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Als Madame Recamier in Rom anlangte, traf sie dort nicht den Papst, der als Gefangener in Frankreich weilte. Da die katholischen Kirchenfeste während der Osterzeit durch die Abwesenheit des heiligen Vaters viel an Pracht und Anziehungskraft verloren, so befanden sich auch verhältnißmäßig wenig Fremde in Rom. Ueberdies ließ der allgemeine Krieg damals den Völkern keine Zeit zum Vergnügen, und den sonst so reiselustigen Engländern machten die drakonischen Maßregeln Napoleon's einen Aufenthalt in Italien rein unmöglich. Madame Recamier traf demnach Rom als eine französische Stadt, nach welcher der Sohn Napoleon's den Namen führte. Die höchsten Beamten in Rom waren dem entsprechend französische. Der General Miollis befehligte die Truppen, die das Land in Gehorsam erhielten; Herr von Norvins stand der Polizei vor und sorgte für die Ruhe der Stadt; Herr von Tournon war Präfect. Madame Recamier kam unter den Italienern zuerst mit ihrem Bankier zusammen, für den sie von ihrem Gatten, der mit ihm vielfache Geschäftsverbindungen unterhielt, ein Empfehlungsschreiben und einen Creditbrief hatte. Es war dies der italienische Rothschild, in der Welt besser bekannt mit seinem Geschäftsnamen Torlonia, während er in Rom mehr mit seinem Titel genannt wurde, den großer Reichthum sich so leicht verschafft. Torlonia nun, Herzog von Bracciano, von Hause aus geizig, aber für glänzende Feste die größten Summen nicht scheuend, kam der Madame Recamier mit vieler Artigkeit entgegen und führte sie gleich seiner Gemahlin zu, die eine Frau von seltener Schönheit war. Da Madame Recamier vom Beginn ihres Aufenthaltes an gleich mit einem größern Kreise verkehrte, so bedingten es die Verhältnisse, daß sie auch bei sich Gäste empfing, weshalb ihre ursprüngliche Wohnung am spanischen Platze den gesteigerten Ansprüchen bald nicht mehr genügte. Sie verließ diese Wohnung deshalb nach ungefähr einem Monate und bezog das, für sie gemietete, erste Stockwerk im Palaste Fiano, der auf den Corso stößt. Nicht bloß sämmtliche Franzosen, die in Rom verweilten, sondern auch die wenigen Fremden, die sich damals in der ewigen Stadt aufhielten, bemühten sich, zu dem Salon der Madame Recamier Zutritt zu erlangen. Besonders häufig erschien bei ihr ein Herr von Ormesson, ein Franzose von sehr sanftem und liebenswürdigem Charakter. Auch der Baron von Forbin, der überall Beachtung gefunden hätte, ein Mann von sehr feinem Benehmen, für Kunst und Literatur schwärmend und auf beiden Gebieten Verdienstliches leistend, dabei von bedeutendem Vermögen und glänzendem Geiste, fehlte fast nie an den Empfangsabenden der Madame Recamier. Da er sehr lebhaft und anziehend sprach, und seine drolligen Erzählungen durch ein wirksames Mienenspiel seinen Zuhörern als sich vor ihren Augen zutragend darzustellen wußte, so war seine Anwesenheit allein ausreichend, keinen Augenblick Langeweile aufkommen zu lassen. Man begreift, daß bei so vielen anziehenden Eigenschaften das feurige Herz der Prinzessin Pauline Borghese lichterloh für Herrn von Forbin brannte, und da dem Kaiser, der sehr darauf hielt, daß seine Familie in Bezug auf Sittlichkeit ein gutes Beispiel gebe, dies Verhältniß gar wenig gefiel, so durfte der Liebhaber seiner Schwester in Paris nicht bleiben, wo Napoleon Niemanden duldete, der vermessen genug war, seine Pläne zu durchkreuzen. Auch Herr von Norvins erschien, trotzdem er mit dem Pariser Polizeiministerium eng zusammenhing, fast jeden Abend in dem Salon der Madame Recamier, und zwar nicht, wie man glauben könnte, um als Spion die Geberden zu belauschen und das Gesprochene weiter zu berichten, sondern, weil er bei seiner französischen Natur durch die Reize dieses einzigen Salons unwiderstehlich angezogen wurde. Daß Herr von Norvins nicht gerade von rauher Gemüthsart war, hatte Madame Recamier Gelegenheit gehabt, gleich in den ersten Tagen ihres Aufenthaltes in Rom zu erfahren. Als sie nämlich am stillen Freitage in der Kirche dem berühmten Miserere von Allegri voll Rührung lauschte, und ihre andächtige Seele durch die erhabenen Klänge zum Himmel emporgetragen ward, da fühlte sie sich durch ein heftiges Schluchzen in ihrer unmittelbaren Nähe wieder zur Erde zurückgerissen. Das Schluchzen war so anhaltend und ward von so qualvollen, der tiefsten Brust sich entringenden, Seufzern begleitet, daß Madame Recamier nicht umhin konnte, einen neugierigen Blick nach der Stelle zu werfen, wo eine zerknirschte Menschenseele alles, was sie bis dahin belastet hatte, ausströmte in Weinen und Wimmern. Obgleich nun Madame Recamier schon viel Merkwürdiges erlebt hatte, so war sie doch nicht wenig erstaunt, in dieser so zerknirschten, an Seufzern und Thränen einen anscheinend unerschöpflichen Vorrath besitzenden, menschlichen Creatur den Polizeiherrn Rom's, Herrn von Norvins, zu erkennen. Für Madame Recamier schien demnach der Spruch nicht gelten zu sollen, daß es nichts Neues unter der Sonne gebe. Sie hatte in Lyon eine Schwiegermutter, die Herzogin von Luynes, kennen lernen, die ihre Schwiegertochter, die Herzogin von Chevreuse, vergötterte; sie hatte ferner in derselben Stadt einen Bischof und einen Schauspieler auf das Freundlichste mit einander verkehren sehen, und jetzt in Rom hörte sie einen Mann der Polizei schluchzen und seufzen und stöhnen, daß es einen Stein erbarmen konnte.
