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Es war wol gut, daß die Ermahnungen des edlen Mathieu von Montmorency seine schöne Freundin verhinderten, gänzlich vom Strudel der Welt erfaßt zu werden; denn auch für sie schlug die Stunde, wo sie der Stärkung, die uns einzig von Gott kommen kann, dringend bedurfte.
Madame Recamier, die sich häufig mit den zahlreichen Mitgliedern der Familie Bonaparte auf Bällen und Festen begegnete, und die später zu der Gemahlin Murat's in enge, freundschaftliche Beziehungen trat, wurde im Sommer 1802 von Elisa Bacciocchi dringend ersucht, sie gemeinsam mit Herrn von Laharpe, der, wie sie wußte, an der Tafel der schönen Julie sehr oft gesehen ward, zu Tische bitten zu wollen. Obgleich der Madame Recamier diese prinzliche Ueberhebung, sich selbst einzuladen, statt bescheiden eine Einladung zu erwarten, äußerst mißfiel, so hatte sie doch aus einer frühern Unterredung mit ihrem Gatten gelernt, daß man mit der Familie des ersten Consuls viele Rücksichten nehmen und derselben manche Zugeständnisse machen müsse, zu denen man sich bei einer andern nimmer herbeilassen würde. So willfahrte Madame Recamier denn dem Wunsche der nach der Bekanntschaft mit einer literarischen Berühmtheit begehrlichen Elisa Bacciocchi. Madame Recamier hatte rücksichtsvoller Weise nur einen kleinen Kreis um sich versammelt, damit Laharpe desto besser genossen werden könne. Von Damen waren, außer Elisa Bacciocchi, nur die Mutter der Madame Recamier und Frau von Staël eingeladen. Von Männern sah man die Hauptperson des Tages, Herrn von Laharpe, sowie den Grafen von Narbonne und Mathieu von Montmorency. Man war bei Tische sehr heiter, und Elisa Bacciocchi schien entzückt, mit zwei literarischen Berühmtheiten, wie es Herr von Laharpe und Frau von Staël unbestritten waren, so eng zu verkehren. Als man sich von der Tafel erhob, um in einem Nebenzimmer den Kaffee zu trinken, überreichte ein Diener der Madame Bernard ein Billet. Diese, von einer bangen Ahnung ergriffen, stürzte, da sie augenblicklich sich mit Niemandem in einem Gespräche befand, zu einer Fensternische, um dort das Billet zu durchfliegen. Madame Recamier ward, als sie bemerkte, daß man ihrer Mutter ein Billet überreichte, ebenfalls von großer Unruhe erfaßt und wandte deshalb das Haupt rückwärts, bevor sie ihren Gästen in das Nebenzimmer folgte. Da sah sie, wie ihre Mutter das Billet krampfhaft zusammenpreßte und dann ohnmächtig zur Erde sank. Sogleich stürzte Madame Recamier zu ihrer am Boden liegenden Mutter, richtete sie auf, und bald bildete die ganze in den Speisesaal zurückgekehrte Gesellschaft eine theilnehmende Gruppe um die, auf einem Sopha ausgestreckte, ohnmächtige Frau. Als Madame Bernard wieder die Augen aufschlug und sich ein wenig zu erholen anfing, da fragte ihre Tochter sie mit bebender Lippe, was sie denn so erschreckt habe. Madame Bernard, die noch zu schwach war, um sprechen zu können, reichte ihrer Tochter das Billet, das sie bis dahin krampfhaft umschlossen hielt.
Zum Verständnisse der Scene, die sich eben abspielte, ist hier einzuschalten, daß Herr Bernard im Jahre 1800 mit einer höhern Stelle im Postfache betraut worden war. Wir erzählten bereits, daß die Bernard'sche Familie royalistische Gesinnungen hegte. Durch diese seine Anhänglichkeit an die alte Königsfamilie ließ sich nun Herr Bernard zu einem Schritte verleiten, durch den er an der neuen Regierung einen schmählichen Vertrauensbruch beging. Die royalistische Partei nämlich, die sich damals sehr zu regen begann, führte durch seine Vermittelung einen eifrigen Briefwechsel. Die geheime Polizei wußte davon, mühte sich aber vergeblich ab, zu erfahren, wie die Sache betrieben werde. Endlich ermittelte sie doch, daß sämmtliche Briefe unter der Adresse des Herrn Bernard in Paris einliefen und von ihm dann auf geschickte und heimliche Weise an die betreffenden Personen besorgt wurden. Hierauf hatte nun die geheime Polizei allerdings nicht so leicht verfallen können, daß ein von der Consularregierung mit Gunst behandelter Beamter sich solcher Treulosigkeit schuldig mache. Je mehr die geheime Polizei von dem jähzornigen ersten Consul mit Vorwürfen überschüttet worden, weil sie den royalistischen Umtrieben wol auf die Spur gekommen war, aber doch nicht so, daß man die Thäter packen konnte, je mehr also Fouché und Consorten unter der Wuth und dem Spotte ihres Herrn und Meisters gelitten hatten, desto gieriger stürzten sie sich auf ihre Beute, als sie endlich den Schuldigen entdeckten. Herr Bernard ward demnach verhaftet, in's Gefängniß geschleppt und mit einem summarischen Processe bedroht.
