sie sagte: »Es wird nicht lange sein nur für ein paar Tage. Sie kommen wieder her, oder wir kommen zu Ihnen.«

Sein Gesicht hellte sich sogleich wieder auf.

»Kommen Sie wirklich bald zu uns, sofort wenn Sie eine Einladung erhalten? Dann ist es mir gleich – ich … ich …« Und dann brach er ab, denn er erstickte schier.

Sie sagte wieder:

»Laden Sie uns ein. Wir werden kommen.«

Er faßte ihre Hand, drückte sie immer wieder zwischen seinen beiden Händen, dann streichelte er sie zärtlich und sagte:

»Ach! Ich tu Ihnen weh!«

Sie lachte, um nicht weinen zu müssen.

In wenigen Minuten mußte er abreisen, um den einzigen Zug zu erreichen, der ihn rechtzeitig nach Hause brachte. Sie ging mit ihm und half ihm einpacken. Es war ihr unendlich schwer ums Herz, da sie aber sein unglückliches Gesicht nicht ertragen konnte, redete sie in einem fort anscheinend heiter von ihrer Rückkehr, fragte ihn über sein Heim und wie man am besten hinkäme, sprach von Oxford und vom neuen Semester. Als seine Sachen fertig waren, schlang sie ihm die Arme um den Hals und drückte ihn einen Moment an sich. Dann lief sie fort. In der Tür blickte sie nach ihm zurück: er stand noch genauso da wie im Augenblick, als sie sich von ihm abgewandt hatte. Ihre Wangen waren naß; sie trocknete sie, während sie hinunterging. Als sie sich genügend sicher fühlte, trat sie auf die Terrasse hinaus. Dort sah sie ihren Gatten und sagte zu ihm:

»Willst du mit mir in den Ort gehn? Ich möchte ein paar Sachen einkaufen.«

Er zog die Augenbrauen in die Höhe, lächelte ungewiß und folgte ihr. Langsam stiegen sie den Hügel in die lange Dorfstraße hinab. Die ganze Zeit redete sie, ohne recht zu wissen wovon, und die ganze Zeit dachte sie: Sein Wagen wird vorbeifahren – sein Wagen wird vorbeifahren!

Mehrere Wagen mit Schellengeläute überholten sie. Endlich kam der seinige. Er starrte vor sich hin und bemerkte sie nicht. Sie hörte ihren Gatten sagen:

»Nanu! Wohin fährt denn unser Freund Lennan mit dem ganzen Gepäck? Sieht ja wie ein verängstigtes Löwenjunges drein!«

Sie bemühte sich, so deutlich und ruhig wie möglich zu erwidern:

»Es ist gewiß etwas passiert, sonst kann es nur die Hochzeit seiner Schwester sein.«

Sie fühlte, wie ihr Gatte sie musterte, und hätte gern ihr eigenes Gesicht dabei gesehen; in diesem Augenblick jedoch schlug das Wort ›Madre‹ an ihr Ohr, und sie waren von einem kleinen Trupp ›englischer Moralhelden‹ umgeben.


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