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Wenn die Vorsehung bei ihren stets weisen, aber dem schwachen Menschengeiste unfaßbaren Rathschlüssen es für nothwendig erkannte, Madame Recamier in nicht weit abliegenden Zeitabschnitten zweimal aufs Schwerste zu treffen, so hatte sie, die in der Linken das Schwert trägt und in der Rechten den Balsam, so hatte sie auch für die Stütze gesorgt, die der zu Beugenden die Last sollte tragen helfen. Der zweite wahrhafte Freund der Madame Recamier nämlich, der körperlich unschöne, aber geistig dafür desto schönere Ballanche, durfte, ohne gegen eine Pflicht zu verstoßen, nach Paris übersiedeln und in der Nähe Derjenigen athmen, die ihm an Beglückungen der Freundschaft ersetzen sollte, was ihm die Liebe an Entzückungen versagt hatte. Ballanche wurde, so lange sein Vater lebte, in Lyon durch die Pietät des Sohnes zurückgehalten; auch unterstützte er seinen altgewordenen Erzeuger in der Leitung seiner großen Buchdruckerei. Freilich war das Zusammensein mit dem gehorsamen und zartfühlenden Sohne wol der hauptsächlichste Vortheil für den alten Herrn Ballanche; die Unterstützung im Geschäfte blieb wol mehr bei'm guten Willen. Ballanche, eine durchaus ideal angelegte Natur, wußte sich in den Realitäten des Lebens nur schwer zurechtzufinden. Da er nun durch die Pflicht in Lyon zurückgehalten ward, und sein Herz ihn doch allgewaltig zu Madame Recamier hinzog, so kam er während des Sommers von 1815 auf einige Wochen nach Paris. Madame Recamier stellte ihn dem glänzenden Kreise vor, der sich in ihrem Salon versammelte. Man sah zuerst etwas verwundert auf den unschönen und ungewandten Mann, der inmitten der reizendsten Frauen und elegantesten Herren weilen zu dürfen gar kein Recht zu haben schien. Denn Ballanche war damals nur einer kleinen Gemeinde bekannt und hatte als Schriftsteller keinen in Frankreich weitverbreiteten Namen. Wäre dies der Fall gewesen, so hätte man ihn in dem Salon der Madame Recamier von allen Seiten mit Aufmerksamkeiten und Huldigungen umringt. Waren doch im achtzehnten Jahrhunderte Hume und Voltaire, von denen der eine höchst gewöhnlich und der andere garstig, wie ein Affe, aussah, von den huldigenden französischen Damen fast zu Tode gedrückt worden. Das Greisenalter Voltaire's erlag denn auch diesen unaufhörlichen Zärtlichkeiten, während der noch kräftige Schotte den weiblichen Andrang besser bestand und sich gesunden Leibes über den Canal rettete. Wenn Ballanche demnach trotz seiner wenig vortheilhaften Erscheinung, die durch seinen Schriftstellerruhm noch nicht gehoben ward, in dem Salon der Madame Recamier mit größter Zuvorkommenheit – die Höflichkeit verstand sich bei dem dort herrschenden feinen Tone von selbst – behandelt und sein nicht elegantes Auftreten freundlich entschuldigt wurde – wo sich ringsum Schwäne mit höchster Anmuth bewegen, haben sie einigermaßen das Recht, an jedem Eckigen und Schwerfälligen Anstoß zu nehmen – so verdankte er dies dem auszeichnenden und herzlichen Verhalten seiner schönen und gütigen Freundin. Wen Madame Recamier mit ihrer Huld beglückte, der ward auf dem von ihr beherrschten Gebiete – und dies war die beste Gesellschaft von Paris – mit größter Artigkeit und Aufmerksamkeit behandelt. War man doch sicher, daß Madame Recamier an keinen Unwürdigen ihre Huld verschwendete.
Das Zusammensein mit der, von ihm ebenso verehrten, wie geliebten, Frau hatte Ballanche aufs Neue erhoben, ja, begeistert. Er fühlte, daß ihm nur in ihrer Nähe das Glück des. Lebens erblühen könne. Da nun sein Vater sich nicht abgeneigt zeigte, seine Buchdruckerei zu verkaufen und mit seinem Sohne nach Paris zu ziehen, so betrieb er, wiederum in Lyon angelangt, die Sache aufs Eifrigste. Der Buchdrucker, der dem alten Herrn Ballanche sein Geschäft abkaufen wollte, hieß Rusand und bot in Bezug auf die nothwendige Anzahlung die vollkommenste Sicherheit. Als der Sohn Ballanche wieder in seiner Vaterstadt angelangt war, schrieb er an Madame Recamier folgenden Brief:
»Lyon, den 30. September 1815.