Unter den römischen Bekanntschaften der Madame Recamier war Canova die für sie werthvollste. Obgleich sie keine besondere Empfehlung für ihn mitgebracht hatte, so besuchte sie doch gleich in den ersten Tagen ihres römischen Aufenthaltes die Werkstätte des berühmten Künstlers. Vermöge der liebenswürdigen Natur Canova's, war allen Fremden gestattet, die weiten Säle, in denen er seine Schätze ausgestellt hatte, zu besuchen und dort nach Gefallen zu verweilen; nur in sein Allerheiligstes, wo er schuf unter der Einwirkung der Gottheit, durfte kein profaner Blick dringen. Als Madame Recamier von dem vielen Herrlichen, was sie in den weiten Sälen bewundert hatte, sich endlich losreißen mußte, so ließ sie als Zeichen ihrer Hochschätzung dem Meister durch einen seiner Schüler ihren Namen melden. Sogleich kam Canova aus dem Allerheiligsten herausgestürzt und begrüßte die schöne Fremde in der kindlichen und dabei graziösen Weise, die den berühmten Künstler so anziehend machte. Canova war in seiner äußern Erscheinung überaus zart und mild, so daß die drei größten Bildhauer der neueren Zeit, Canova, Thorwaldsen und Rauch, zugleich drei der schönsten Männer Europa's waren. Es standen sich demnach in Madame Recamier und Canova zwei Menschenkinder gegenüber, die mit dem schönsten Aeußern das liebenswürdigste Innere verbanden. Canova forderte Madame Recamier auf, ihm in das Allerheiligste zu folgen. Als Beide in die Werkstätte traten, erhoben sich zwei Männer, um der schönen Fremden die ihr gebührende Höflichkeit zu erweisen. Es waren der Bruder und der Freund Canova's. Der Freund nannte sich Cancellieri und war ein verdienstlicher Alterthumsforscher.
In Canova und Madame Recamier begegneten sich zwei verwandte Geister. Sie gelangten demnach bald zu einem vertrauteren Gedankenaustausche. Noch an demselben Abende machte Canova in Begleitung seines zärtlich geliebten Bruders der schönen Frau seinen Gegenbesuch. Von da an verbrachte er jeden Abend im Salon der Madame Recamier. Er war meist einer der frühesten Ankömmlinge und zog sich gewöhnlich gegen zehn Uhr zurück. Madame Recamier ihrerseits besuchte ihn häufig in seiner Künstlerwerkstätte, und ihr Kommen war jedesmal ein Fest für ihn. Sie hatte das feinste Verständniß für sein Schaffen, und er besprach mit ihr seine künftigen Gebilde, die schon in seiner Einbildungskraft Form und Gestalt angenommen hatten, aber noch des Meißels bedurften, um für die Welt in die Erscheinung zu treten.
Auch der Abbé Canova, der wie ein Schatten seinem Bruder folgte, erschien regelmäßig am Abend bei Madame Recamier. Er war bedeutend jünger, als sein berühmter Bruder, und ebenfalls kein gewöhnlicher Mensch. Sehr unterrichtet und die Literatur im weitesten Umfange beherrschend, las er seinem Bruder die schönsten und ansprechendsten Stellen vor, denen er in den von ihm mit Eifer und Verständniß durchforschten Werken begegnet war. Auch handhabte er seine schöne Muttersprache mit großer Gewandtheit, und in Bezug auf Leichtigkeit im Reim war er ein italienischer Rückert. Demnach erhielt Madame Recamier an jedem Morgen ihres römischen Aufenthaltes zwei literarische Botschaften von Seiten der Brüder Canova. Der berühmte Bildhauer schrieb in zärtlichster Prosa, der Abbé sang, eine unermüdliche Lerche, an jedem Morgen sein Sonett, das er, zierlich abgeschrieben, übersandte » alla bellissima Giulietta.« Doch blieb der Abbé Canova trotz seines täglichen Sonetts ein bloßer Verehrer der schönen Julie, während der Bildhauer ihr Freund ward.
