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Gegen Ende des Januars 1813 langte Mathieu von Montmorency in Lyon an, wohin er sich gern früher begeben hätte; doch die Bewegungen eines Verbannten waren ja den größten Beschränkungen unterworfen. Da er Madame Recamier in sehr niedergeschlagener Stimmung antraf, so rieth er ihr dringend, nach Italien zu reisen, wo schöne Natur und Kunst sie ihrem Trübsinn entreißen würden. Es war nicht schwer, sie zu einem Schritte zu überreden, der durch eigene Neigung ihr längst war angerathen worden. Mathieu von Montmorency begleitete sie bis Chambery. Hatte ihr neuerworbener Freund Ballanche, dem der Abschied von ihr sehr schwer fiel, wegen zu berücksichtigender Familienverhältnisse sich nicht gleich ebenfalls nach Italien begeben dürfen, so war es ihm doch vergönnt gewesen, für eine passende Reisebibliothek Sorge zu tragen. Unter den von ihm ausgesuchten Büchern befanden sich die eben erschienene Geschichte der Kreuzzüge von Michaud und Chateaubriands Geist des Christenthums. Die Mehrzahl der Bücher in der Reisebibliothek der Madame Recamier waren italienische. Ballanche hatte ganz recht gehabt, von seiner, in all' ihrem Thun so gewissenhaften, Freundin vorauszusetzen, daß sie der Literatur des Volkes, an dessen Penaten sie für längere Zeit sich niederzulassen gedachte, eine mehr als oberflächliche Beachtung zu schenken gewillt sei. So gelangte Madame Recamier, in Begleitung ihrer Adoptivtochter und einer Kammerfrau, glücklich bis Turin, indem sie auf der bis dahin zurückgelegten Wegesstrecke bei schöner Gegend sich ganz der Natur gewidmet, während sie bei mehr eintöniger Landschaft sich in ihre Bibliothek versenkt und an irgend einem Dichter oder Geschichtschreiber erquickt hatte. Sie nahm in Turin ihr Absteigequartier bei einem guten Bekannten, dem Herrn Pasquier, der einen höhern Posten im Steuerfache bekleidete. Madame Recamier ward sowol von Herr Pasquier, wie von dessen Familie, mit großer Herzlichkeit ausgenommen, und während ihres Verweilens bei ihnen wurden ihr Aufmerksamkeiten aller Art erwiesen.
Herr Pasquier, durch einen längern Aufenthalt in Italien mit den dortigen Verhältnissen wohl vertraut, fand es bedenklich, daß seine schöne Landsmännin nur in Begleitung eines Kindes und eines weiblichen Dienstboten ihre Reise nach Rom fortsetzen sollte. Er hielt es für unerläßlich, daß ein Mann von gereiften Jahren und zuverlässigem Charakter ihr während der noch zurückzulegenden Fahrt schützend zur Seite stehe. Zum Glück konnte er bald die Hand auf ein sehr würdiges Subject legen, das sich zum Reisebegleiter für Madame Recamier vortrefflich eignete. Es war ein Deutscher, dem Lehrfache angehörig, der so eben aus einem vornehmen italienischen Hause schied, wo unter seiner Leitung das künftige Haupt der Familie seine Erziehung so weit vollendet hatte, um auf die Universität gehen zu können. Der Deutsche war von gediegenen Kenntnissen, von großer Bescheidenheit im Allgemeinen und von höchster Zartheit gegen die Damen im Besondern. Da er nun ganz frei über sich verfügen konnte und die Absicht hatte, erst Rom und später Neapel zu besuchen, bevor er in sein Vaterland zurückkehrte, so ließ sich kein Begleiter auffinden, der für Madame Recamier besser gepaßt hätte. Seine Kenntnisse und seine Zuverlässigkeit machten ihn zu einem trefflichen Cicerone, während seine Blödigkeit, vielleicht auch eine gewisse Schwerfälligkeit seiner Natur, ihn verhinderten, die Stellung eines Cicisbeo zu erstreben.