Dies bildete den Inhalt der Zeilen in jenem verhängnißvollen Billet, das die todtbleiche Mutter ihrer zitternden Tochter hinreichte. Madame Bernard hatte keine Ahnung, zu welcher lebensgefährlichen Gefälligkeit sich ihr Gatte herbeiließ; die kluge, voraussehende Frau hätte ihn von einem so gefährlichen Beginnen zurückgehalten.
Als Madame Recamier die ganze furchtbare Gewißheit in sich aufgenommen hatte, begriff sie, daß schnell gehandelt werden müsse, wenn ihrem Vater das Leben gerettet werden sollte. Daß der erste Consul, wie der wüthende Löwe, nach Blut lechzte, wußte sie bei dem ihr hinlänglich bekannten Charakter dieses furchtbaren Mannes. Sie näherte sich deshalb mit schwankenden Schritten der unweit von ihr stehenden Elisa Bacciocchi und sprach – die große Erregung raubte ihr oft die Stimme, so daß sie nur in Absätzen sprechen konnte – sie sagte also, mühsam nach Fassung ringend:
»Die Vorsehung, die Sie, Madame, zum Zeugen des Unglücks machte, von dem wir betroffen worden, wollte uns in Ihnen ohne Zweifel den Retter senden. Ich muß den ersten Consul noch heute sprechen, und ich zähle auf Sie, Madame, um mir eine Unterredung zu verschaffen, von der alles abhängt.«
Jetzt hob sie ihr von Thränen verschleiertes Auge, hoffend, in den Mienen der Madame Bacciocchi einer freundlichen Gewährung zu begegnen. Aber, ach! diese Mienen verhießen nichts Gutes. Elisa Bacciocchi sah verlegen und fast übellaunig aus. Offenbar wünschte sie, daß sie sich niemals zum Mittagsmahle in diesem Hause angemeldet hätte. Nach längerer Pause antwortete sie der an ihren Lippen hängenden Madame Recamier:
»Mir däucht, Sie würden gut thun, wenn Sie sich erst zu Fouché begäben, um durch ihn den eigentlichen Sachverhalt zu erfahren. Sollte es dann noch nöthig sein, daß Sie meinen Bruder sprechen, so kommen Sie zu mir, und wir werden dann sehen, was zu thun ist.«
Obgleich Madame Recamier durch die kalte Antwort der offensichtlich wenig teilnehmenden Elisa Bacciocchi peinlich berührt wurde, so verrieth sie doch durch kein Zeichen ihre Gekränktheit, sondern fragte mit leiser, noch immer von Thränen bebender Stimme: »Wo würde ich Sie finden, Madame, wenn es nöthig sein sollte?« – »Im Théâtre-Français, in meiner Loge. Dort erwartet mich meine Schwester. Ich will mich jetzt gleich zu ihr begeben.«
Und die herzlose Tochter der jeder Sentimentalität feindlichen Familie Bonaparte machte, daß sie aus dem Unglückshause fortkam.
Madame Recamier war fast erstarrt über die Unzartheit und Gefühllosigkeit der ihr gewordenen Antwort. Während sie für das Leben ihres Vaters zitterte, muthete man ihr zu, im Theater zu erscheinen. Doch es galt zu handeln und jede Empfindlichkeit niederzukämpfen. Dem Diener ward demnach befohlen, anspannen zu lassen, und Madame Recamier fuhr bei Fouché vor. Sie ward sogleich vorgelassen, denn Madame Recamier nahm in dem Salon eine zu hervorragende Stellung ein, als daß nicht Jeder, dem darum zu thun war, von der guten Gesellschaft gelitten zu werden, sich beeifert hätte, ihr zu gefallen. Fouché hörte sie demnach sehr artig an, verhehlte ihr aber nicht, daß die Sache ernst, ja, bedenklich sei. Er selbst könne gar nichts für sie thun. Es komme alles darauf an, daß ' sie den ersten Consul noch im Laufe des Abends spreche, um durch ihn zu erlangen, daß überhaupt keine Anklage stattfinde. Geschehe dies nicht, so sei das Aeußerste zu befürchten. Schon morgen sei jeder Schritt überflüssig. – Hiermit war also deutlich gesagt, daß, wenn es morgen zur Anklage käme, Herr Bernard unfehlbar werde zum Tode verdammt werden.
