Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Wiederum angstvolle Stunden.

Madame Recamier erhob sich an dem der Verhaftung ihres Vaters folgenden Vormittage ungewöhnlich früh, da sie auf ihrem Lager wol geruht, aber nicht geschlafen hatte. Sie befahl sogleich ihren Wagen und fuhr zum Gefängnisse des Tempels. Da sie dies Gefängniß häufiger besucht hatte, um nach erwirkter Erlaubniß dortigen Eingekerkerten, an deren Schicksal sie Antheil nahm, Trost zu bringen, so empfing sie jetzt den Lohn für ihr gütiges Walten, indem sie diesen, für eine glänzende Dame sonst auffallenden, Schritt thun konnte, ohne Aufsehn zu erregen. Sie kannte dort einen Schließer, Namens Coulommier, dem sie bei ihrer freigebigen Natur manche Goldmünze hatte in die Hand gleiten lassen. An diesen wandte sie sich, damit er ihr das Gefängniß ihres Vaters aufschließen und sie einige Augenblicke mit ihm allein lassen möge. Der rührende Anblick der bleichen, schönen Frau, sowie die Aussicht auf eine fürstliche Belohnung, bestimmten ihn, dem Wunsche der Madame Recamier zu willfahren.

Kaum hatte die Tochter ihren Vater umschlungen und ihm zugeflüstert, daß sie auf baldige Freiheit für ihn hoffe, als der Schließer Coulommier bleich und ganz außer sich hineinstürzte. Ohne ein Wort zu sprechen, ergriff er Madame Recamier bei'm Arm, schob sie durch eine eiligst geöffnete Thür in eine kleine, dunkle Kammer, und schloß dann schnell hinter ihr zu. Alles dies geschah mit Windeseile, und Madame Recamier befand sich hinter Schloß und Riegel, sowie in vollständigster Finsterniß, bevor sie sich von ihrer Betäubung erholt hatte. Jetzt hörte sie das Geräusch von mehreren Stimmen in dem Gefängnisse ihres Vaters, dann ein langsames, feierliches Vorlesen, worauf große Stille folgte. Doch konnte sie nicht die einzelnen Worte verstehen, sondern nur das lautere Sprechen von dem leiseren unterscheiden. Darauf hörte sie, wie Thüren geöffnet und geschlossen wurden; dann herrschte Todtenstille. Ihre Hoffnung, daß sich auch ihre Thür öffnen, und man sie aus ihrem dunklen Behältnisse befreien werde, hatte sich nicht verwirklicht. Sie stand da in Finsterniß, Ungewißheit und Todesangst. Die verschiedensten Gedanken durchkreuzten ihr gemartertes Gehirn. Hatte man ihren Vater in ein anderes Gefängniß gebracht? War Coulommier ebenfalls verhaftet worden, weil man ihn eines Einverständnisses mit ihr beargwöhnte? Wie lange mußte sie ausharren in dieser entsetzlichen Finsterniß? Bei diesem Gedanken schüttelte Fieberfrost das bis dahin so verzärtelte Kind des Glückes. Immer finsterer ward ihr Ideenkreis. Jetzt fiel ihr ein, wie in diesem Gefängnisse so viele Thränen geflossen, so viele Seufzer erschallt waren. Die Gestalten der königlichen Familie, die hier das Aeußerste an Schmach und Hohn erlitten hatten, umschwebten sie in immer deutlicheren Umrissen und schienen ihr mitleidig zuzuflüstern, sie möge sich auf das Schrecklichste gefaßt machen. Zuletzt ward Madame Recamier von all' den verschiedenen entsetzlichen Eindrücken, die seit dem gestrigen Tage auf sie eingestürmt waren, wie stumpfsinnig. Sie fiel auf einen harten, hölzernen Sitz und verharrte dort regungslos. Wahrscheinlich würde sie das Bewußtsein verloren haben, wäre jetzt nicht zum Glücke ein Schlüssel in die Thür ihres Kerkers gesteckt und dieser schnell geöffnet worden. Madame Recamier stürzte heraus, ohne weiter daran zu denken, auf wen sie stoßen werde. Es war der Schließer Coulommier. »Ich habe einen schönen Schrecken gehabt,« sprach er eiligst. »Folgen Sie mir schnell und fordern Sie nie Aehnliches von mir wieder!« Während er sie auf engen, verschlungenen Gängen bis in den Hof geleitete, wo sie ihren Wagen vorfand, erzählte er ihr, daß, als sie eben bei ihrem Vater eingetreten sei, unerwartet Gerichtspersonen erschienen wären, um Herrn Bernard nach der Polizeipräfectur abzuholen, wo ein Verhör mit ihm angestellt werden solle.

