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Achtes Kapitel

In jenen Tagen reisten diejenigen, die ihrem Lande gedient hatten, in gewöhnlichen Erste-Klasse-Wagen, wie es Spartanern geziemt, und erwachten am Morgen in La Roche oder sonst irgendeinem fremdklingenden Orte, wo man blasses Gebäck und noch blasseren Kaffee erhielt. So erging es auch Oberst Ercott, seiner Frau und ihrer Nichte, die von Büchern umgeben waren, die sie nicht lasen, von Eßsachen, die sie nicht verzehrten, und von einem schläfrigen Iren, der aus dem Osten zurückkam. Wie immer verursachte die Unterbringung der Beine Schwierigkeiten, da niemand sie gern auf den gegenüberliegenden Sitz legen wollte, bis sie es alle, Olive ausgenommen, schließlich doch taten. Der Oberst, der ihr gegenüber auf der Bank lag, wachte in jener Nacht mehr als einmal auf und sah sie in ihre Ecke geschmiegt dasitzen, die Augen noch immer offen. Wenn er dann nach ihrem kleinen Kopf hinüberstarrte, den er so sehr bewunderte und der in dem dunklen Stohhütchen gerade und reglos gegen das Kissen gelehnt war, wurde er plötzlich lebendig. Bei der damit verbundenen Anstrengung bekam der Ire einige leichte Stöße ab, der Oberst zog die Beine vom Sitz, beugte sich in der Dunkelheit zu ihr hinüber, und während er einen Duft wie von Veilchen einsog, flüsterte er heiser: »Kann ich etwas für dich tun, Liebste?« Doch sie schüttelte dann nur lächelnd den Kopf, worauf er sich zurückzog, und nachdem er den Atem angehalten, um zu sehen, ob Dolly schlief, legte er die Beine wieder auf den Sitz gegenüber, wobei er den Iren leise anstieß. Nach einer jeden solchen Expedition lag er volle zehn Minuten wach und staunte über ihre starre Unbeweglichkeit. In der Tat verbrachte sie die ganze Nacht wie in einem Zauberbann mit dem Gefühl, daß Lennan neben ihr säße und ihre Hand in der seinen hielte. Sie schien wahrhaftig die Berührung seines Fingers auf der winzigen Stelle ihrer bloßen Hand zu spüren, die der Handschuh freiließ. Es war etwas Wunderbares um dies geheimnisvolle Beisammensein in der dunklen, vorbeihuschenden Nacht – sie hätte um alles in der Welt nicht schlafen mögen! Noch nie zuvor hatte sie sich ihm so nah gefühlt, auch damals nicht, als er sie das eine Mal unter den Oliven geküßt; auch nicht gestern, als er beim Konzert seinen Arm gegen den ihren gedrückt und sie so gierig seinem Flüstern gelauscht hatte. Und jene glücklichen vierzehn Tage zogen in endloser Kette an ihrem Geist vorüber. Ihre Erinnerungen waren wie Blumen, so voll Duft und Wärme und Farbe, doch von allen war vielleicht keine so lebendig wie die Erinnerung an den Augenblick, als er an der Tür ihres Abteils so leise gesagt hatte, daß nur sie es hören konnte: »Leb wohl, Geliebte!« Noch nie vorher hatte er sie so genannt. Nicht einmal der Kuß auf ihre Wange unter den Oliven kam der stillen Köstlichkeit dieses Wortes gleich. Und bei all dem Rattern und Fauchen des Zuges und dem Schnarchen des Iren klang es ihr unablässig in den Ohren, eine dunkle Stunde nach der andern. Am Ende war es gar nicht zu verwundern, daß sie die ganze Nacht über kein einziges Mal der Zukunft ins Auge blickte, keine Pläne schmiedete und sich ihre Lage gar nicht zu vergegenwärtigen suchte, sondern sich nur der Erinnerung hingab und dem halb traumhaften Bewußtsein, daß er ganz dicht neben ihr war. Was auch später kommen mochte, in dieser Nacht gehörte sie ihm. Das war der Zauberbann, der ihr jene sonderbare, sanfte, starre Unbeweglichkeit verlieh, die ihren Onkel so ergriff, jedesmal, wenn er aufwachte.

In Paris fuhren sie von einem Bahnhof zum andern in einem Gefährt, das zu eng für drei war, ›um die Beine auszustrecken‹, wie der Oberst sagte. Da seiner Nichte gar nichts anzumerken war, auch kein Bedauern, hob sich der Mut des Obersten wieder, und er bekannte seiner Frau am Büfett des Nordbahnhofs, als Olive zum Waschen fortgegangen war, es scheine doch nicht viel dahinterzustecken, wenn man bedächte, wie gut sie gereist sei.

Aber Mrs. Ercott gab zur Antwort:

»Hast du denn noch nicht bemerkt, daß Olive nie verrät, was sie nicht zeigen will? Nicht umsonst hat sie solche Augen.«

»Was für Augen?«

»Augen, die alles sehen und so tun, als sähen sie nichts.«

Der Oberst fühlte, daß etwas sie gekränkt hatte, und versuchte ihre Hand zu ergreifen.