Madame Recamier verließ Fouché in einem Zustande unbeschreiblicher Seelenqual. Sie hatte kaum die Kraft, ihrem Diener zu sagen, sie wolle in's Théâtre-Français fahren. Als die Wagenthür hinter ihr zugemacht ward, sank sie bewußtlos in die Kissen und schloß die Augen, vor denen schreckliche Bilder auf- und niedertanzten. Angelangt bei'm Theater, stieg sie, wie betäubt und für die Außendinge kaum einen Sinn habend, dieselbe Treppe empor, über die sie so oft unbekümmerten Herzens, und indem Laute der Bewunderung sie rechts und links umtönten, wie eine Hebe dahingeschwebt war. Als Madame Recamier in der Loge erschien, wo die beiden Schwestern des ersten Consuls, Elisa und Pauline, Platz genommen hatten, so konnte erstere den Ausdruck sehr unangenehmer Ueberraschung nicht unterdrücken, als sie Diejenige eintreten sah, der sie, wenn auch widerwillig, versprochen hatte, einen Dienst zu leisten. Madame Recamier, allen Muth zusammennehmend – es war vielleicht das erste Mal im Leben, daß diesem von allen Menschen verzogenen Lieblinge so viel Unfreundlichkeit begegnete – Madame Recamier sprach mit fester Stimme, daß sie gekommen sei, um die Erfüllung des ihr gegebenen Wortes zu fordern. Sie müsse den ersten Consul noch vor morgen sprechen; sonst sei ihr Vater verloren.
Die kaltherzige Schwester eines kaltherzigen Bruders antwortete in wenig freundlichem Tone:
»Lassen Sie erst das Trauerspiel zu Ende sein; dann stehe ich zu Diensten.«
Ach, der Madame Recamier bangte vor der Aufführung eines Trauerspiels, in dem ihrem Vater die Hauptrolle zugedacht sein konnte. Sie hatte demnach wahrlich kein Verlangen, jetzt einem künstlichen Trauerspiele beizuwohnen. Doch es galt zu bleiben; denn Elisa Bacciocchi verharrte auf ihrem Platze und blickte gleichmüthig nach der Bühne. Zum Glück war die Loge sehr tief, so daß Madame Recamier sich in den Hintergrund zurückziehen und die Augen schließen konnte, um von dem Glanze des Schauspielhauses, der ihr wehethat, nichts zu sehen. Indeß schien sich an diesem furchtbaren Tage alles verschworen zu haben, um ihr Dolchstich auf Dolchstich zu versetzen. Denn Pauline Leclerc (die spätere Fürstin Borghese), diese sehr schöne, aber auch sehr vergnügungssüchtige und für Mitleid wenig empfängliche Schwester des ersten Consuls, wandte sich nach Madame Recamier um und fragte, ob sie den Schauspieler Lafont schon in der Rolle des Achilles gesehen habe. Madame Recamier raffte sich gewaltsam aus ihrem Trübsinn auf und konnte nicht gleich eine Antwort finden. Doch war dies auch gar nicht nöthig, denn die geschwätzige Pauline, die sich mit dem Aussehn der Männer allzu angelegentlich beschäftigte, fuhr fort: »Er ist sonst in der Rolle auffallend schön, aber heute trägt er einen Helm, der ihn schrecklich kleidet.« Einer Tochter, die für das Leben ihres Vaters zitterte, zuzumuthen, sie solle Sinn dafür haben, ob einen Schauspieler der Helm kleide, oder nicht! Es sollte der armen Madame Recamier doch das Aeußerste erspart werden, auf so viel Herzlosigkeit antworten zu müssen. Sie hatte nämlich, als sie sich erst in den Hintergrund der Loge zurückzog, in einer Vertiefung, die der ihrigen gegenüberlag, einen Mann bemerkt, dessen dunkle, feurige Augen mit sichtbarer Theilnahme auf ihr ruhten. Doch war ihre Erschöpfung eine zu große, als daß sie weiter darauf Acht gegeben hätte. Jetzt, als Madame Leclerc die unpassende Aeußerung wegen des schönen Schauspielers an die für das Leben ihres Vaters zitternde Tochter richtete, klang aus demselben Winkel ein Ausruf, wie von Empörung und Ungeduld, und ein stattlicher Mann von gebietendem Aussehn erhob sich, trat dicht zu Elisa Bacciocchi, und die unzarte Pauline mit tadelndem Blicke streifend, sprach er in sanftem und theilnehmendem Tone:
