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Viertes Kapitel

Ihn ging's nichts an! Nach jener Enthüllung war es nur das reinste kameradschaftliche Gefühl, das ihn noch einmal zu Dromore führte, um ihm zu beweisen, daß der Begriff ›nicht rechtmäßig‹ nur in der Einbildung seines Freundes, doch nicht für ihn existiere; um ihm neuerdings zu versichern, daß Sylvia nur zu froh sein würde, das Kind jederzeit willkommen zu heißen.

Nachdem er ihr erzählt, was es mit Nells Geburt für eine Bewandtnis hatte, sprach sie eine ganze Minute lang kein Wort, sondern sah ihn fortwährend an; endlich sagte sie: »Das arme Kind! Ob sie's wohl weiß? Die Menschen haben so wenig Herz, sogar heute noch!« Er seinerseits konnte sich nicht vorstellen, daß jemand einer solchen Sache Wichtigkeit beimessen sollte, es mußte den Betreffenden nur um so freundlicher gegen das Mädchen stimmen; doch in solchen Angelegenheiten wußte Sylvia, die mit der Welt mehr in Berührung stand, besser Bescheid. Sie verkehrte mit Leuten, die er nicht kannte – und die normal geartet waren.

Es war ziemlich spät, als er zum dritten Male auf Dromores Bude erschien.

»Mr. Dromore, gnädiger Herr«, sagte der Mann – er hatte eines jener durchaus vertrauenswürdigen Gesichter, welche die allweise Vorsehung Dienern in der Nachbarschaft von Piccadilly verliehen –, »Mr. Dromore, gnädiger Herr, ist nicht zu Hause. Aber er kommt fast sicher zurück, um sich zum Abend umzukleiden. Miß Nell ist zu Hause, gnädiger Herr.«

Und da war sie auch – sie saß am Tisch und klebte Photographien in ein Album, das einsame junge Geschöpf in dem Heim jenes alternden Junggesellen! Ohne daß sie ihn hörte, betrachtete Lennan ihren Kopf von hinten mit dem dichten braunen, nach rückwärts gebundenen Kraushaar, das auf ihr dunkelrotes Kleid herabfiel. Und nach dem leisen »Mr. Lennan, gnädiges Fräulein« des Vertrauenswürdigen murmelte er ein noch leiseres: »Darf ich eintreten?«

Mit vollster Gemütsruhe legte sie ihre Hand in die seine.

»Ach ja, bitte! Wenn Sie das Durcheinander hier nicht stört«, und indem sie seine Fingerspitzen leicht drückte, fügte sie hinzu: »Würde Sie's langweilen, meine Photographien anzusehn?«

Und so nahmen sie zusammen Platz, die Bilder vor sich: Momentaufnahmen von Leuten mit Flinten oder Angeln, kleine Gruppen von Schulmädchen, Kätzchen, Dromore und sie zu Pferde, und mehrere eines jungen Mannes mit breitem, kühnem, hübschem Gesicht. »Das ist Oliver, Oliver Dromore, ein Vetter meines Vaters in zweiter Linie. Netter Junge, nicht wahr? Gefällt er Ihnen?«

Lennan wußte keine rechte Antwort. Nicht ihr Vetter in zweiter Linie, sondern der ihres Vaters! Und impulsiv schlug wieder in ihm die Flamme entrüsteten Mitleids auf.

»Und wie steht's mit dem Zeichnen? Sie waren noch nicht zum Unterricht bei mir.«

Sie wurde fast so rot wie ihr Kleid.

»Ich hab gedacht, Sie wollten nur höflich sein. Ich hätt nicht fragen sollen. Natürlich möcht ich's furchtbar gern aber ich weiß, es wird Sie nur langweilen.«

»Ganz und gar nicht.«

Sie blickte zu ihm auf. Was für merkwürdige schmachtende Augen sie hatte!

»Soll ich also morgen kommen?«

»Wann Sie wollen, zwischen halb eins und eins.«

»Wohin?«

Er zog eine Karte hervor.

»Mark Lennan – ah, Ihr Name gefällt mir. Schon neulich hat er mir gefallen. Er ist furchtbar nett!«

Was lag in einem Namen, daß er ihr gefallen sollte? Sein Ruhm als Bildhauer konnte nichts damit zu tun haben, denn sie wußte gewiß nichts davon. Ah, aber ein Name hat oft etwas ganz Besonderes für Kinder. Welche Anziehungskraft übten in seiner Kindheit nicht die Worte Känguruh, Makkaroni, Alabaster, Kamerun, Mr. McCrae aus! Eine ganze Woche hatte alle Welt Mr. McCrae geheißen – ein höchst alltäglicher Mensch und Gordys Freund.

Aus irgendeinem Grunde fing sie jetzt an, ganz unbefangen von ihrer Schule, vom Reiten und Autofahren zu reden – rasendes Tempo schien ihr besonders Spaß zu machen –, über Newmarket, für das sie schwärmte, und über die Theater, das heißt über solche Stücke, die Johnny Dromore wahrscheinlich gebilligt hatte; diese sowie ›Hamlet‹ und ›König Lear‹ war alles, was sie gesehen. Noch nie hatte er ein von Gedanken und Kunst so unberührt gebliebenes Mädchen getroffen, und doch war sie nicht dumm, denn sie hatte augenscheinlich einen gewissen angeborenen Geschmack; nur hatte sie offenbar noch nichts Rechtes kennengelernt. Wie sollte sie auch – Johnny Dromore duce, et auspice Johnny Dromore! Zwar war sie während ihrer Schulzeit in die Nationalgalerie geführt worden. Und Lennan sah im Geiste acht oder zehn Jüngferchen, die an den Röcken einer alten Jungfer hingen und Landseers Hunde bewunderten, über Botticellis Engel leise kicherten, maulafften, umherraschelten und schwatzten wie Vogeljunge im Gebüsch.

