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Zweites Kapitel

Als Anna Stormer in das Studierzimmer trat, sah sie ihren Gatten am Fenster stehen, den Kopf ein wenig auf die Seite geneigt, eine große langbeinige Gestalt in hübschem Tuchanzug und niedrigem Umlegkragen (damals nicht modern) mit blauseidener Krawatte, die sie gestrickt hatte und die durch einen Ring gezogen war. Er summte vor sich hin und trommelte mit seinen wohlgepflegten Fingernägeln leise auf die Fensterscheibe. Obgleich er wegen der vielen Arbeit, die er leistete, berühmt war, überraschte sie ihn doch niemals bei irgendeiner Beschäftigung in ihrem Hause, das sie gewählt hatten, weil es über einen Kilometer vom College entfernt lag, wo die lieben jungen Clowns, wie er die Studenten nannte, deren Professor er war, auch ihren Wohnsitz hatten.

Er wandte sich nicht um – es war durchaus nicht seine Gewohnheit, von irgend etwas Notiz zu nehmen, wenn es nicht unbedingt sein mußte –, doch sie fühlte, daß er sich ihrer Anwesenheit bewußt war. Sie ging zur Fensterbank und setzte sich. Da drehte er sich endlich um und sagte: »Ah!«

Fast klang es wie ein Laut der Bewunderung – etwas Ungewöhnliches bei ihm, da er, von gewissen Stellen der Klassiker abgesehen, nur selten etwas bewunderte. Doch sie wußte, daß sie keine bessere Stellung hätte wählen können: ihre wahrhaft schöne Gestalt kam voll zur Geltung, als die Sonne auf ihr braunes Haar fiel und ihre tiefliegenden eisgrünen Augen unter den schwarzen Wimpern aufleuchten ließ. Es war ihr manchmal eine große Genugtuung, daß sie schön blieb. Denn das Bewußtsein, den so schwer zu befriedigenden Geschmack ihres Gatten zu verletzen, hätte ihr in der Tat noch mehr Kummer bereitet. Für ihn waren ihre Backenknochen zu stark, ein Symbol von jenem Etwas in ihrem Charakter, das mit dem seinen nicht harmonierte: ein Anflug von Temperament, Zügellosigkeit, der Mangel jenes gewissen spezifisch englischen Schliffs, für ihn eine Quelle steten Ärgers.

»Harold!« – daß sie das R doch niemals ganz richtig aussprach! –, »ich möchte diesen Sommer in die Berge gehn.«

Die Berge! Sie hatte sie schon seit zwölf Jahren nicht gesehen, seit jenem Aufenthalt in San Martino di Castrozza, der mit ihrer Heirat geendet hatte.

»Nostalgia!«

»Ich weiß nicht, wie das heißt – ich hab Heimweh. Können wir fahren?«

»Wenn du Lust hast, warum nicht? Aber ich werd niemand mehr auf den Cimone della Pala führen!«

Sie wußte, was er damit sagen wollte: Nur keine Romantik. Was für ein ausgezeichneter Führer war er an jenem Tag gewesen! Sie hätte ihn damals anbeten können. Welche Blindheit! Welche Verblendung! War das wirklich noch derselbe Mann, der dort stand, mit dem hellen skeptischen Blick und dem schon angegrauten Haar? Ja, mit der Romantik war es in der Tat vorbei. Und sie saß schweigend da und blickte auf die Straße hinaus, jene schmale alte Straße, in die sie Tag und Nacht hinaussah. Eine Gestalt ging draußen vorbei, kam auf die Tür zu und zog die Glocke.

»Da ist Mark Lennan«, sagte sie leise.

Sie fühlte die Augen ihres Gatten eine Sekunde lang auf sich ruhen, wußte, daß er sich umgedreht hatte und hörte ihn murmeln: »Ah, der Engel unter den Clowns!« Und ganz still wartete sie, bis die Tür aufging. Da stand der Junge mit dem lieben dunklen Kopf, schüchtern, sanft und ernsthaft und seinen Aufsatz in der Hand.

»Na, Lennan, wie geht's dem alten Cromwell? Ein genialer Heuchler, was? Schießen Sie los, damit wir mit ihm fertig werden.«

Von ihrem Sitz am Fenster betrachtete sie regungslos die beiden Gestalten am Tisch. Der Junge las vor mit seiner seltsamen, samtweichen Baßstimme, während ihr Gatte in seinen Stuhl zurückgelehnt saß, die Fingerspitzen gegeneinander gepreßt, den Kopf ein wenig auf die Seite geneigt und jenes leise spöttische Lächeln auf den Lippen, das niemals in seine Augen kam. Ja, er träumte vor sich hin, war fast eingeschlafen; doch der Junge, der nicht aufsah, las weiter. Als er zum Schluß kam, blickte er auf. Was für Augen er hatte! Andere Jungen hätten gelacht, er aber sah fast schuldbewußt drein. Sie hörte ihn murmeln: »Ich bitte um Entschuldigung, Herr Professor.«

»Ah, Lennan, Sie haben mich erwischt! Das letzte Semester hat mich tüchtig hergenommen. Wir gehen in die Berge. Schon in den Bergen gewesen? Wie, niemals? Kommen Sie doch mit, eh? Was sagst du dazu, Anna? Meinst du nicht auch, der junge Mann da sollte mitkommen?«

Sie erhob sich und starrte die beiden an. Hatte sie recht gehört?

Dann erwiderte sie ernst:

»Ja, er soll mitkommen.«

»Gut, diesmal soll er Führer sein bei der Besteigung des Cimone della Pala!«


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