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Achtes Kapitel

Nun, da sie fort war, war es eigentlich seltsam, wie wenig sie von ihr sprachen, wenn man bedachte, daß sie so lang bei ihnen gewesen. Und sie erhielten von ihr nur einen an Sylvia gerichteten Brief, sehr bald nach ihrer Abreise, der mit den Worten schloß: ›Pa sendet seine ergebensten Empfehlungen. Mit herzlichsten Grüßen an Sie, Mr. Lennan und alle Tiere – Nell.

Oliver kommt nächste Woche her. Wir gehen auf ein paar Rennen.‹

Es war natürlich schwer, von ihr zu reden, wo sich jene Episode mit der Blume zugetragen hatte, die doch zu abenteuerlich zum Erzählen war – eine Sache, die Sylvia in ganz schiefem Licht sehen würde, wie das schließlich jede Frau könnte. Aber was war es denn in Wirklichkeit anderes gewesen als der ungezügelte Impuls eines gemütvollen Kindes, das sich danach sehnte, seinen durch die Oper geweckten Gefühlen Ausdruck zu verleihen? Was anderes als die leise Zärtlichkeit eines Kindes, einer der flüchtigen Blicke in das Mysterium der Leidenschaft, den junge Menschen manchmal tun? Er durfte diese liebe Torheit nicht verraten. Und da er sie nicht verraten wollte, war er liebevoller zu Sylvia als sonst.

Sie hatten keine Pläne wegen der Sommerferien gemacht, und er ging nur allzugern auf ihren Vorschlag ein, nach Hayle zu fahren. Wenn irgendwo, so mußte ihn dort diese seltsame Unrast loslassen. Schon viele Jahre waren sie nicht in dem alten Haus gewesen; seit Gordys Tod war es gewöhnlich vermietet worden.

Sie verließen London spät im August. Der Tag ging zu Ende, als sie ankamen. Die Geißblattranken waren schon lang von dem Zaun des Bahnhofs entfernt worden, an den er sich vor neunundzwanzig Jahren gelehnt, als er dem Zuge nachsah, der Anna Stormer entführte. In dem gemieteten Einspänner schmiegte sich Sylvia dicht an ihn und hielt seine Hand unter der alten Wagendecke. Beide fühlten die gleiche Aufregung beim Wiedersehen dieses alten Heims. Keine einzige Seele aus den vergangenen Tagen würde noch dort sein – nur das Haus, die Bäume, die Eulen und die Sterne; der Bach, der Park und der Felsblock am Wasser! Als sie ankamen, war es bereits finster; nur ihr Schlafzimmer und zwei Wohnzimmer waren für sie zurechtgemacht worden, in denen noch immer ein Feuer brannte, obzwar es Hochsommer war. Dieselben scheußlichen Heatherleys blickten von den schwarzen, mit Eichenholz getäfelten Wänden herab. Derselbe Geruch von Äpfeln und alten Mäusen war hier und dort auf den dunklen Gängen mit ihren unerwarteten Treppen zu spüren. Es war alles merkwürdig unverändert geblieben, wie alte Häuser, wenn man sie möbliert vermietet.

Bei Nacht wachte er einmal auf. Durch die weitgeöffneten Fenster ohne Vorhänge sah die von Sternen wimmelnde Nacht herein, ganze Schwärme wiegten sich und zitterten dort oben; und aus der Ferne tönte der melancholische samtweiche Ruf einer Eule herüber.

Dicht neben ihm sagte Sylvias Stimme:

»Mark, weißt du noch – jene Nacht, als sich dein Stern in meinem Haar verfing?«

Ja, er erinnerte sich noch. Und durch seinen schläfrigen, gerade aus Träumen aufgescheuchten Geist gingen immer wieder die komischen, sinnlosen Worte: Niemals – niemals verlaß ich Mister Micawber …

Ein angenehmer Monat war's – er las, durchstreifte mit den Hunden die Umgebung oder lag ganze Stunden zwischen den Felsblöcken oder an den Ufern des Flusses und beobachtete Tiere und Vögel.