Aber trotz seiner Umgebung war dies Kind aus dem Johnny-Dromore-Reich so weit unschuldiger als gebildete Mädchen des gleichen Alters. Wenn ihm ihre grauen, magnetischen Augen folgten, so geschah das offenkundig und ohne Hintergedanken. Sie hatte noch nichts Kokettes an sich.

Eine Stunde verstrich, aber Dromore kam nicht. Und die Einsamkeit dieses jungen Wesens in der ungeeigneten Behausung fing an, Lennan auf die Nerven zu gehen.

Was sie des Abends tue?

»Manchmal geh ich mit Pa ins Theater, gewöhnlich aber bleib ich zu Hause.«

»Und dann?«

»Oh, ich lese oder spreche französisch.«

»Was? Zu sich selbst?«

»Ja, oder manchmal zu Oliver, wenn er herkommt.«

Also Oliver kam her!

»Wie lange kennen Sie schon Oliver?«

»Oh, schon von Kindheit an.«

Er wollte sie fragen: Und wie lang ist das her?, hielt sich jedoch zurück und stand auf, um zu gehen. Sie faßte ihn am Ärmel und sagte:

»Sie dürfen nicht fort!« Dabei sah sie aus wie ein Hund, der zum Spaß beißen will, die emporgezogene Oberlippe ließ ihre kleinen weißen Zähne sehen, die sich in der Unterlippe eingruben, das Kinn war ein wenig vorgeschoben. Welch ein ungezügelter Wille! Nachdem er jedoch mit einem Lächeln gemurmelt hatte: »Ich muß aber fort!«, benahm sie sich sogleich wieder korrekt und sagte nur traurig: »Sie nennen mich gar nicht bei meinem Namen. Gefällt er Ihnen nicht?«

»Nell?«

»Ja. Eigentlich heiß ich Eleanor. Gefällt er Ihnen wirklich nicht?«

Wenn er den Namen verabscheut hätte, hätte er jetzt nur antworten können: »Doch! Sehr gut!«

»Das freut mich entsetzlich! Guten Abend!«

Als er auf die Straße hinauskam, war ihm nicht, als hätte man ihn am Ärmel berührt, sondern als wäre ihm fürchterlich ans Herz gegriffen worden. Und dieses warme, wirre Gefühl hielt während des ganzen Heimweges an.

Wie er sich zum Abendessen umkleidete, besah er sich mit ungewohnter Aufmerksamkeit im Spiegel. Jawohl, sein dunkles Haar war zwar noch dicht, wurde aber ohne Zweifel grau; auch zogen sich viele Linien um seine Augen; und jene Augen, noch immer verlangend, wenn sie lächelten, lagen jetzt ganz tief in den Höhlen, als hätte sie das Leben zurückgezwungen. Die Backenknochen traten stark hervor, die Wangen waren ganz mager und dunkel geworden, und unter dem fast schwarzen Schnurrbart sah sein Kinn zu spitz und knochig aus. Alles in allem ein Gesicht, das das Leben tüchtig hergenommen und das, so schien es ihm, nichts an sich hatte, was einem Kinde hätte gefallen und womit es sich hätte befreunden können.

Als er so von sich selbst Inventur aufnahm, brachte ihm Sylvia eine frisch geöffnete Flasche Eau de Cologne. Immer brachte sie ihm etwas – reizender konnte eine Frau in dieser Hinsicht nicht mehr sein. In dem grauen, tief ausgeschnittenen Kleid, in ihrer reinen, stillen Anmut und mit dem blaßgoldenen, so wenig von der Zeit berührten Haar hätte man sie wahrhaft schön nennen müssen, wenn ihr nicht die Würze der Innerlichkeit und eines eigenen Aromas abgegangen wäre, ebenso wie es ihrem Geist an einem gewissen Feuer mangelte. Nicht um die Welt hätte er sie merken lassen, daß er diesen Mangel je empfunden. Wenn man einen so kleinen Fehler bei einem sonst so guten, liebevollen und ergebenen Geschöpf nicht übersehen konnte, war man nicht wert zu leben.

An jenem Abend sang sie wieder ›Das Schloß von Dromore‹ mit dem seltsamen Refrain, der einen nicht mehr losließ. Und als sie zu Bett gegangen war und er rauchend am Feuer saß, schien das Mädchen im dunkelroten Kleid zu kommen und sich ihm gegenüberzusetzen, den Blick auf ihn geheftet, geradeso wie sie dagesessen hatte, als sie sich unterhielten. Dunkelrot hatte sie gut gekleidet! Hatte gut zu dem Ausdruck ihres Gesichtes gepaßt, als sie sagte: ›Sie dürfen nicht fort!‹ Es wäre doch seltsam, wenn sie nicht irgendeinen Teufel in sich hätte, bei dieser Herkunft!


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