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Elftes Kapitel

Er gebrauchte ihre Bemerkung, daß er müde aussehe und frische Luft schöpfen müsse, auch am nächsten Tag als Vorwand und sagte, daß er reiten wolle, ohne zu erwähnen, mit wem. Nachdem sie ihm beigestimmt, schwieg sie eine kleine Weile, dann fragte sie: »Warum reitest du nicht mit Nell?«

Er hatte sein Ehrbewußtsein bereits so weit eingebüßt, daß er sich kaum seiner Antwort schämte:

»Es könnte sie langweilen.«

»Ach nein, es würde sie nicht langweilen.«

Hatte sie etwas damit sagen wollen? Und mit dem Gefühl, als betrüge er sich selbst, gab er zurück:

»Gut, ich will's tun.«

Er merkte plötzlich, daß er seine Frau eigentlich nicht kannte, obwohl er bis jetzt stets der Meinung gewesen war, daß sie ihn nicht verstanden hatte.

Wenn sie nicht außerhalb zu Mittag gespeist hätte, wäre er selbst ausgegangen, um sich nicht durch sein Gesicht zu verraten. Denn das Fieber bei Kranken steigt fortwährend bis zum Eintritt einer gewissen Stunde. Und jeder, der ihn in seiner Droschke nach Piccadilly fahren sah, mußte ihn für einen Fieberkranken halten, nicht für einen gesunden Bildhauer mittleren Alters.

Die Pferde standen vor dem Haus, der kleine Magpie und eine rassige braune Stute, die Dromore aus seinem Rennstall verbannt hatte. Auch Nell war bereit – mit geröteten Wangen und leuchtenden Augen. Sie wartete nicht, bis er ihr aufs Pferd half, sondern nahm den Beistand des Vertrauenswürdigen in Anspruch. Was war es nur, daß sie so prachtvoll auf dem kleinen Pferde aussah – die Gestalt oder etwas Sanftes und Feuriges in ihrem Geiste, das das kleine Tier zu verstehen schien?

Schweigend ritten sie davon, aber sowie der mit Lohe bestreute Reitweg von Rotten Row das Geräusch der Hufe dämpfte, wandte sie sich ihm zu.

»Es war reizend von Ihnen zu kommen! Ich hab geglaubt, daß Sie Furcht vor mir hätten. – Sie haben Furcht vor mir.«

Und Lennan dachte: Sie hat recht!

»Aber bitte, machen Sie nicht wieder so ein Gesicht wie gestern! Es ist zu himmlisch heute! Ach, ich hab schönes Wetter so gern, und ich hab das Reiten so gern, und« – sie brach ab und sah ihn an. Warum kannst du nicht ein bißchen nett zu mir sein, schien sie zu fragen, und mich liebhaben, wie du's solltest? Darin lag eigentlich ihr ganzer Reiz – in der Überzeugung, daß er sie liebte und lieben sollte; daß sie ihn lieben sollte und auch liebte. Wie einfach!

Doch auch das Reiten ist keine komplizierte Leidenschaft; und nichtkomplizierte Leidenschaften heben einander auf. Es war ein Genuß, diese braune Stute zu reiten. Wer konnte auch bessere Pferde haben als Johnny Dromore!

Am Ende des Weges rief sie: »Reiten wir nach Richmond weiter!« und bog in die Fahrstraße ab, als wüßte sie, daß sie mit ihm tun könnte, was ihr gefiel. Er folgte ihr ohne Widerspruch, wobei er sich fragte: Warum? Was war nur an ihr, das ihn für alles, was er zu verlieren Gefahr lief, entschädigt hätte: seine Arbeitskraft, seine Würde, seine Selbstachtung? Was war es? Nur jene Augen, Lippen, Haare?

Und als hätte sie gewußt, woran er dachte, drehte sie sich um und lächelte.

So trabten sie denn über die Themsebrücke und über Barnes Common nach dem Park von Richmond.

Aber im Augenblick, als sie den Rasen erreichten, war sie, einen Blick nach ihm zurückwerfend, auf und davon. Hatte sie die ganze Zeit schon diese halsbrecherische Jagd im Sinn gehabt, oder war ihr die Schönheit dieses Herbsttages zu Kopf gestiegen – blauer Himmel und kupferrote Farnkrautflammen in der Sonne und die Buchen- und Eichenblätter; die reinste Farbenpracht des Hochlands, die nach Süden gekommen zu sein schien.