Sie hatten die Güte, über meine Geschäftsangelegenheiten nähere Auskunft zu begehren. Alles ist zwischen Herrn Rusand und uns glücklich zum Abschluß gelangt. Er sah sich noch zu einer Reise nach Paris genöthigt; während der Zeit seiner Abwesenheit müssen wir noch dem Geschäfte obliegen.«
Ballanche berichtet dann weiter, wie sein Vater und seine Schwester, sobald alles Geschäftliche geordnet sei, durchaus bereit wären, ihm nach Paris zu folgen. Bei seinem Zartsinn verhehlt er sich nicht, welches Opfer sie ihm bringen, von dem ihnen so lieben Lyon zu scheiden. Er bemerkt in Betreff dieses Punktes:
»Ich gestehe indeß, daß ich nicht ohne Unruhe einer solchen gänzlichen Veränderung ihrer Lebensgewohnheiten entgegensehe.«
Daß Ballanche einzig und allein, um seiner Freundin nahe zu sein, nach Paris zog, sagt er in folgenden Worten:
»Unter den Gründen, die Sie die Güte hatten für meine Uebersiedelung nach Paris als entscheidend zu bezeichnen, kann ich die Rücksichten für das, was Sie mein Talent nennen, durchaus nicht gelten lassen. In dieser Beziehung bestehen für mich nicht dieselben Beweggründe, wie für Camille Jordan. Ich bin kein politischer Schriftsteller. Ebenso wenig bin ich ein Gelehrter oder Sittenmaler. Mein Talent, wie es beschaffen ist, bedarf durchaus nicht des Aufenthaltes in der Hauptstadt. Es besteht einzig in meinen Gefühlen und Empfindungen. Paris ist weder meinem Talente, noch mir selber, von irgend einer Nothwendigkeit. Sie sind es, und nicht Paris, dessen ich bedarf.«
War nun die Sehnsucht des guten Ballanche nach Madame Recamier auch unendlich groß, so vermochte sie doch nicht, ihn die Pflichten der Dankbarkeit gegen seinen Vater vergessen zu lassen. Als der Zeitpunkt herannahte, wo der alte Herr Ballanche Lyon verlassen sollte, ward er mißmuthig, und der liebevolle Sohn erklärte sofort, sie wollten die Uebersiedelung nach Paris noch etwas verschieben. Der Schmerz, noch länger von seiner Freundin getrennt zu leben, nagte an seiner Gesundheit; aber sein stillgefaßtes Aeußere verrieth dem forschenden Blicke seines Vaters nicht die Qual seines Innern. Auch der Madame Recamier gegenüber versucht Ballanche seine Betrübniß zu verhehlen. Er selbst trägt willig den Schmerz, dies vieltausendjährige Erbtheil der Menschheit; aber alles, was er liebt, möchte er vor der Einkehr dieses finstern Gastes bewahren. In einem Briefe, den Ballanche am 22. Januar 1816 seiner Freundin schrieb, äußert er folgende Gedanken:
»Ich danke Ihnen für die zärtliche Theilnahme, die Sie mir gütigst bewahren. Sie befragen mich über die Art, wie jetzt mein Dasein verfließt. Ich lebe gedankenlos weiter und lasse die Ankunft für sich selber sorgen. Es geschieht nicht aus Gleichgültigkeit gegen mich und mein Schicksal, sondern, weil ich gegen die Nothwendigkeit ohnmächtig bin. Die Gesundheit meiner Schwester hat sich allmälig gebessert; aber sie befindet sich in einem Zustande von Traurigkeit und Erregbarkeit, der mich äußerst beunruhigt. Ich habe allen Grund zu fürchten, diese andauernde Traurigkeit und dieser Ueberdruß an der Welt möchten meine arme Schwester zuletzt noch in's Kloster führen. Zieht meine Schwester sich in ein Kloster zurück, so habe ich ihren Platz bei meinem Vater auszufüllen, der schon sein neunundsechszigstes Lebensjahr vollendete. Wie Sie also sehen, hänge ich nicht mehr von mir ab; ich darf über keinen Plänen mehr brüten, da die Zukunft nicht mir gehört.