»Madame Recamier scheint sehr leidend. Wenn Sie mir die Erlaubniß gewährte, so würde ich sie zu ihrer Wohnung zurückgeleiten und die Verpflichtung auf mich nehmen, noch heute Abend mit dem ersten Consul zu sprechen.«
Etwas Angenehmeres konnte der gefühllosen Elisa Bacciocchi nicht begegnen, als von ihrem, der Madame Recamier gegebenen, Versprechen loszukommen. Sie ergriff deshalb mit Eifer den ihr gemachten Vorschlag und sprach, sich zu Madame Recamier wendend:
»Es hätte sich nichts Glücklicheres für Sie zutragen können. Vertrauen Sie sich ganz dem General Bernadotte an! Niemand vermag Ihnen nützlichere Dienste zu leisten.«
Madame Recamier empfand es trotz der Centnerlast, die ihr Herz beschwerte, dennoch wie eine Erleichterung, von der Gegenwart zweier so unzarten und gefühllosen Schwestern befreit zu werden. Sie nahm demnach den ihr dargebotenen Arm des Generals Bernadotte und verließ mit ihm die Loge. Dieser führte Madame Recamier zu ihrem Wagen, in dem er neben ihr Platz nahm, nachdem er seinem Kutscher befohlen hatte, ihm in geringer Entfernung zu folgen. Während der ganzen Fahrt war der General Bernadotte voll zartesten Trostes und versicherte der Madame Recamier in bestimmtester Weise, wie er von dem ersten Consul das Fallenlassen des Processes zu erreichen hoffe. Es erklärt sich hieraus, daß die an diesem Tage so schwergeprüfte Frau einigermaßen getröstet in ihrem Hotel wieder anlangte. Bernadotte versprach, als er sich beurlaubte, daß er sich in die Tuilerien begeben und nach erlangter Unterredung mit dem ersten Consul zu ihr zurückkehren werde. Welche Entscheidung es auch sei, er werde sie selber bringen.
Als Madame Recamier die Treppe zu ihrem Hotel emporstieg, benachrichtigte man sie, daß in ihren Zimmern, die an jedem Abende erleuchtet und zum Empfange von Gästen fertiggestellt waren, Hunderte von Personen auf und nieder wogten. Die Nachricht von der Verhaftung des Herrn Bernard hatte sich mit Blitzesschnelle verbreitet, denn der Vater der berühmtesten Schönheit war selber eine Art von Berühmtheit. So hatten sich Hunderte aus der besten Gesellschaft zusammengefunden, um der von Vielen geliebten und von Allen gefeierten Madame Recamier ihre Theilnahme zu bezeugen. Doch diese fühlte sich nicht kräftig genug, um so zahlreiche Personen zu sehen und zu sprechen. Sie ließ sich deshalb entschuldigen und zog sich in ihre Hintern Gemächer zurück. Ihrem Diener ertheilte sie den Befehl, Niemanden vorzulassen, als den General Bernadotte. In einer unbeschreiblichen Aufregung erwartete sie seine Ankunft. Die Minuten wurden ihr zu Stunden. Endlich ward der General gemeldet. Ihr banger Blick flog ihm entgegen, als er in der geöffneten Thür erschien. Doch sein glückliches Aussehn beruhigte sie. Mit geflügelten Worten theilte er ihr mit, daß der erste Consul darein gewilligt habe, dem Herrn Bernard nicht den Proceß machen zu lassen. So sei die größte Gefahr beseitigt. Ihren Vater aus dem Gefängnisse zu befreien, werde viel geringere Mühe kosten.
Madame Recamier sprach dem General Bernadotte in rührender Weise ihre Erkenntlichkeit aus. Dann erleichterte ein reicher Thränenstrom ihr gequältes Herz. Konnte sie auch die ganze Nacht kein Auge schließen, sondern mußte sie hin und her überlegen, wie sie zu ihrem Vater in's Gefängniß dringen und ihn trösten könne, so hatte doch die folternde Angst aufgehört, und in die heißen Dankesgebete, die sie zu Gott emporsandte, verflocht sie den Namen des Generals Bernadotte, daß ihm der an ihr bewiesene Edelmuth gelohnt werden möge.
So verflossen für Madame Recamier die Stunden bis zum Morgen unter Gebeten und Plänen, wie sie zu ihrem Vater gelangen könne, um ihm in seinem Kerker Trost einzusprechen.