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Vierzehntes Kapitel

Ihr Brief entfachte eine Flamme in Lennan, wie noch nichts vorher sie entfacht hatte. Irdisch! War es irdisch, so zu lieben, wie er es tat? Wenn dem so war, dann wollte er um alles in der Welt nicht anders als irdisch sein. In dem Schreck, den ihm der Brief verursachte, überschritt er sozusagen den Rubikon und verbrannte seine Boote hinter sich. Die ritterliche Ergebenheit, dies bleiche Gespenst, suchte ihn nicht mehr heim. Er wußte jetzt, daß er nicht auf halbem Wege stehenbleiben könne. Da sie ihn darum bat, durfte er sie natürlich im Augenblick nicht aufsuchen. Aber wenn er sie späterhin traf, wollte er bis zum äußersten kämpfen; der Gedanke, daß sie ihm vielleicht entschlüpfen wollte, war einfach unerträglich. Aber das konnte sie doch nicht wollen! So grausam würde sie niemals sein! Ach, sie würde – sie mußte am Ende zu ihm kommen! Und ihre Liebe wäre mit allem in der Welt, selbst mit dem Leben nicht zu teuer erkauft!

Nach diesem Entschluß war er sogar wieder fähig zu arbeiten, und so modellierte er den ganzen Dienstag an einer größeren Version der phantastischen, stierähnlichen Gestalt, die er auf dem Hügel von Beaulieu angefangen hatte, nachdem der Oberst ihn verlassen. Er arbeitete mit geradezu boshafter Freude daran. Aus diesem Geschöpf sollte der Geist des Besitzes sprechen, der sie von ihm trennte. Und während seine Finger den Ton formten, war es ihm, als hielt er Cramiers Hals umklammert. Und doch spürte er jetzt, nachdem er entschlossen war, sie ihm, wenn irgend möglich, zu entreißen, nicht mehr ganz denselben Haß. Schließlich liebte sie dieser Mann doch auch, konnte es nicht ändern, daß sie ihn verabscheute, konnte es nicht ändern, daß er das Verfügungsrecht über ihren Leib und ihre Seele besaß!

Der Juni hatte mit einem Himmel angefangen, der so blau war, daß nicht einmal die Londoner Hitze und der Staub ihn trüben konnten. Auf jedem Platz, in jedem Park und Fleckchen Grün flimmerte und summte die Luft von Leben und der Musik der Vögel, die auf kleinen Ästen schaukelten. Der Leiermann auf der Straße vergaß sein Heimweh nach dem Süden; Liebespaare saßen schon im Schatten der Bäume.

In seinen vier Wänden zu bleiben, wenn er nicht arbeitete, empfand er als die reinste Folter; denn er konnte nicht lesen und hatte alles Interesse an den kleinen Vorfällen, Vergnügen und Beschäftigungen verloren, die das Leben des normalen Menschen ausfüllen. Alle Teilnahme an den Dingen der Außenwelt schien geschwunden, wie abgestorben, und nur die geistige Verfassung, sein Seelenzustand war ihm geblieben.

Während er wach lag, dachte er an die Vergangenheit, und sie bedeutete ihm nichts mehr – die Glut der Leidenschaft hatte sie ganz aus seiner Seele getilgt. In der Tat war dies Gefühl, von allem losgelöst zu sein, so stark in ihm, daß er nicht einmal an die Erlebnisse mehr glauben konnte, die sein Gedächtnis festgehalten. Nichts – nichts war geblieben, nur verzehrende Sehnsucht durchglühte ihn.

Draußen zu sein, besonders unter den Bäumen, war die einzige Erquickung.