Hatte Madame Recamier demnach in Canova einen neuen Freund gewonnen, der an Innigkeit seiner Gefühle fast jener Dreizahl gleichkam, auf die wir ihre wahren Freunde beschränken zu müssen glaubten, war sie demnach in der ewigen Stadt durchaus nicht in liebeleerer Umgebung, so kam doch im Juli Ballanche, der seine Sehnsucht nach ihr nicht länger zu bezwingen vermocht, ihr nachgereist. Die Freude der Madame Recamier, diese kindlich reine und dabei geistig so bedeutende Persönlichkeit schneller wiederzusehen, als sie hatte hoffen dürfen, war groß und äußerte sich in einer Weise, die den bescheidenen Ankömmling zu dem seligsten Menschen machte. Madame Recamier wollte ihm gleich am ersten Abende die ewige Stadt in ihren bedeutendsten Denkmalen zeigen. Sie bestieg deshalb mit ihm und den in ihrem Salon versammelten Gästen drei Fuhrwerke, die sie nach dem größten Amphitheater und der größten Kirche der Welt bringen sollten, nämlich nach dem Colosseum und nach St. Peter. Canova, gleich dem Fürsten Kaunitz vor Erkältungen die größte Angst habend, hüllte sich in einen weiten Mantel, dessen Kragen er in die Höhe zog. Trotz dieser Vorsichtsmaßregeln – und dabei erfreute man sich des schönsten Sommerabends – zitterte er bei dem Gedanken, daß er sich erkälten könne. Er äußerte gegen seine Nachbarn im Wagen, daß es doch eine sonderbare Laune der sonst unvergleichlichen Französin sei, so in der Abendluft umherzufahren. Einzig seine Liebe und Verehrung für Madame Recamier hatten ihn vermocht, etwas so sehr seinen Lebensgewohnheiten Widersprechendes zu ertragen. Denn von Vergnügen konnte bei seiner Aengstlichkeit nicht die Rede sein. Desto größer war die Wonne des guten Ballanche, der neben Madame Recamier im Wagen saß und auf die Merkwürdigkeiten Roms von ihr aufmerksam gemacht wurde. Plötzlich bemerkte Madame Recamier, daß ihr Freund gar keinen Hut aufhatte. »Aber, Herr Ballanche, wo ließen Sie Ihren Hut?« fragte sie ihn ganz erstaunt. »O,« rief er lächelnd, »der blieb in Alessandria.«
So war es in der That: Ballanche hatte seinen Hut in Alessandria vergessen; aber er, so ganz erfüllt von Seligkeit, Madame Recamier wiederzusehen, wußte gar nicht, daß ihm die Kopfbedeckung fehlte. Dies ist ein neuer Beweis, daß wir in unserm Vergleiche Ballanche's und Neander's vollkommen Recht hatten. Bei beiden herrlichen Männern war das Seelen- und Geistesleben in so hohem Grade überwiegend, daß der Körper dem gegenüber fast alle seine Rechte verlor.
Ballanche, durch die Pflicht zu seinem alten Vater nach Lyon zurückgerufen, mußte nach einem kurzen, köstlichen Aufenthalte von Rom und Derjenigen scheiden, die ihm nach Gott und seinem Erzeuger am theuersten war.
Außer Canova besuchte Madame Recamier noch einen andern Herrn in Rom, und durfte dies, da er dreiundachtzig Jahre alt war und auch zur Künstlergemeinde gehörte, die den Freipaß hat, mit den Frauen in vertrauter, familienhafter Weise zu verkehren. Dieser Greis war der Herr von Agincourt, zwar keine Kunstwerke schaffend, aber dieselben, gleich Winckelmann, mit dem feinsten Verständnisse begreifend und ihre Schönheiten dem minder geweihten Blicke offenbarend. Er verweilte seit dem Jahre 1779 in Italien. Zuerst wollte er nur einige Wochen in Italien bleiben, aber bald hatten ihn die Kunstwerke so gefesselt, daß er, gleich Winckelmann, nicht mehr in seine Heimath zurückkehren mochte. Während seines langen Verweilens in Rom, vollendete er ein Werk, das ihm in der Kunstwelt einen bedeutenden Namen verschaffte, so daß er den römischen Berühmtheiten zugezählt wurde. Da er nun das überaus feine und artige Benehmen hatte, wodurch der französische Adel sich vor dem Ausbruche der Revolution auszeichnete, und mit reichem Geiste ein warmes Herz verband, so war er eine höchst anziehende Greisenerscheinung und verdiente die Besuche seiner schönen Landsmännin, deren körperliche und geistige Grazie ihn bezauberte.
Die Jahreszeit des Hochsommers, die den Aufenthalt in Rom für Fremde so gefährlich macht, war gekommen, und die Malaria wehte aus der Campagna, der geängstigten Stadt das Fieber bringend. Madame Recamier fühlte, wie ihre Körperkraft allmälig erschlaffte, und wie sie sicher krank werden würde, wenn sie der ungesunden Atmosphäre nicht entfliehe. Sie nahm deshalb mit Dank das Anerbieten Canova's an, seine Villa in Albano zu beziehen.