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Der Aufenthalt der Madame Recamier in Châlons-sur-Marne

Wie das Schicksal, wenn es eine Wunde schlägt, meist den Balsam zur Hand hat, um dem Schmerze die Heilung folgen zu lassen, so blieb es auch der Madame Recamier erspart, allein in die Verbannung hinauszuwandern und von Niemandem begleitet zu werden, der ihrem Herzen theuer war. Denn die nächsten Verwandten, die ihr so gern gefolgt wären, wurden durch den Zwang der Umstände daran gehindert. Herr Recamier, dem es vor allem obgelegen hätte, mit seiner Gattin die Leiden der Verbannung zu theilen, ward in Paris durch sein Bankiergeschäft zurückgehalten. War er doch wieder in rüstigem Schaffen und Wirken. Nach dem Zusammensturze seines Hauses im Herbste 1806, wo er die drohende Katastrophe noch hätte beschwören können, wäre ihm die Regierung wegen der unabhängigen Haltung seiner Gattin nicht feindlich gesinnt und deshalb zur Hülfe unwillfährig gewesen, nach dem Zusammensturze seines Hauses hatte er, Dank der allgemeinen Achtung, die er sich zu erwerben gewußt, und Dank der Unterstützung seiner weitverbreiteten, wohlhabenden Familie, gegen die er sich in den Tagen seines Reichthums von verschwenderischer Großmuth gezeigt, nach jener Katastrophe im Jahre 1806 hatte er seine überallhin sich erstreckenden Verbindungen wieder aufgenommen, und sein Geschäft erfreute sich einer neuen Blüthe. Herr Recamier konnte demnach seine Gattin nicht in die Verbannung begleiten. Ihr Vater, Herr Bernard, konnte es ebenso wenig. Alter und Kränklichkeit machten es ihm unmöglich, auf den mit seiner Natur vertrauten Arzt und die ihm unentbehrlichen häuslichen Bequemlichkeiten Verzicht zu leisten. Auch durfte er seinen langjährigen Freund Simonard nicht verlassen, der, wie wir bereits berichteten, seit seiner Uebersiedelung nach Paris mit ihm unter einem Dache wohnte und an demselben Tische speiste. So hätte Madame Recamier wol allein in die Verbannung hinauswandern müssen, wenn jetzt nicht der Segen einer frühern Liebesthat, die wir nunmehr nachträglich erzählen müssen, ihr als Trost erblüht wäre.