Mrs. Ercott jedoch stand schnell auf und ging dahin, wohin er nicht folgen konnte.

So plötzlich verlassen, saß der Oberst brütend da und trommelte mit den Fingern auf dem kleinen Tisch. Was war nur los? Dolly war ungerecht! Die arme Dolly! Er hatte sie doch genauso lieb wie sonst! Natürlich! Was konnte er dafür, daß Olive so jung – und hübsch war? Wie konnte er anders, als sich um sie kümmern und wünschen, ihr diese dumme Geschichte zu ersparen? So saß er da, verwundert und etwas aus der Fassung gebracht über die Unvernunft der Frauen. Es kam ihm nicht in den Sinn, daß Mrs. Ercott die Nacht fast ebenso schlaflos verbracht wie seine Nichte und durch die halbgeschlossenen Augen jede seiner kleinen Expeditionen beobachtet hatte, wobei sie zu sich selbst gesagt: Ach, was liegt ihm daran, ob ich gut reise!

Sie kehrte aber gefaßt zurück und verbarg ihren Kummer; und bald darauf eilten sie wieder England entgegen.

Doch die Zukunft fing an, von Olive Besitz zu ergreifen; der Zauber der Vergangenheit verlor bereits an Kraft; der Gedanke, daß alles nur ein Traum gewesen, wurde mit jeder Minute stärker. In wenigen Stunden würde sie wieder das kleine Haus betreten, das im Schatten jener alten, von Wren erbauten Kirche lag, die sie irgendwie an die Kindheit erinnerte und an ihren strengen Vater mit den scharf gemeißelten Zügen. Das Wiedersehn mit ihrem Gatten! Wie das überstehen! Und heute nacht! Aber sie mochte nicht an heute nacht denken. Und auch nicht an all die Morgen, die ihr nichts zu tun gaben, worüber sie sich billigerweise hätte beschweren können, und doch auch wieder nichts, was sie ohne das Gefühl hätte vollbringen können, daß jetzt alle Freundschaft, alles Interesse und alle Farbe aus ihrem Leben geschwunden und sie nur eine Gefangene war. Und diese Morgen, das ahnte sie, würden sie aus ihrem Traum herausreißen; und sie würde es geschehen lassen, fast ohne sich zu wehren. Ihr Haus an der Themse, wo ihr Gatte nur über Sonntag hinkam, war bis jetzt ihr Zufluchtsort gewesen; nur konnte sie dort Mark nicht sehen – wenn sie nicht –! Bei dem Gedanken aber, daß sie ihn wiedersehen würde, ihn manchmal sehen müßte, sah alles wieder ein wenig verlockender aus. Wenn sie ihn nur sehen konnte, alles übrige war gleichgültig! So gleichgültig wie nie zuvor!

Der Oberst reichte ihr die Handtasche herunter. Sein munteres: »Scheint eine stürmische Überfahrt zu werden!« brachte sie wieder zu sich. Froh, allein zu sein, und nun wirklich müde, suchte sie die Damenkabine auf und schlief während der Überfahrt, bis die Stimme der alten Wärterin sie weckte: »Sie haben gut geschlafen. Wir sind an der Landungsbrücke, Fräulein!« Ja, wenn sie das nur noch wäre! Sie hatte geträumt, daß sie auf einem blumigen Anger saß, und Lennan hatte sie an den Händen zu sich emporgezogen mit den Worten: ›Hier sind wir, Geliebte!‹

