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Sechstes Kapitel

Danach kam sie oft zu ihnen, manchmal allein, zweimal mit Johnny Dromore, manchmal mit dem jungen Oliver, der, unter Sylvias Zauber geratend, bald sein hochnäsiges Wesen sein ließ. Und die Statuette wurde angefangen. Dann kam das Frühjahr allen Ernstes und mit ihm jene eigentliche Lebensaufgabe – die ›Flachrennen‹, wobei Johnny Dromores Genie nicht länger durch das ungesetzliche Wagnis des ›Springens‹ behindert ward. Einen Tag vor dem ersten Newmarket-Rennen kam er zu ihnen zum Abendessen. Er hatte eine Schwäche für Sylvia und sagte stets beim Weggehen zu Lennan: »Reizende Person, deine Frau!« Doch auch sie hatte eine Schwäche für ihn, da sie der gänzlichen Hilflosigkeit der Weisheit dieses Weltmenschen auf den Grund gekommen war und ihn für rührend hielt.

Nachdem er an jenem Abend weggegangen war, sagte sie:

»Sollte Nell nicht so lange bei uns wohnen, bis du mit der Statuette fertig bist? Sie muß sich jetzt sehr einsam fühlen, wo ihr Vater soviel fort ist.«

Es sah Sylvia ähnlich, an so etwas zu denken; aber würde es ihnen Freude oder Ärger bereiten, dies Kind mit seiner scheinbaren Reife, seinem zutraulichen Wesen und jenen Perdita-Augen im Hause zu haben? Es ließ sich unmöglich sagen.

So etwa wie ein Hund, der von der Familie zu Hause gelassen wird, wenn sie auf Ferien geht, sich sofort dem anschließt, der sich mit ihm befaßt, so kam sie mit rührender Behendigkeit zu ihnen gelaufen.

Und sie machte keine Mühe, denn sie war zu sehr daran gewöhnt, sich allein zu amüsieren, und es war stets interessant zu beobachten, wie sie sich immer wieder aus einem Kind in eine Gesellschaftsdame verwandelte. Ein neues Gefühl: so ein junges Geschöpf im Hause. Sowohl er wie Sylvia hatten sich Kinder gewünscht, ohne Glück zu haben. Zweimal war eine Krankheit dazwischengekommen. War es vielleicht nur jener kleine Mangel an ihr, jener Mangel an Feuer, der ihre Mutterschaft verhindert hatte? Als einziges Kind hatte sie weder Nichten noch Neffen; Cicelys Jungen waren immer in der Schule gewesen und waren jetzt draußen in der Welt. Ja, ein neues Gefühl, eines, in dem Lennans Ruhelosigkeit sich zu verlieren, ganz unterzugehen schien.

In den Stunden, da Nell nicht Modell saß, sah er absichtlich nur wenig von ihr, sondern ließ sie sich unter Sylvias Flügel schmiegen; und das tat sie auch mit solchem Behagen, als ob sie nimmer hervorzukommen wünschte. So erhielt er sich die Freude an ihrer seltsamen Innigkeit und noch seltsameren Ruhe, das ästhetische Vergnügen, sie zu beobachten, deren sonderbarer, halb hypnotischer, halb hypnotisierter Blick etwas Träumerisches, rührend Liebes hatte, als wenn sie übervoll von Zärtlichkeit wäre, für die sie kein Betätigungsfeld finden konnte.

Jeden Morgen, nachdem sie ihm gesessen hatte, pflegte sie noch eine weitere Stunde im Atelier über ihre eigene Zeichnung gebeugt zu verbringen, die so gut wie keine Fortschritte machte; und oft ertappte er sie, wie sie mit ihren großen Augen seinen Bewegungen folgte, während die Schäferhunde vollkommen ruhig zu ihren Füßen lagen und nur entsetzlich mit den Augen zwinkerten – so groß war ihre Anziehungskraft. Auch seine Vögel, eine Dohle und eine Eule, die frei im Atelier umherhüpften, duldeten sie, obwohl sie doch sonst nichts anderes Weibliches duldeten, die Haushälterin ausgenommen. Die Dohle pflegte sich auf ihre Schulter zu setzen und an ihrem Kleid zu picken; doch die Eule focht mit ihr nur Zweikämpfe mit magnetischen Blicken aus, in denen aber keine von beiden je siegte.