Und lange Zeit saß er an jenem Abend unter einer großen Linde auf einer niederen Anhöhe über dem Serpentine-Teich. Nur ein leises Lüftchen wehte, gerade genug, um das Raunen und Flüstern um ihn her nicht ersterben zu lassen. Wie – wenn Männer und Frauen, nachdem sie ihr stürmisches Dasein gelebt, zu Bäumen wurden? Wie – wenn jemand, der einst geschmachtet und gelitten, jetzt diesen Blätterfrieden über ihn breitete – diesen dunkelblauen Schatten, der sich von den Sternen abhob? Oder waren vielleicht die Sterne die Seelen der Männer und Frauen, die auf immer der Liebe und Sehnsucht entflohen? Er brach einen Zweig von der Linde und fuhr sich damit übers Gesicht. Er trug noch keine Blüten, duftete aber frisch und wie nach Limonen sogar hier in London. Wenn er nur einen Augenblick sein Herz vergessen und mit den Bäumen und Sternen rasten könnte!

Am nächsten Morgen kam kein Brief von ihr, und bald verlor er die Energie zur Arbeit. Es war Derby-Tag. Er beschloß hinzufahren. Vielleicht war sie dort. Und selbst wenn nicht, würden ihn vielleicht die vielen Menschen und die Pferde ein wenig zerstreuen. Er hatte sie am Sattelplatz bemerkt, lang eh des Obersten scharfe Augen ihn entdeckten, und indem er ihr im Gedränge folgte, gelang es ihm, auf dem vollgepfropften Zugangsweg ihre Hand zu berühren und zu flüstern: »Morgen in der Nationalgalerie, um vier Uhr, beim Bacchus-Ariadne-Gemälde. Um Gottes willen, komm!« Ihre behandschuhte Hand drückte fest die seine, und fort war sie. Er blieb im Sattelraum, fast zu glücklich, um zu atmen …

Als er am nächsten Tag wartend vor dem Bild stand, blickte er es voll Staunen an. Denn seine eigene Leidenschaft schien aus dem sich verdunkelnden, sterngekrönten Himmel und den Augen des vom Wagen springenden Gottes zu sprechen. Stürzte er im Geist nicht immer so zu ihr? Minuten verstrichen, und sie kam nicht. Was würde er anfangen, wenn sie ausblieb? Gewiß vor Enttäuschung und Verzweiflung sterben … Bis jetzt hatte er freilich kaum erfahren, wie zäh das Menschenherz ist; wie das Leben es verwundet und erdrückt, und es dennoch weiterschlägt … Da sah er sie aus einer unerwarteten Richtung kommen.

Schweigend schritten sie nach den ruhigen Sälen hinunter, wo die Aquarelle von Turner hingen. Niemand außer zwei Franzosen und einem alten Aufseher beobachtete sie, wie sie langsam an den kleinen Bildern vorbeigingen, bis sie an die rückwärtige Wand kamen und er, von niemand gesehen und nur von ihr gehört, beginnen konnte.

Alle Argumente, die er so sorgfältig einstudiert hatte, waren vergessen, nur unzusammenhängende Bitten brachte er hervor. Das Leben ohne sie wäre kein Leben; und sie hätten nur dieses Leben, um zu lieben – nur einen Sommer. Alles wäre finster, wo sie nicht sei – die Sonne selbst wäre finster. Lieber sterben als so ein falsches, verfehltes Leben weiterführen, so voneinander getrennt. Lieber sofort sterben, als unaufhörlich in heißem Sehnen einander zu verlangen und des andern Qual mitansehen zu müssen. Und wozu das alles? Daß dieser Mann sie anrühre, wo er doch empfand, daß sie ihn nur haßte, triebe ihn zum Wahnsinn, brächte ihn fast um. Es schände jeden Mann; es könnte nicht recht sein, sich in so etwas zu fügen. Ein Schwur, den man seelisch nicht mehr hielte, wäre ein bloßer Aberglaube, und es wäre sündhaft, deshalb sein Leben zu opfern. Die Gesellschaft – das wüßte sie, das müßte sie wissen – kümmere sich nur um die Formen, die Äußerlichkeiten der Dinge. Und was läge auch daran, was die Gesellschaft dächte? Sie hätte keine Seele, kein Gefühl, gar nichts. Und wenn man verlangte, sie sollten sich anderer wegen opfern, um die Welt glücklicher zu machen, so müßte sie doch wissen, daß das nur dann richtig sei, wenn die Liebe leichtfertig und selbstisch wäre; aber nicht, wenn man sich liebte so wie sie, von ganzem Herzen und von ganzer Seele, so daß sie jede Minute bereit wären, füreinander zu sterben, so daß für eins allein alles seinen Wert verlieren müßte. Keinem einzigen könnte es etwas nützen, wenn sie ihre Liebe und ihr ganzes Lebensglück so hinmordeten; wenn sie – sozusagen längst gestorben – noch immer weiterleben würden. Selbst wenn es unrecht wäre, würde er lieber unrecht tun und die Folgen tragen. Aber es könnte ja nicht unrecht sein, wie sie so liebten!

