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Als Madame Recamier nach mehr als einjähriger Abwesenheit den Boden ihrer Heimath wieder betrat – ist doch den Kindern der gallischen Erde ihr Vaterland über alles theuer – da jubelte ihr Herz vor Entzücken, und ihre Augen schwammen in Thränen. Sie durfte sich ihrem Entzücken überlassen, ohne daß ihr Gewissen den leisesten Vorwurf erhob. Obgleich sie wahrscheinlich in ewiger Verbannung, fern von Paris, hätte leben müssen, falls Napoleon nicht gestürzt worden wäre, so hatte sie doch um ihretwillen keinen Augenblick den Sieg der Verbündeten über einen Mann gewünscht, der zwar ihr Feind war, aber auch zugleich der Beherrscher und Schirmer ihres Vaterlandes. Aber hier drängte sich die Frage auf, ob er ein wirklicher Schirmer sei. Und die Antwort fiel verneinend aus. Die vielen bedeutenden Männer, die mit Madame Recamier durch Freundschaft verknüpft waren, hatten ihr wiederholt auseinandergesetzt, daß die Herrschaft Napoleon's der im alten Griechenland so verhaßten Tyrannis auf ein Haar ähnlich sehe. Es bedurfte für sie kaum einer theoretischen Auseinandersetzung, da sie die unheilvollen Wirkungen der Tyrannei ja an sich und ihren Freunden praktisch erprobte. Und nicht bloß die edleren Geister, die ein Volk nicht für glücklich halten konnten, wenn es nicht selbst seine Geschicke lenkte, statt von der Willkür eines Einzigen abhängig zu sein, nein, auch die mittlern und untern Schichten Frankreichs fühlten gegen das Ende der kaiserlichen Regierung einen Alp auf sich lasten, und die Brust Aller sehnte sich nach einem freieren Luftzuge. Pückler-Muskau, der in den Jahren, die dem Sturze Napoleon's vorangingen, das südliche Frankreich bereiste, erzählt, wie die jungen Leute in die Wälder flohen, um der Conscription zu entgehen, und er begegnete auf der Landstraße solchen von den Gendarmen Wiederergriffenen, die jetzt traurig mit auf den Rücken gebundenen Händen vor den Pferden ihrer Peiniger mühsam dahinkeuchten. Aber, so lange Napoleon aus der Höhe seiner Macht stand, beugten sich die Köpfe im Staube vor ihm, und nicht am wenigsten die von ihm geschaffenen Könige. Nur Madame Recamier und die ihr befreundete Gruppe edler und hochbegabter Persönlichkeiten bewahrte ihre volle Würde und bewirkte, daß Napoleon an den Adel der Menschheit noch glauben mußte, mochte er ihn allerdings bei nur wenigen Individuen vertreten finden. Wir rechnen zu der Gruppe der Madame Recamier auch Chateaubriand, obgleich er erst nach dem Sturze des Imperators sie kennen lernte, um dann ihr dritter wahrhafter Freund zu werden. Die Zahl der Menschen, die dem Weltdespoten gegenüber ihre Würde wahrten, ist so klein, daß wir Chateaubriand durchaus nicht missen können. Trat er doch sofort aus dem Staatsdienste, als die Kunde von der empörenden Erschießung des Herzogs von Enghien an sein entsetztes Ohr dröhnte. Da war, während die Mächtigsten schwiegen, Chateaubriand der Einzige, der zwischen sich und dem blutigen Manne das Tafeltuch durchschnitt und zu ihm sprach: »Geh' du linkwärts! Laß mich rechtwärts gehn!« Zu Chateaubriand gesellten sich Moreau und Mathieu von Montmorency, Beide der Madame Recamier befreundet und Beide gleich ihr verbannt. Also von den Männern, die sich vor Napoleon nicht beugten, gehören alle drei, Chateaubriand, Moreau und Mathieu von Montmorency, zu dem Freundeskreise der edlen und schönen Julie. Unter den Frauen aber, die dem Zorne des Tyrannen Gleichmuth entgegensetzten, glänzt Madame Recamier in erster Reihe, und neben ihr Frau von Staël und die Herzogin von Chevreuse, Beide mit der schönen Julie durch die engste Freundschaft verbunden. Wir haben der Madame Recamier unter den edlen Frauen, die sich vor Napoleon in würdevoller Unabhängigkeit behaupteten, den ersten Rang angewiesen, weil sie trotz der Kränkungen, mit denen er sie heimsuchte, sich niemals zu einem bittern Worte gegen ihn hinreißen ließ. Bei Frau von Staël und der Herzogin von Chevreuse war dies aber ganz anders. Da Frau von Staël Napoleon einen » Robespierre à cheval« nannte, so ward dies Wort eine Zeitlang zu einem geflügelten, das von allen Denjenigen gemurmelt ward, die den straffen Selbstherrscher haßten, aber dabei vor ihm zitterten.