Jetzt, da sie bei ihnen war, rannte ihnen Oliver Dromore förmlich das Haus ein; er kam zu jeder Tageszeit mit sehr durchsichtigen Entschuldigungen. Sie behandelte ihn mit außerordentlicher Launenhaftigkeit, manchmal sprach sie kaum ein Wort, manchmal benahm sie sich wieder wie eine Schwester; und trotz all seiner Nonchalance saß der arme Junge dann mit finstern Blicken da oder betrachtete sie voll Bewunderung, je nach ihrer Laune.

An einen dieser Juliabende erinnerte sich Lennan besser als an alle übrigen. Nach schwerer Tagesarbeit war er aus seinem Atelier in den Gartenhof getreten, um eine Zigarette zu rauchen und sich von der Sonne bescheinen zu lassen, ehe sie hinter der Mauer versank. In der Ferne mahlte ein Leierkasten einen Walzer aus sich heraus; er ließ sich auf einen Hortensienkübel unter dem Salonfenster nieder, um zu lauschen. Nichts war zu sehen als der kleine viereckige Fleck des ganz blauen Himmels und eine Federwolke von Rauch aus dem Küchenschornstein; nichts war zu hören als diese Melodie und das unaufhörliche gedämpfte Summen der Straße. Zweimal flogen Vögel vorbei – Stare. Es war so friedlich, und seine Gedanken schwebten empor wie der Rauch seiner Zigarette, um wer weiß welche andern Gedanken zu treffen, denn Gedanken hatten zweifellos ihr eigenes kleines, rasches Leben, hatten Wünsche, fanden Gefährten und, sich leicht vermischend, schufen sie neue. Warum auch nicht? Alles war möglich in diesem Wunderland der Welt. Sogar diese Walzermelodie, die davonschwebte, würde ein ander Lied zum Genossen finden, sich mit ihm vereinigen und eine neue Harmonie hervorbringen, die ihrerseits im Dahinschweben das Summen einer Fliege oder Mücke auffangen und wieder Neues zeugen mochte. Sonderbar, wie alles sich mit etwas anderem zu vereinen suchte! Von allen Dingen in diesem verborgenen Garten, von Steinfliesen, Kies und Pflanzen in Kübeln, fiel ihm auf einer Rosablüte der Hortensie eine Biene auf. Das kleine, haarige, einsame Tierchen klammerte sich schlaftrunken daran fest, als hätte es vergessen, wozu es gekommen war – vielleicht von der Arbeit fortgelockt wie er selbst durch die letzten Strahlen der Sonne. Seine Flügel, die ganz eingezogen waren, leuchteten; seine Augen schienen geschlossen. Und der Leierkasten spielte noch immer, spielte eine Melodie der Sehnsucht, des Harrens, der Sehnsucht …

Dann hörte er durch das Fenster über sich Oliver Dromore, dessen hohe, etwas gedehnte Stimme man gleich erkennen konnte, wie sie anfangs ganz sanft zu bitten schien, dann immer dringender und zuletzt gebieterisch wurde; und auf einmal Nells Stimme:

»Ich will nicht, Oliver! Ich will nicht! Ich will nicht!«

Er stand auf, um sich außer Hörweite zu begeben. Dann fiel eine Tür zu, und er erblickte sie am Fenster über sich, ihre Taille in der Höhe seines Kopfes, hochrot, die grauen Augen drohend hell, ihre vollen Lippen etwas geöffnet. Und er sagte:

»Was gibt's denn, Nell?«

Sie beugte sich herab und ergriff seine Hand; wie glühend heiß ihre Berührung war!

»Er hat mich geküßt! Ich will's nicht haben – ich will ihn nicht küssen.«

Allerlei Redensarten gingen ihm durch den Kopf, mit denen man Kinder tröstet, die sich weh getan haben, doch er fühlte sich nicht sicher, nicht ganz er selbst. Und plötzlich kniete sie nieder und legte ihre heiße Stirn gegen seine Lippen.

Es war, als wäre sie wirklich ein kleines Kind gewesen, das die wehe Stelle geküßt haben will, damit sie heile.


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