Auf Deck stand der Oberst mit Gepäck beladen, schaute sich nach ihr um und versuchte, einen Abstand zwischen sich und seiner Frau zu halten. Er winkte ihr mit dem Kinn. Als sie sich einen Weg zu ihm bahnte, blickte sie zufällig auf. An dem Geländer des Landungsplatzes über ihr stand ihr Gatte. Er stützte sich darauf und schaute aufmerksam herunter; seine hohe, breite Gestalt ließ die Leute zu beiden Seiten unbedeutend erscheinen. Das glattrasierte, viereckige Gesicht mit dem starren, einschüchternden Blick zeigte eine solche Macht und Unbeweglichkeit, daß die benachbarten Gesichter daneben ganz verschwanden. Sie sah ihn genau, bemerkte sogar die silbernen Fäden in seinem dunklen Haar zu beiden Seiten unter dem Strohhut; bemerkte, daß er zu massiv für seinen hübschen blauen Anzug aussah. Die Spannung in seinem Gesicht ließ nach; er machte eine leichte Bewegung mit der Hand. Plötzlich durchzuckte es sie: Wenn nun Mark mit ihnen gereist wäre, wie er es hatte tun wollen? Für immer und ewig war nun diese dunkle, massive Gestalt, die zu ihr herunterlächelte, ihr Feind, vor dem sie sich so weit wie möglich hüten und schützen, vor dem sie auf alle Fälle ihre wahren Gedanken und Hoffnungen verbergen mußte! Sie hätte sich winden mögen und aufschreien; statt dessen packte sie krampfhaft den Griff ihrer Handtasche und lächelte. Obgleich sie seine Gewohnheiten so genau kannte, spürte sie doch in seinem Gruß, in dem gewaltsamen Anpacken ihrer Schultern eine verhaltene Glut, deren Natur sie nicht ganz zu ergründen vermochte. In seiner Stimme lag eine ingrimmige Aufrichtigkeit: »Gut, daß du zurück bist, hab geglaubt, du kämst überhaupt nicht mehr!« Seiner Obhut wieder ausgeliefert, überkam sie ein derartiger Schwächezustand, daß sie kaum das Abteil erreichen konnte, das er reserviert hatte. Es schien ihr, daß sie trotz aller ihrer Vorgefühle doch bis zu diesem Augenblick nicht die leiseste Ahnung davon gehabt hatte, was ihr bevorstand; und als er murmelte: »Müssen wir die alten Fossilien mitnehmen?«, blickte sie zurück, um sich zu vergewissern, daß ihr Onkel und ihre Tante auch folgten. Um ein Gespräch zu vermeiden, gab sie vor, eine schlechte Fahrt gehabt zu haben, und lehnte sich mit geschlossenen Augen in ihre Ecke zurück. Wenn sie sich doch wieder öffnen und statt dieses eckigen Gesichtes mit seinem unablässigen Ausdruck des Besitzes jenes andere Antlitz sehen könnte mit den sehnsüchtigen Augen voll demütiger Bewunderung! Die unendlich lange Fahrt endete ihr viel zu früh. Auf dem Charing-Cross-Bahnhof klammerte sie sich verzweifelt an des Obersten Hand. Sobald sein gütiges Gesicht verschwunden war, würde sie ganz verlassen dastehn! Dann vernahm sie in dem geschlossenen Wagen ihres Gatten Stimme: »Willst du mir keinen Kuß geben?« und ließ sich seine Umarmung gefallen.

Immer wieder versuchte sie sich damit abzufinden: Was liegt daran? Es ist ja nicht mein Ich, meine Seele, mein Geist – es sind ja nur meine elenden Lippen!

Sie hörte ihn sagen: »Du scheinst dich aber nicht sehr zu freuen, mich wiederzusehn!« Und dann: »Wie ich höre, war der junge Lennan auch dort. Was hatte der dort zu suchen?«

Sie fühlte, wie plötzlich die Furcht auf sie einstürmte, fragte sich, ob man es ihr ansah, und verbarg sie hinter einer bei ihr natürlichen Wachsamkeit – alles in der Sekunde, ehe sie erwiderte: »Oh, nur zur Erholung.«

Einige Augenblicke vergingen, dann sagte er:

»In deinen Briefen hast du ihn gar nicht erwähnt.«

Sie entgegnete kühl: »So? Wir waren oft mit ihm zusammen.«

Sie wußte, daß er sie anblickte – forschend, halb drohend. Warum, ach, warum konnte sie es in diesem Augenblick nicht herausschreien: Ich liebe ihn, hörst du's? Ich liebe ihn! Es schien ihr so gräßlich, ihre Liebe mit diesen halben Lügen zu verleugnen! Aber es war ja alles so viel grausamer und aussichtsloser, als sogar sie geglaubt hatte. Wie unbegreiflich schien es ihr jetzt, daß sie sich jemals diesem Manne hatte fürs Leben verbinden können! Wenn sie nur von ihm fort auf ihr Zimmer gehen könnte, um nachzudenken und einen Plan zu schmieden! Denn seine Augen ließen nicht von ihr ab, glitten unablässig über sie hin mit ihrem drohenden Forschen, ihrem gierigen und doch Mitleid erregenden Verlangen, bis er endlich sagte:

»Na, es hat dir nichts geschadet. Du siehst famos aus.« Doch seine Berührung war sogar für ihre Selbstbeherrschung zuviel, und sie fuhr zurück, als wenn er sie geschlagen hätte.

»Was ist los? Hab ich dir weh getan?«

Es schien ihr wie Spott, aber im nächsten Augenblick ward ihr klar, daß er im Ernst gesprochen hatte. Und die ganze Gefahr, in der sie, vielleicht auch Mark selbst schwebte, wenn sie vor diesem Manne zurückschreckte, kam ihr mit erdrückender Deutlichkeit zum Bewußtsein; und sie machte einen verzweifelten Versuch, indem sie ihre Hand durch seinen Arm zog und sagte: »Ich bin sehr müde. Du hast mich erschreckt.«

Er aber schob ihre Hand von sich, wandte sich ab und starrte aus dem Fenster. Und so erreichten sie ihr Heim.

Nachdem er sie verlassen hatte, blieb sie auf demselben Fleck bei ihrem Kleiderschrank stehen, regungslos, ohne einen Laut und dachte: Was soll ich nur tun? Wie soll ich das nur aushalten?


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