Durch diese beunruhigende Nachricht ward die Angst der Madame Recamier wieder bis aufs Aeußerste gesteigert. Sie kam deshalb voller Verzweiflung in ihrem Hotel an und wollte außer ihrer Mutter und ihren nächsten Verwandten Niemanden sehen. Da ließ sich General Bernadotte melden und brachte Trost und beste Hoffnung für die Zukunft. Bernadotte bemerkte, daß die Angelegenheit sich zwar nicht so schnell abzuwickeln scheine, wie er für Madame Recamier und den Gefangenen gewünscht hätte, daß aber die Freigebung des Herrn Bernard nur eine Frage der Zeit sei.

Während dieser entscheidungsvollen Periode kam Bernadotte fast jeden Tag zu Madame Recamier, und wenn inzwischen etwas Wichtiges vorfiel, und er nicht persönlich erscheinen konnte, so sandte er unverzüglich Nachricht. Der nächste Verwandte hätte sich nicht theilnehmender gegen sie beweisen können. So empfing sie während dieser Zeit von Bernadotte folgenden Brief:

»Ich habe im Laufe des Vormittags vergebens die Eingabe erwartet, die Madame Recamier wollte an mich gelangen lassen. Der Polizeiminister hält diese Eingabe für durchaus nothwendig. Sie würde zur Freilassung des Herrn Bernard wesentlich beitragen. Die Stimmung scheint eine sehr günstige zu sein; deshalb muß der Augenblick benutzt werden. Ihn zu verpassen, wäre ein großer Fehler. Madame Recamier wird sich nicht verhehlen, daß wir keine Zeit zu verlieren haben. Sollte Herr Recamier in der Unterredung, die ihm vom General Bonaparte bewilligt worden, die Freilassung seines Schwiegervaters erlangt haben, so wäre jeder weitere Schritt meinerseits überflüssig, und ich ersuche um desfallsige gütige Benachrichtigung. Der aufrichtige Antheil, den ich an dem günstigen Ausgange dieser Angelegenheit nehme, läßt die Freude begreiflich finden, die mir eine derartige Nachricht verursachen würde. Ist dagegen die Sache noch auf demselben Fleck, so gilt es, unverweilt zu handeln.

Unerwartete Geschäfte nöthigen mich, morgen auf's Land zu gehen; ich würde deshalb sehr dankbar dafür sein, wenn ich vor sieben Uhr über den Stand der Dinge sichere Auskunft empfinge. Diese Aufhellung ist mir nothwendig; sie wird die Schritte bestimmen, die ich bei'm Polizeiminister und, wenn es sein muß, bei'm ersten Consul werde zu thun haben.

Der Wunsch, den Madame Recamier einem Jeden einflößt, ihr angenehm zu sein, giebt ihr die Gewißheit, daß sie unbedingt über mich verfügen kann, und daß ich ihr mehr gehöre, als mir selber.«

Und eines Tages trat der im Dienste der Madame Recamier unermüdliche Bernadotte zu ihr ein, ein Papier hoch in der Hand haltend und strahlend vor Freude. Er überreichte der schönen, von ihm verehrten Frau den Befehl zur Freilassung ihres Vaters. Mit Thränen in den Augen, fragte ihn die überglückliche Tochter, wie sie ihm danken könne. In seiner feinen, ritterlichen Weise antwortete Bernadotte, daß er sich reichbelohnt fühlen werde, wenn er Madame Recamier begleiten und Zeuge sein dürfe, wie ein Engel der Barmherzigkeit die Schwelle des Gefangenen überschreite. So führte Bernadotte Madame Recamier zu ihrem Vater und verließ dann mit ehrfurchtsvoller Verbeugung die enge Zelle, die lange nicht so glückliche Menschen gesehen hatte.


 << zurück weiter >>