Der kleine alte Gewächshaustempel seiner früheren Meisterwerke existierte noch, wurde aber nur zur Aufbewahrung der Gießkannen benutzt. Doch keine Spur von Arbeitslust wollte sich einstellen. Er lebte nur in dem Bewußtsein, daß die Zeit verstrich – nicht ruhelos, nicht gelangweilt, nur wartend – aber worauf, davon hatte er keine Ahnung. Und Sylvia war jedenfalls glücklich, lebte in diesen alten Stätten auf und verlor ihren hellen Teint in der Sonne; sie trug sogar wieder einen Sonnenhut, in dem sie außerordentlich jung aussah. Die Forellen, die der alte Gordy so verfolgt hatte, blieben jetzt ungestört. Keine Flinte wurde abgedrückt; Kaninchen, Tauben, selbst die wenigen Rebhühner genossen jene ersten Herbsttage in Frieden. Laub und Farnkraut verblichen sehr früh, so daß der Park in dem dunstigen Septembersonnenlicht eine fast goldene Färbung annahm. Eine sanfte Milde lag über den ganzen Ferien. Und aus Irland kamen keine weiteren Nachrichten, nur eine Ansichtskarte mit den Worten: ›Das ist unser Haus – Nell.‹

In der letzten Septemberwoche fuhren sie nach London zurück. Und sofort fing in ihm wieder jenes rastlose, unbegreifliche Weh zu wühlen an – jenes Gefühl, als ob er aus sich selbst herausgezogen würde; und wieder fing er an, stundenlang durch den Park zu wandern, über Gras, das bereits mit gefallenem Laub bedeckt war, immer voll Hunger – wonach?

Dromores Vertrauenswürdiger konnte nicht sagen, wann sein Herr zurück sein würde, nach dem St.-Leger-Rennen wäre er mit Miß Nell nach Schottland gefahren. Fühlte sich Lennan enttäuscht? Nein, eher erleichtert. Aber sein Weh verließ ihn keinen Augenblick, sondern zog aus seiner Geheimhaltung und Einsamkeit immer neue Nahrung, da er mit niemand darüber sprechen konnte. Warum war er nicht längst schon zu der Erkenntnis gekommen, daß die Jugend vorbei war, die Leidenschaft zu Ende, daß der Herbst ihn in Bann hielt? Wie konnte er nur die Tatsache ignorieren, daß die Zeit entflieht? Wie früher fand er auch jetzt in der Arbeit Zuflucht. Die Schäferhunde und ›Das Mädchen auf dem Pferd Magpie‹ waren fertig. Er begann ein phantastisches Relief: eine Nymphe, die hinter einem Felsen hervorspäht, und einen Mann mit wilden Augen, der sich durch Schilf an sie heranschleicht. Wenn er in dem Antlitz der Nymphe etwas von dem Locken der Jugend, des Lebens und der Liebe wiedergeben konnte, das ihn so quälte, in dem Antlitz des Mannes den Zustand seines eigenen Herzens, so könnte wohl jenes Gefühl zur Ruhe gebracht werden. Er mußte sich davon befreien, um jeden Preis. Und den ganzen Oktober arbeitete er unermüdlich, wie rasend – und kam doch nicht recht vom Fleck … Was konnte er auch erwarten, wo das Leben die ganze Zeit über gedämpft an seine Tür pochte?

Es war am Dienstag nach dem Schluß des letzten Newmarket-Rennens, gerade als es dunkel wurde, als das Leben die Tür öffnete und hereinkam. Sie trug ein dunkelrotes Kleid, ein neues, und ihr Gesicht – ihre Gestalt waren zweifellos ganz anders als die in seiner Erinnerung! Sie war zum Leben erwacht, reif geworden. Sie war kein Kind mehr, das konnte man sofort sehen. Wangen, Mund, Hals, Taille – alles schien voller, wohlgestalteter zu sein; das lichtbraune Kraushaar war jetzt unter einer Samtmütze aufgesteckt; nur die großen grauen Augen schienen ganz dieselben. Und bei ihrem Anblick tat sein Herz förmlich einen Sprung, als ob all seine unbestimmten sehnenden Empfindungen ihr Ziel gefunden hätten.

In dieser Erregung erkannte er plötzlich, daß sein letzter Augenblick mit diesem Mädchen, das jetzt kein Kind mehr war, ein geheimnisvoller, von warmem Leben und Erregung durchfluteter Augenblick gewesen; ein Augenblick, der vielleicht Gefühle für sie bedeutet, in ihr hervorgerufen haben mochte, von denen er nicht die leiseste Ahnung gehabt. Er versuchte, die wilde Bewegung seines Herzens nicht zu beachten, hielt ihr die Hand hin und murmelte:

»Ah, Nell! Endlich zurück? Sie sind gewachsen!«

Dann fühlte er, wie sie die Arme um seinen Nacken schlang und sich an ihn drückte, und seine ganze Kraft verließ ihn. Der Gedanke: Das ist entsetzlich! durchzuckte ihn im gleichen Augenblick. Er erwiderte ihren Druck nur leicht und krampfhaft – konnte ein Mann noch zurückhaltender sein? –, dann war es ihm gerade noch möglich, sie sanft von sich zu schieben, wobei er mit aller Gewalt zu denken bemüht war: Sie ist ja noch ein Kind! Es ist genauso, wie's nach Carmen war! Sie weiß ja gar nicht, was ich fühle! Aber gleichzeitig empfand er das rasende Verlangen, sie an sich zu reißen. Die Berührung mit ihr hatte seine ganze Ungewißheit zunichte, die Dinge nur zu klargemacht, hatte alle seine Sinne entflammt.