Madame Recamier konnte demnach mit einem Entzücken, gegen das ihr Gewissen keine Einsprache erhob, den Boden ihres Vaterlandes nach langer Trennung wiederbetreten. Hatte sie doch das Wohl Frankreichs stetig allem Andern vorgezogen und niemals den Sturz Napoleon's im Gebete erfleht, da sie sich nicht klar war, ob ihr Vaterland seinen Arm werde entbehren können.
Als Madame Recamier in Lyon anlangte, ward ihr folgender Brief der Frau von Staël überreicht:
»Paris, den 20. Mai 1814.
Es ist ein Gefühl von Scham, das mich erfaßt, wenn ich bedenke, daß ich mich hier ohne Sie, den Engel meines Lebens, befinde. Theilen Sie mir doch Ihre nächsten Pläne für die Zukunft mit! Wollen Sie, daß ich Ihnen entgegeneile, und wir uns zusammen nach Coppet begeben? Dort denke ich vier Monate zuzubringen.
Nach so vielen Leiden sind Sie mein süßester Trost; mein Herz gehört Ihnen für alle Ewigkeit.
Ich erwarte ein Wort von Ihnen, um zu wissen, was ich zu thun habe. Meine Ihnen nach Rom und Neapel geschriebenen Briefe erhielten Sie hoffentlich.«
Madame Recamier verweilte einige Tage in Lyon, einmal, um sich auszuruhen und Kraft zu sammeln für den Andrang der Menschen, der sie in Paris erwartete, dann aber auch, um mit ihrer, durch Frömmigkeit und Wohlthun ausgezeichneten, Schwägerin einige Tage zu verleben. Auch Camille Jordan und Ballanche, zwei von ihr hochgeschätzte Männer, machten ihren vorübergehenden Aufenthalt in Lyon zu einem sehr angenehmen. Wie hatten sich doch die Zeiten verändert! Als Madame Recamier im Juni 1812 sich von Châlons-sur-Marne nach Lyon begab, so war auch einer ihrer Beweggründe der gewesen, daß sich dort ein Präfekt befand, den Frau von Staël in ihren Briefen als einen Mann von bestem Tone geschildert hatte. Dies verhinderte den Präfekten aber nicht, einen höchst unpassenden Ton gegen Madame Recamier anzuschlagen und der von dem Zorne Napoleon's Getroffenen Rathschläge zu ertheilen, die ihren Stolz beleidigten. Aller Verkehr zwischen Madame Recamier und dem kaiserlichen Präfekten beschränkte sich demnach auf zwei Besuche, die sie mit einander austauschten. Als Madame Recamier im Mai 1814 in Lyon anlangte, da befand sich dort Alexis von Noailles als königlicher Commissarius. Sie erschien an seinem Arme bei einem glänzenden Feste, das die Stadt aus Freude über die Rückkehr der Bourbonen veranstaltet hatte. Als Madame Recamier am Arme des königlichen Commissarius die dichten Reihen der Lyoneser und Lyoneserinnen entlang schritt, da hörte sie jenes Murmeln der Begeisterung, das stets ihr öffentliches Erscheinen zu begleiten pflegte.
Am 1. Juni 1814 langte Madame Recamier wieder in Paris an, von dem sie fast drei Jahre hindurch getrennt gewesen.