Nachdem er im ersten Ansturm die Lungenkraft der Stute erprobt hatte, jagte er Nell mit der hellsten Freude nach. Über die gefallenen Baumstämme der Lichtungen hin, bis zu den Hechsen im Farnkraut, wieder hinaus ins Freie, an einem Rudel verblüffter, ernst dreinschauender Rehe vorbei, über von Kaninchen aufgewühlten Boden, bis sie, gerade als er sie zu fassen meinte, sich ihm durch eine rasche Wendung um die Bäume herum entzog. Die verkörperte Teufelei! Nein, etwas noch Ärgeres als Teufelei! Endlich holte er sie ein und beugte sich vor, um ihren Zügel zu ergreifen. Sie aber riß ihr Pferd zurück, ein Peitschenhieb verfehlte seine Hand um Haaresbreite, so daß er an ihr vorbeischoß; scharf machte sie kehrt und flog davon wie ein Pfeil, zurück in den Wald, dicht an den Nacken des kleinen Pferdes geschmiegt, unter den Zweigen hin. Dann schoß sie aus den Bäumen hervor, den Hügel hinab. Hinunter sauste sie, in vollem Galopp, und Lennan stürmte ihr nach, sich zurücklegend und mit dem Gefühl, daß die braune Stute jeden Augenblick stürzen müßte. Das also nannte sie Spaß! Unten angekommen, flog sie herum und galoppierte am Fuße des Hügels entlang; und er dachte: Jetzt hab ich sie! Denn sie konnte unmöglich den Hügel wieder hinaufreiten, und fast einen Kilometer lang war keine andere Deckung vorhanden.

Da erblickte er keine dreißig Schritt entfernt eine alte Sandgrube. Großer Gott – sie ritt gerade darauf los! Und mit wilden Rufen versuchte er ihr zuvorzukommen. Sie jedoch hob nur die Peitsche, traf Magpie in die Flanke und ritt geradeaus weiter. Er sah den kleinen Teufel zum Sprung ansetzen, sah ihn springen – tief hinunter, sah ihn stürzen, um sich schlagen, tief einsinken, sah, wie sie, nach vorne geschleudert, sich überschlug und auf dem Rücken liegenblieb. Im Augenblick empfand er nichts, sondern hatte nur ein Bild vor Augen: gelber Sand, blauer Himmel, eine vorbeifliehende Krähe und ihr nach oben gewandtes Gesicht. Doch als er auf sie zukam, stand sie schon wieder auf den Füßen und hielt das betäubte Pferd am Zügel. Aber sowie er sie berührte, sank sie zu Boden. Ihre Augen waren geschlossen, doch konnte er fühlen, daß sie nicht ohnmächtig war; er hielt sie nur fest und drückte fortwährend die Lippen an ihre Stirn und Augen. Plötzlich ließ sie den Kopf zurücksinken, und ihre Lippen begegneten den seinen. Dann schlug sie die Augen auf und sagte: »Ich bin nicht verletzt, nur – schwindlig. Hat Magpie sich das Bein gebrochen?«

Ohne recht zu wissen, was er tat, stand er auf, um nachzusehen. Das kleine Pferd rupfte ein paar Grashalme ab, es war unverletzt, Sand und Farnkraut hatten seine Knie geschützt. Und die müde Stimme hinter ihm sagte: »Schon gut, laß die Pferde. Sie kommen, wenn ich sie rufe.«

Jetzt, da er wußte, daß sie ganz heil war, wurde er zornig. Warum hatte sie sich so verrückt benommen, ihm diesen furchtbaren Schrecken eingejagt? Aber mit derselben Stimme fuhr sie fort: »Sei mir nicht bös! Ich hab zuerst einhalten wollen, aber dann hab ich gedacht: Wenn ich spring, muß er nett zu mir sein – und da hab ich's getan. – Bitte, hab mich doch noch weiter lieb, auch wenn ich nicht verletzt bin!«

Ganz erschüttert setzte er sich neben sie, nahm ihre Hände in die seinen und sagte:

»Nell, Nell, es darf nicht sein – es war ja ein Wahnsinn!«

»Warum? Denk doch nicht darüber nach. Du sollst nicht nachdenken, nur liebhaben sollst du mich!«

»Mein Kind, du weißt nicht, was Liebe ist.«

Als Antwort schlang sie ihm nur die Arme um den Hals; doch da er sie nicht küßte, ließ sie sie wieder sinken und sprang auf.

»Schön! Aber ich hab dich lieb! Daran kannst du denken – mir kannst du's nicht verbieten!« Und ohne auf seine Hilfe zu warten, bestieg sie Magpie von dem Sandhaufen aus, auf den sie gefallen war.

Sehr nüchtern – dieser Ritt nach Hause. Als schämten sich die Pferde ihrer tollen Jagd, gingen sie dicht nebeneinander, so daß dann und wann sein Arm ihre Schulter berührte. Einmal fragte er sie, was sie während des Sprunges empfunden hatte.

»Ich wollt nur sicher sein, daß mein Fuß frei war. Es war eigentlich entsetzlich, herunterzufallen und dabei an Magpies Beine zu denken!« Und die Ziegenohren des kleinen Pferdes streichelnd, sagte sie: »Armer Kerl! Er wird morgen ganz steif sein.«

Wieder war sie nur das vertrauensvolle, mehr verträumte Kind. Oder hat vielleicht das Ungestüm der eben durchlebten Augenblicke sein Gefühl ertötet? Eine fast traumhafte Stunde – während die Sonne unterging, die Lichter eines nach dem andern angezündet wurden und etwas wie holdes Vergessen sich über alles breitete.