Ich betheure es Ihnen in der vollen Aufrichtigkeit meiner Seele, es bleibt mir nur noch ein einziges sehr lebhaftes Gefühl, und dies ist die Ihnen geweihte Freundschaft. Es verlangt mich, so oft wie möglich von Ihnen zu hören, daß dies Gefühl nicht noch später mein Unglück sein wird. Ich gestehe, daß jedesmal, wenn ich hieran denke, mich eine Art von Schauer und Schrecken überfällt, worüber ich nicht ganz Herr zu werden vermag. Zuweilen fliegt mir der vernichtende Gedanke durch das Hirn, Sie könnten glauben, Anhänglichkeit an mich zu besitzen, aber in Wahrheit wäre dies nicht der Fall. Dieser Gedanke ist Todespein und läßt die übrigen Qualen, die ich zu dulden habe, als klein erscheinen. Sie sind so gut und haben ein solches Wohlwollen für alles, was leidet, daß ich leicht unter jenen armen Geschöpfen meinen Platz fand, zu denen Sie in Ihrer Huld hinuntersteigen. Aus Mitleid und Herablassung nehmen Sie Antheil an mir; hernach täuschen Sie sich selbst über die Beschaffenheit Ihrer Gefühle, wie dies edlen Herzen so leicht begegnet. Verzeihung! Ich bitte tausendmal um Verzeihung. Doch Sie forderten mein Vertrauen. Und selbst wäre dies nicht der Fall, so hätte ich doch sagen müssen, was ich sagte, um wahr zu sein bis zuletzt. Als ich diesen Brief begann, hatte ich keineswegs die Absicht, Ihnen so ausführlich zu schreiben.
Das Leben ist voller Bitterkeiten; zum Glück eilt der Zeitenstrom dahin, und die Schmerzen wallen mit ihm hinunter.
Theilen Sie mir Ihre Pläne für die Zukunft mit, daß ich wenigstens in Gedanken mich ihnen beigeselle. Die Gelegenheit, einen kleinen Abstecher nach Paris zu machen, dürfte sich schon finden; ich sehe Sie dann wenigstens im Fluge, kann ich auch nicht, wie ich es wünsche, traulich mit Ihnen verkehren. Nur diese Hoffnung hält mich aufrecht; ich wüßte nicht, was aus mir würde, wenn auch sie sich treulos erwiese.«
Ein wichtiges Hinderniß, weshalb Ballanche an die Uebersiedelung nach Paris für's Erste nicht denken durfte, ward durch das Schicksal aus dem Wege geräumt. Freilich konnte dies nicht anders geschehen, als daß seinem Herzen eine tiefe Wunde geschlagen ward. Herr Ballanche, der Vater, starb nämlich am 20. October 1816. Als der Sohn den mannigfachen Pflichten, die diese plötzliche Abberufung des Familienhauptes ihm auferlegte, genügt hatte, schrieb er an Madame Recamier einen längern Brief, dem wir folgende Stellen entnehmen:
»Den 31. October 1816.
Vor zwölf Tagen trug sich dies grausame Ereigniß zu. Sicher war der Schlag furchtbar, aber der Muth hat mich nicht verlassen. Die Pflicht, die mir oblag, die Wirkungen, die der Schmerz auf meine Schwester haben konnte, abzuschwächen, hatte zur Folge, daß ich meinen eigenen Schmerz weniger fühlte. Es lag wie ein schwerer Traum auf mir, und ich beginne erst allmälig wieder klare Vorstellungen zu fassen. Unsere Freunde benahmen sich vortrefflich. Mein Vater war geliebt und verehrt; man hat dies jetzt schön an ihm bewiesen, oder vielmehr seinen Kindern hat man es bewiesen. Der so bescheidene und von jedem Ehrgeize freie Mann hatte einen Sarg, den man mit Zeichen thränender Zuneigung überschüttete. Er hatte gelebt, wie ein Ehrenmann; er ist gestorben, wie ein Gerechter. Bis zum letzten Augenblicke blieb er bei Besinnung; so haben sich für ihn die Pforten der Ewigkeit in demselben Augenblicke erschlossen, wo das Diesseits für ihn hinabsank. Mit Gebeten für seine Kinder, die er in dieser Welt zurückließ, schied er von hinnen. Auch dort wird seine heilige Liebe für uns nicht aufhören. Sein Tod war nicht schmerzlich; seine Seele löste sich ganz friedlich von ihrem irdischen Gefährten.
Ich wollte diese traurige Nachricht nicht unvermittelt zu Ihnen gelangen lasten. Dugas-Montbel ward von mir beauftragt, Ihnen diese Meldung mündlich zu machen. Die Theilnahme, die Sie mir so gütig schenken, ließ mich fürchten, Sie möchten zu schmerzlich getroffen werden.«
Doch auch nach dem Tode seines Vaters ward Ballanche noch in Lyon zurückgehalten. Seine brüderliche Liebe gestattete ihm natürlich nicht, seine Schwester in ihrer tiefen Betrübniß allein zu lassen. So blieb er noch ungefähr, drei Vierteljahre nach dem Tode seines Vaters in Lyon. Als er seine Schwester allmälig wieder etwas Fassung erlangen sah und aufs Aufmerksamste dafür gesorgt hatte, daß sie bequem und behaglich leben konnte, begab er sich im Sommer des Jahres 1817 nach Paris, um sich in Zukunft Derjenigen zu weihen, die ihm das Ideal der Weiblichkeit verwirklichte.