Der Name dieses wackern Deutschen lautete für die Lippen der Madame Recamier zum Glück nicht unaussprechbar, nämlich Marschall. Er war nun in der That ein Reisemarschall, wie ihn die Fürstin der Schönheit sich nicht besser wünschen konnte. Da Madame Recamier von fast ebenso regelmäßigen Lebensgewohnheiten war, wie Herr Marschall, so erlitt der einmal festgesetzte Reiseplan fast nie eine Abänderung. Um 6½ Uhr Morgens setzte man sich regelmäßig in Bewegung, hielt gegen elf Uhr an, um zu frühstücken und die Pferde füttern zu lassen; dann ruhte man während des heißen Mittags bis drei Uhr, wo man aufbrach, um gegen acht Uhr Abends in einem Wirthshause das Nachtlager zu suchen. Der überaus rücksichtsvolle Herr Marschall saß meist auf dem Bock, um Madame Recamier nicht im Geringsten zu behelligen, während der italienische Kutscher gewöhnlich neben den Pferden herlief und bemüht war, sie durch die beleidigendsten Redensarten, denen er die wirksameren Peitschenhiebe hinzugesellte, zur größern Eile anzutreiben. Madame Recamier, die das zurückhaltende Wesen des Deutschen sehr zu schätzen wußte, sich aber von ihm an Zartheit und Liebenswürdigkeit nicht übertreffen lassen wollte, gab ihm wiederholt Beweise ihres unbedingten Vertrauens. So stieg sie häufig am Abend, wenn die Sonne sich zum Untergange neigte und mit ihrer südlichen Gluth die wunderbarsten Farbenwirkungen hervorbrachte, so stieg sie zu Herrn Marschall auf den Bock, um von dort einen freien Umblick zu haben. Der Deutsche beantwortete ihre Fragen mit der größten Höflichkeit, verwickelte sie aber nie in ein längeres Gespräch, indem er, fast zu weit gehend in seiner Zurückhaltung, selbst ihren Lippen nicht zumuthen wollte, um seinetwillen sich öffnen und schließen zu müssen. So stockte oft die Unterhaltung, und der Geist der Madame Recamier hatte dann vollkommene Freiheit, sich bald mit diesem, bald mit jenem Gegenstände zu beschäftigen, jenachdem er in ihren Gedankenkreis hineintrat. Da zogen oft die trüben Ereignisse ihrer Vergangenheit an ihrem geistigen Auge vorüber: ihre Todesangst um den eingekerkerten Vater, das Dahinscheiden ihrer Mutter, ihre Verbannung, ihr Getrenntsein von theuren Freunden. Und dann erschauerte sie bang vor dem, was ihr noch in Zukunft bevorstehen könne. In solchen Augenblicken rannen Thränen langsam über ihre Wangen, und Seufzer entquollen ihrer Brust. Während einer derartigen Gemüthsverfassung war der würdige Deutsche in seiner Zurückhaltung am lobwürdigsten. Kein neugieriger Blick streifte das Antlitz seiner schönen Begleiterin, keine vorwitzige Frage wagte sich über seine Lippen. Erwachte über ihre Bequemlichkeiten, verschaffte ihr in den Wirthshäusern die besten Zimmer, vertheidigte sie. gegen oft beabsichtigte Uebertheurung; aber er selbst war nur da, wenn sie ihn brauchte. Sonst spürte sie kaum seine Gegenwart. So kamen die Reisenden durch Parma, Piacenza, Modena und Bologna. In Florenz verweilten Madame Recamier und Herr Marschall volle acht Tage, welchen längern Aufenthalt die vielen Sehenswürdigkeiten dieser Stadt, mochten die Franzosen ihr auch, wie dem übrigen Italien, das Schönste entführt haben, vollkommen verdienten. Sie langten in Rom während der stillen Woche an, die mit dem Osterfeste endigt. Madame Recamier trennte sich hier von ihrem wackern Reisebegleiter, ihm versichernd, daß sie ihm ewige Dankbarkeit bewahren werde. Sie hatte die Freude, Herrn Marschall in Paris 1814 wiederzusehen und ihm durch die liebenswürdigste Gastfreundschaft zu beweisen, daß sein zartes Benehmen während ihrer gemeinsamen Reise nach Rom in die Tafel ihrer Erinnerung mit unvergänglichen Buchstaben eingegraben sei.