Er sagte unsicher:

»Komm zum Feuer, mein Kind, und erzähl mir alles!«

Wenn er sich nicht an die Idee klammerte, daß sie nur ein Kind war, mußte er den Kopf verlieren! Perdita – ›die Verlorene‹! Der rechte Name für sie, wahrhaftig, wie sie dastand und ihre Augen im Schein des Feuers glänzten – magnetischer denn je! Und um der Lockung jener Augen zu entgehen, beugte er sich nieder und schürte die Kohlen, indem er sagte:

»Warst du schon bei Sylvia?« Aber er war vom Gegenteil überzeugt, noch ehe sie ungeduldig die Achseln zuckte. Dann raffte er sich auf und sagte:

»Was ist mit dir geschehen, Kind?«

»Ich bin kein Kind!«

»Ja, wir sind beide älter geworden. Vor kurzem bin ich siebenundvierzig geworden.«

Sie ergriff seine Hand – Himmel, wie geschmeidig sie war! – und murmelte:

»Du bist gar nicht alt; du bist noch ganz jung!«

Er wußte sich nicht mehr zu helfen, das Herz schlug ihm heftig, aber noch immer die Augen von ihr abgewandt, sagte er:

»Wo ist Oliver?«

Sie ließ seine Hand fallen.

»Oliver? Ich haß ihn.«

Sich nicht in ihre Nähe wagend, begann er auf und ab zu gehen. Und sie folgte ihm mit ihrem Blick, während die Flammen auf ihrem roten Kleide spielten. Welch unheimliche Stille! Welche Macht sie in jenen wenigen Monaten entwickelt hatte! Hatte er sie merken lassen, daß er jene Macht empfand? Und war all das aus einem kurzen Augenblick in einem dunklen Gang entstanden, als ihm eine Blume in die Hand gedrückt ward? Warum hatte er sie damals nicht hart angefahren, ihr nicht gesagt, daß sie eine kleine romantische Närrin war? Der Himmel allein wußte, welchen Ideen sie sich hingegeben hatte! Aber wer hätte annehmen können, wer träumen, daß …? Und neuerdings klammerte er sich entschlossen an den Gedanken: Sie ist ein Kind – nur ein Kind!

»Komm!« sagte er, »erzähl mir doch, wie's in Irland war!«

»Ach, langweilig war's – 's war überall langweilig ohne dich!«

Es kam ohne Zögern und Schamgefühl heraus, und er konnte nur murmeln:

»Ah, die Zeichenstunden sind dir wohl abgegangen!«

»Ja. Kann ich morgen herkommen?«

Das war der Augenblick, ›nein‹ zu sagen, ›du bist ein töricht Kind und ich ein alter Narr!‹ Er hatte weder den Mut noch die Geistesgegenwart dazu; noch – den Wunsch. Und ohne etwas zu erwidern, ging er auf die Tür zu, um das Licht anzudrehen.

»Ach, bitte, nicht! Es ist grad schön so!«

Das schattenhafte Zimmer, der bläuliche Dämmer auf alle Fenster gemalt, der flackernde Schein des Feuers, das bleiche Dunkel der kaum sichtbaren Gipsgüsse und Bronzen und jene glühende Gestalt dort vor dem Kamin! Und mit etwas kläglicher Stimme fuhr sie fort:

»Freust du dich denn gar nicht, daß ich zurück bin? Ich kann nicht deutlich sehen, wo du bist!«

Er trat in den Feuerschein zurück, und sie seufzte leise und erleichtert auf. Dann sagte ihre ruhige, jugendliche Stimme ganz besonders deutlich:

»Oliver will mich heiraten, und ich mag natürlich nicht.«

Er wagte nicht zu fragen: Warum nicht? Er wagte überhaupt nicht, etwas zu sagen. Es war zu gefährlich. Und darauf folgten jene verblüffenden Worte: »Du weißt doch warum, nicht wahr? Natürlich weißt du's!«

Es war lächerlich, fast schändlich, ihre Bedeutung zu verstehen. Und er starrte, ohne ein Wort zu sagen, vor sich hin; Bescheidenheit, Bestürzung, Stolz und etwas wie wahnsinnige Freude, alles arbeitete und kochte in ihm im sonderbarsten Wirrwarr der Gefühle. Aber er sagte nur:

»Komm, mein Kind, wir sind heute beide nicht ganz bei Sinnen. Wir wollen in den Salon gehen.«


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