Bei ihrer Rückkehr im vorigen Jahre aus den Bädern von Aix hatte Madame Recamier einige Tage in Cressin verweilt, um sich dort des Zusammenseins mit der Schwester ihres Mannes zu erfreuen. Hier hatte sich ihr Auge an dem reizenden Enkelkinde ihrer Schwägerin gelabt, und es war der Wunsch in ihr aufgestiegen, an dieser Groß-Nichte Mutterpflichten zu erfüllen und dieselbe nach Paris mitzunehmen. Die glänzenden Aussichten, die dadurch dem Kinde eröffnet wurden, hatten die Mutter desselben anfangs bestimmt, auf den Vorschlag der Madame Recamier einzugehen; doch, als der Augenblick kam, wo sie sich von ihrer kleinen Tochter trennen sollte, fühlte sie, wie das von ihr zu bringende Opfer ihre Kräfte überstieg. Madame Recamier ehrte die Gefühle der Mutter und erinnerte mit keinem Worte an ihr Recht, das sie durch die ihr früher ausgesprochene Einwilligung unzweifelhaft erlangt hatte. Sie reiste deshalb allein nach Paris, sprach aber nach ihrer Zurückkunft ihrem Gatten mit wahrhafter Begeisterung von seiner reizenden, kleinen Groß-Nichte. Als nun wenige Monate darauf der Vater des von der Madame Recamier ersehnten Adoptiv-Kindes unerwartet im neunundzwanzigsten Lebensjahre starb und kein bedeutendes Vermögen hinterließ, so änderten sich die Ansichten der bis dahin verweigernden Mutter. Sie glaubte, nachdem Herr Recamier das Anerbieten seiner Frau mit großer Herzlichkeit erneuert hatte, dem Glücke ihres Kindes sich opfern und die schmerzliche Trennung ertragen zu müssen. So ward denn das Kind im Augustmonate des Jahres 1811 nach Paris übergeführt, und seit diesem Augenblicke erfüllte Madame Recamier dem holden Wesen gegenüber die Mutterpflichten in zärtlichster und gewissenhaftester Weise. Diese kleine Groß-Nichte nahm sie nun mit sich in die Verbannung, und die ihr ertheilte Sorgfalt half ihr über die ersten bangen Monate in Châlons-sur-Marne glücklich hinüber. Sonst hätte sie wol, wäre ihr, wie Ovid, die Gabe der Dichtkunst zu Theil geworden, ihre Verlassenheit in Trauerliedern ausgeklagt. Denn man hat zu erwägen, daß für die glänzendste Frau von Paris eine kleine Stadt der Provinz fast ebenso schrecklich war, wie für Ovid das barbarische Tomi. Uebrigens hatte Madame Recamier doch an der Marne manche Tröstungen, die dem armen Ovid an der Donau durchaus fehlten. Châlons war nur zwölf Meilen von dem Schlosse Montmirail entfernt, wo liebe Bekannte von ihr wohnten. Montmirail gehörte nämlich dem Herzoge von La Rochefoucauld-Doudeauville, einem nahen Verwandten Mathieu's von Montmorency, indem sein Sohn Sosthènes sich mit dessen einziger Tochter verheirathet hatte. Die Besitzer des Schlosses Montmirail standen demnach zu der schönen Verbannten in nahen Beziehungen. Da der Herzog und die Herzogin von Doudeauville gern und häufig gesehene Gäste im Salon der Madame Recamier während ihres Winter-Aufenthaltes in Paris seit einer Reihe von Jahren waren und auch ihrerseits den Besuch der gefeierten Frau, soweit es deren zahlreiche Bekanntschaften erlaubten, von Zeit zu Zeit empfingen, so wäre nichts natürlicher gewesen, als daß sich zwischen Montmirail und Châlons ein sehr lebhafter Verkehr ausgebildet hätte, wären nicht die freien Bewegungen einer von Napoleon Verbannten allzu sehr gehemmt worden. Dieser häufige Verkehr hätte in freieren Verhältnissen durch die Ankunft Mathieu's von Montmorency noch einen erhöhten Reiz bekommen. Der Ehrenmann nämlich, der ja wegen seiner treuen Freundschaft zu Frau von Staël ebenfalls das Loos der Verbannung duldete, war um die Ermächtigung eingekommen, sich auf dem Schlosse Montmirail aufhalten zu dürfen, und die Genehmigung hierzu hatte die kaiserliche Regierung geglaubt nicht verweigern zu sollen. War man sowohl von Châlons, wie von Montmirail aus auch zu vorsichtig, um den Augen der kaiserlichen Polizei durch einen zu häufigen Verkehr Aergerniß zu geben – Madame Recamier und Mathieu von Montmorency hatten ja die Nichtberücksichtigung der napoleonischen Wünsche zu büßen und sollten deshalb in Sack und Asche trauern, nicht aber sich gegenseitig die Zeit verkürzen – beobachtete man demnach klüglich alle Rücksichten, wie sie eine von der Laune der Regierung abhängige Lage gebot, so konnte man sich doch nicht ganz und gar den gegenseitigen Anblick versagen. Sosthènes von La Rochefoucauld zeigte sich nämlich zu wiederholten Malen, um der Madame Recamier seine Verehrung zu bezeugen. Mathieu von Montmorency bezwang dagegen die heftige Sehnsucht, die gleich ihm verbannte Freundin zu sehen und zu trösten, mit jener Kraft des Gemüthes, die er aus den trüben Jahren, wo er um den Tod des unter der Guillotine gefallenen Bruders getrauert hatte, als Gewinn für sein künftiges Leben davontrug. Erst, nachdem er volle drei Monate in Montmirail geweilt hatte, erbat er von dem Präfecten die Erlaubniß, sich auf einige Tage nach Châlons begeben zu dürfen. Wenn man erwägt, daß der Präfect, Herr von Jessaint, sich durch Humanität und Herzensgüte auszeichnete, und Mathieu von Montmorency trotzdem erst nach langem Bedenken mit einer durchaus harmlosen Bitte sich hervorwagte, so beweist dieser Umstand, mit welchem bleiernen Gewichte die kaiserliche Despotie auf allen Gemüthern lastete.

