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Einundzwanzigstes Kapitel

Es war zehn vorbei, als sie aus dem Walde kamen. Sie hatten auf den Mondaufgang warten wollen; nicht einer goldenen Münze glich der Mond wie gestern abend, sondern elfenbeinblaß war er, und sein schimmernder Glanz lag über dem Farnkraut und bedeckte die unteren Zweige wie mit einem Schleier weißer Blüten.

Durch das Pförtchen hindurch gingen sie wieder das mondfarbene Weizenfeld entlang, das so grundverschieden von der Welt zu sein schien, in der sie noch vor anderthalb Stunden gewandelt waren.

Und Lennans Herz erfüllte ein Empfinden, wie es das Herz eines Mannes im ganzen Leben nur ein einziges Mal erfahren kann – solch demütige Dankbarkeit, solch ein Hochgefühl, solche Anbetung für sie, die ihm alles gegeben! Nichts als Freude sollte sie von nun an erleben – wie die Freude dieser letzten Stunde! Niemals sollte sie weniger glücklich sein! Und er kniete vor ihr am Rand des Wassers nieder und bedeckte ihr Kleid, ihre Hände und Füße, die von morgen an auf immer ihm angehören würden, mit heißen Küssen.

Dann stiegen sie in den Kahn ein.

Das Lächeln des Mondlichts glitt über die gekräuselten Wellen, übers Schilfrohr und die sich schließenden Wasserrosen hin; über ihr Antlitz, über das gelöste Haar, von dem die Kapuze zurückgefallen war; über die eine Hand, die sie ins Wasser hielt und die andere, welche die Blume an ihrer Brust berührte; und kaum hörbar flüsterte sie:

»Rudere, Liebster; es ist spät!«

Er tauchte die Ruder ein und trieb das Skiff in die Finsternis des Stauwassers …

Was sich dann zutrug, konnte er nie sagen, niemals genau in all den späteren Jahren. Er erblickte ihre weiße Gestalt, die aufgesprungen war und sich vorbeugte wie einer, der überfallen wird und nicht weiß, wohin er entweichen soll. Ein krachender Zusammenstoß! Etwas Hartes traf ihn am Kopf! Alles war verschwunden! Und dann – ein furchtbares, entsetzliches Ringen mit Schlamm und Wurzeln und Gestrüpp, ein Kampf der Verzweiflung in jener pechschwarzen Finsternis, zwischen Baumstümpfen, in stehendem Gewässer, das keinen Grund zu haben schien – er und jener andere, der wie eine mörderische Bestie in der Dunkelheit mit seinem Boot auf sie losgestürzt war; ein Suchen wie ein böser Traum, gräßlicher als Worte es beschreiben können, bis sie am Ufer im Mondlicht sie betteten, die trotz all ihrer Bemühungen sich nicht mehr regte … Dort lag sie ganz weiß, und die beiden kauerten ihr zu Häupten und zu Füßen – wie düstere Geister des Waldes und des Wassers bei dem Geschöpf, das sie auf ihrer Jagd ermordet hatten.

Wie lang sie dort geblieben waren, kein einziges Mal einander anblickend, kein Wort wechselnd, keine Sekunde ihre Hände von der Toten lassend, konnte er nie sagen – in der Sommernacht, in der das Mondlicht und seine Schatten sie umzitterten und der Nachtwind flüsternd durch das Schilfrohr strich!

Und dann regte sich in ihm von neuem das dauerndste aller Gefühle, so daß er wieder empfand … Nimmer wieder jene lichten Augen sehen, die ihn so geliebt! Nimmer wieder ihre Lippen küssen! Regungslos – wie das Mondlicht auf der Erde lag, und die Blume noch immer an ihrer Brust! Ans Ufer geworfen wie eine entwurzelte Seerose! Tot? Nein, nein! Nicht tot! Lebend in der Nacht – lebend für ihn – irgendwo! Nicht an diesem dunklen Ufer weilte sie, nicht in diesem scheußlichen Stauwasser bei jenem stummen, finsteren Geschöpf, das sie vernichtet hatte! Dort draußen am Wasser weilte sie – im Walde ihrer Glückseligkeit – irgendwo lebendig! … Und an Cramier vorbeitaumelnd, der sich nicht rührte, stieg er in sein Boot und ruderte, ruderte wie ein Tollwütiger in den Fluß hinaus.

Doch einmal draußen in der Strömung, sank er in sich zusammen und lag regungslos über den Rudern …

Und das Mondlicht überflutete sein dunkles Skiff, das abwärts trieb. Und das Mondlicht verlöschte die gekräuselten Wellen, die ihren Geist entführt hatten. Ihr Geist mischte sich jetzt mit der weißen Schönheit und den Schatten, vereint auf ewig mit der Stille und der Leidenschaft einer Sommernacht; schwebend, fließend, dem Rauschen des Schilfes, dem Flüstern der Wälder lauschend, vom ewigen Traum umfangen – jener Geist, der dahinging, wie alle dahingehen möchten: in der seligsten Stunde.


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