An der Tür, wo der Reitknecht sie erwartete, wollte Lennan sich verabschieden, doch sie flüsterte: »Ach, bitte, nicht! Ich bin jetzt so müde – du könntest mir ein wenig hinaufhelfen.«

Und indem er sie halb trug, stieg er an den Vanity-Fair-Karikaturen vorbei die Treppen empor und schritt durch den Gang mit der roten Tapete und den Van-Beer-Zeichnungen in das Zimmer, in dem er sie zuerst gesehen hatte.

Wie sie wieder in Dromores großem Sessel ruhte, das schnurrende Kätzchen zusammengerollt auf ihrer Schulter, murmelte sie:

»Ist es nicht gemütlich so? Sie können Tee machen, und wir wollen warmen Toast und Butter dazu nehmen.«

Und so blieb Lennan, während der Vertrauenswürdige Tee und Toast brachte, und ohne ein einziges Mal nach ihnen zu blicken, schien er alles zu wissen, was geschehen war und noch geschehen mochte.

Dann waren sie wieder allein, und als Lennan auf sie herabblickte, wie sie so in dem großen Stuhle ausgestreckt lag, dachte er: Gott sei Dank, daß auch ich müde bin – körperlich und seelisch.

Plötzlich aber sah sie zu ihm auf, und indem sie nach dem Bilde wies, vor das heute kein Vorhang gezogen war, sagte sie:

»Glaubst du, ich bin ihr ähnlich? Oliver hat mir diesen Sommer alles – über mich erzählen müssen. Deshalb brauchst du dir kein Gewissen daraus zu machen. Es ist ja ganz gleich, was mit mir geschieht. Was kümmert's mich! Du darfst mich liebhaben, ohne daß du dich deshalb für einen schlechten Menschen zu halten brauchst. Und du wirst mich auch liebhaben, nicht wahr?«

Den Blick noch immer auf sein Gesicht geheftet, fuhr sie dann rasch fort:

»Aber jetzt wollen wir nicht darüber reden. Es ist zu gemütlich. Ich fühl mich wirklich angenehm müde. Rauch doch!«

Lennans Finger zitterten so, daß er kaum die Zigarette anzünden konnte. Sie merkte es und sagte: »Bitte, gib mir eine! Pa sieht mich nicht gern rauchen.«

Johnny Dromore, der Tugendheld! Jawohl! Sorgte stets dafür, daß andere an seiner Statt tugendhaft blieben. Und er murmelte:

»Was würde er wohl dazu sagen, Nell, wenn er alles über diesen Nachmittag erführe?«

»Mir ist's egal.« Dann spähte sie durch das Fell des Kätzchens zu ihm hin und sagte: »Oliver will, daß ich Samstag auf einen Ball geh – es ist für einen wohltätigen Zweck. Soll ich?«

»Natürlich; warum nicht?«

»Kommst du hin?«

»Ich?«

»Ach, bitte tu's! Du mußt! Es ist ja mein allererster. Ich hab noch eine zweite Karte.«

Und gegen seinen Willen, gegen die Vernunft – gegen alles erwiderte Lennan: »Ja.«

Sie klatschte in die Hände, und das Kätzchen kroch auf ihren Schoß hinunter.

Als er aufstand, um zu gehen, rührte sie sich nicht, sondern blickte nur zu ihm empor, und er hätte unmöglich sagen können, wie er von ihr weggekommen war.

Eine kurze Strecke vor seinem Haus ließ er die Droschke halten – er begann zu laufen, denn er fühlte sich kalt und steif, und nachdem er mit seinem Schlüssel die Haustür geöffnet hatte, ging er direkt in den Salon. Die Tür war nicht ganz geschlossen, und Sylvia stand am Fenster. Er hörte sie seufzen; das Herz tat ihm weh. So still und schlank und einsam stand sie dort, und das Licht strahlte auf ihr blondes Haar, so daß es fast weiß schien. Dann wandte sie sich um und erblickte ihn. Er merkte, wie sie schwer schluckte, um nichts zu verraten, und er sagte:

»Du hast dich doch hoffentlich nicht geängstigt! Nell hatte einen kleinen Unfall – ist in eine Sandgrube gestürzt. Sie ist manchmal ganz verrückt. Ich bin zum Tee bei ihr geblieben – nur um mich zu überzeugen, daß sie sich nicht wirklich weh getan hatte.« Aber wie er sprach, empfand er geradezu einen Abscheu vor sich; seine Stimme klang so falsch!

Sie erwiderte nur: »Schon gut, Liebster!« Er sah jedoch, wie sie ihre Augen, jene blauen nur zu aufrichtigen Augen, von ihm abwandte, sogar als sie ihn küßte.

Und so fing wieder ein Abend und eine Nacht und ein Morgen des Fieberns, der Ausflüchte, der Wachsamkeit, des Bangens an, eine Folge halb ekstatischer Qualen, von denen er sich ebensowenig befreien konnte, wie ein Gefangener die Mauern seiner Zelle durchbrechen kann …

Wenn sie auch nur einen Tag in der Sonne lebt, wenn sie auch in tiefschwarzer Nacht ertrinkt – die dunkle Blume der Leidenschaft muß sich entfalten …


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