Und die ganze Zeit, während er sie so mit flehentlichen Bitten bestürmte, durchforschten seine Augen in einem fort ihr Antlitz. Aus ihr aber war nichts weiter als: »Ich weiß nicht – ich kann's nicht sagen – wenn ich nur wüßte!« herauszubringen. Dann schwieg er, bis ins Innerste getroffen; bis es nach einem Blick oder einer Berührung von ihr wieder aus ihm herausbrach: »Du hast mich doch lieb, hast mich doch wahrhaft lieb – was liegt dann nur an allem andern?«

Und so begann er immer wieder von neuem an jenem Sommernachmittag in dem leeren, für so ganz andere Zwecke bestimmten Saal, wo die beiden Franzosen zu verständnisvoll waren und der alte Aufseher zu schläfrig, um sie zu stören. Schließlich blieb ihm nur noch die eine Frage, die er fortwährend ungestüm wiederholte:

»Wovor – wovor fürchtest du dich eigentlich?«

Aber darauf erhielt er nur immer wieder die traurige Antwort, die in ihrer schicksalsschweren Eintönigkeit lähmend wirkte:

»Ich weiß nicht – ich kann's nicht sagen!«

Es war entsetzlich, gegen diesen dunklen, schattenhaften, unerklärlichen Widerstand weiter ankämpfen zu müssen, gegen diese unwirklichen Zweifel und Befürchtungen, die gerade durch das Unausgesprochene auch für ihn wirklich wurden. Wenn sie ihm nur sagen könnte, was sie denn fürchtete! Es konnte nicht die Armut sein, das sah ihr nicht ähnlich, überdies hatte er für beide genug. Es konnte nicht der Verlust einer sozialen Stellung sein, die sie nur als Last empfand. Es war doch sicher nicht die Furcht, daß seine Liebe nicht von Dauer wäre. Was war es also? Um Himmels willen, was war es?

Morgen, hatte sie ihm gesagt, sollte sie allein zu ihrem Landhaus fahren: wollte sie statt dessen nicht gleich jetzt, diesen Augenblick zu ihm? Sie wollten fort, noch heute nacht, zurück nach dem Süden, wo ihre Liebe erblüht war! Doch wieder hieß es: »Ich kann nicht! Ich weiß nicht – ich muß Zeit haben!« Und dennoch glänzte in ihren Augen jenes versonnene Liebeslicht. Wie konnte sie sich nur so zurückhalten und schwanken? Doch nunmehr ganz erschöpft, bat er nicht wieder, widersprach nicht einmal, als sie sagte: »Du mußt jetzt fort und mich nach Hause gehn lassen! Ich werde dir schreiben. Vielleicht – werd ich's bald wissen.« Er bat, sie ein einziges Mal küssen zu dürfen, was sie zuließ; dann ging er, an dem alten Aufseher vorbei, rasch die Treppen empor und hinaus.


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