Sah nun der verbannte Mathieu von Montmorency sehr gegen seinen Wunsch Madame Recamier nur selten, so bekam sie doch von ihren zahlreichen Freunden und Freundinnen, die sich freier bewegen durften, häufige Besuche. Kaum hatte sie in Châlons sich ein wenig eingerichtet, als die Marquise von Catellan erschien und mehrere Wochen bei ihr verweilte. Dieser Besuch war um so verdienstlicher, als die verwöhnte Marquise ein Leben fern von Paris bis dahin wie eine Unmöglichkeit, oder wenigstens wie ein großes Unglück bedünkte. Dennoch verließ sie allen Schmuck und alle Annehmlichkeiten des Lebens, um der Madame Recamier ihre Verbannung tragen zu helfen. Nur die sehnsuchtsvollen Briefe ihrer Tochter, der Gräfin von Gramont, sowie die Ueberredung der Madame Recamier, die der edelmüthigen Marquise ein so großes Opfer nicht länger zumuthen wollte, bestimmten sie – doch hatte sie immer einige Wochen in der kleinen Stadt zugebracht – nach Paris zurückzukehren. Als die Marquise wieder abgereist war, kam Herr Bernard auf einige Tage nach Châlons. So schwer es dem Greise auch ward, sich seinen häuslichen Bequemlichkeiten zu entreißen, die Liebe zu seiner Tochter siegte doch über die Beschwerden, vor denen das Alter mit Recht Scheu hat. Ihn löste Herr Recamier ab, und diesen wieder Herr Simonard, der ja ihr zweiter Vater war. Auch ihre Base, die Baronin von Dalmassy, leistete ihr während eines ganzen Monats Gesellschaft. Dann kam August von Staël zweimal nach Châlons, um Botschaft von seiner Mutter zu bringen, die ihre Verbannung weit ungeduldiger trug, als Madame Recamier. Eine Abwechselung in ihr verhältnißmäßig sehr einförmiges Leben zu Châlons brachte jedesmal der Sonntag, wo sie, nach gemachter Bekanntschaft mit dem Organisten, in der Ortskirche regelmäßig während der großen Messe die Orgel spielte.

Als acht Monate der schönen Verbannten in Châlons nicht gerade heiter, aber auch nicht allzu betrübt verflossen waren – die vielen Freundschaftsbezeugungen, die ihr im Unglück zu Theil wurden, gereichten ihrem Herzen zum Balsam – also nach einem längern Aufenthalte in Châlons, der im Großen und Ganzen sich als nicht so schrecklich herausgestellt hatte, wie sie bei ihrer Ankunft befürchtete, begab sich Madame Recamier nach dem Süden Frankreichs. Da Frau von Staël vor ihrer beabsichtigten Einschiffung in weite Fernen noch einige Tage in Lyon verweilen und dort mit ihrer geliebten Freundin noch einmal vor langer Trennung schmerzlich-süße Stunden verleben wollte, so wählte Madame Recamier ihre Vaterstadt als zweiten Aufenthaltsort in ihrer Verbannung. Ohne diesen, ihre Abreise bedingenden, Umstand hätte Châlons wol noch länger die Ehre gehabt, die gefeiertste Frau von Paris innerhalb seines Weichbilds zu beherbergen.


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