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In Lyon, der zweitgrößten Stadt Frankreichs, erblickte Julie Adelaide Bernard das Licht der Welt am 4. December 1777. Sie stammte aus einer wohlhabenden und angesehenen Bürgerfamilie. Ihr Vater war Notar und ausgezeichnet durch eine seltene Körperschönheit, die sich auf seine Tochter vererbte. Wenn ihr späterer Freund Chateaubriand sie die Schönste der Französinnen nannte, so ist gegen diese Behauptung niemals ein Widerspruch erhoben worden. Auch die Mutter Juliens, eine geborene Matton und mit ihr denselben Vornamen führend, hatte ein sehr hübsches und gefälliges Aeußere. Julie erfreute sich demnach eines auffallend schönen Vaters und einer reizenden Mutter, so daß man von dem Kinde schon etwas erwarten durfte. Wir erwähnten bereits, daß sie ihren Eltern Ehre machte. Gleich diesen blieb sie auch von den Entstellungen des Alters verschont und bewahrte ihre Schönheit trotz der dahinrollenden und sonst so vieles mitfortnehmenden Jahre. Wenn Herr Bernard nicht viel Klugheit zu vererben hatte, weil er selbst hiervon nur wenig besaß, – es bestätigte sich an ihm der Satz, daß schöne Männer meist nicht gerade die klügsten sind – so traf es sich sehr günstig, daß Juliens Mutter nicht bloß eine anmuthige Erscheinung, sondern auch eine Frau von Geist war, die sich auf die Angelegenheiten der Welt und ihre eigenen sehr gut verstand. Zum Glück erbte Julie von ihrer Mutter den hellen Geist, wie von ihrem Vater die große Schönheit, so daß sie in doppelter Hinsicht vortrefflich ausgestattet war.
Julie blieb in Lyon nur bis zu ihrem sechsten Lebensjahre. Ihr Vater erhielt nämlich durch Herrn von Calonne berüchtigten Andenkens eine Anstellung beim Finanzministerium und begab sich deshalb nach Paris. Da die Eltern meinten, daß die große Stadt auf die körperliche Entwickelung ihrer Tochter nicht günstig wirken werde, so nahmen sie diese vorläufig nicht mit nach Paris, sondern vertrauten sie einer nahen, in der kleinen Stadt Villefranche wohnenden Verwandten an. Diese Verwandte hieß Madame Blachette und war die Muhme Juliens, nämlich die Schwester ihrer Mutter. Hier verlebte Julie eine sehr glückliche Zeit, so daß sie in ihrem spätern so glänzenden und bewegten Dasein gern an Villefranche zurückdachte. In dieser kleinen Stadt, wo sie sich ungehindert mit den Kindern ihres Alters umhertummeln konnte, fand sie den ersten ihrer zahlreichen Anbeter. Es war ein Knabe, Renaud Humblot mit Namen, nicht viel älter, als sie, der an der schönen Lyoneserin mit schwärmerischer Zuneigung hing.
Nachdem Julie in Villefranche einige Monate sehr glücklich verlebt hatte, ward sie nach französischer Sitte einem Kloster übergeben, um dort ihre weitere Ausbildung zu empfangen. Da eine zweite Schwester ihrer Mutter sich in einem Kloster zu Lyon als Nonne befand, so ward begreiflicher Weise dies vorzugsweise gewählt, und Julie kehrte demnach für einige Zeit in ihre Vaterstadt zurück. Das Kloster lag in sehr schöner Gegend, und Julie fühlte sich dort bald heimisch. Als man sie nun dem Klosterleben nach nur kurzem Verweilen wieder entriß, um sie zu ihren Eltern nach Paris zu bringen, so schied sie unter Thränen von dem stillen Orte, wo sie sich vollkommen glücklich gefühlt hatte. Doch die Eltern hatten nicht länger von ihrem einzigen heißgeliebten Kinde getrennt leben mögen. Dieselben waren in der rue des Saints-Pères, 13, sehr hübsch und wohnlich eingerichtet. Ein Herr Simonard, der Busenfreund ihres Vaters, bewohnte mit ihm dasselbe Haus und war auch zugleich sein Tischgenosse, da ihm, dem Wittwer, das enge Zusammenleben mit der Bernard'schen Familie weit mehr zusagte, als sich mit den Unbequemlichkeiten einer eigenen Wirthschaft herumzuplagen. Dieser Herr Simonard hatte nun einen Sohn, der mit Julien von fast gleichem Alter war. Nichts natürlicher demnach, als daß die beiden Kinder unzertrennliche Spielgefährten wurden. Sie tummelten sich bei schönem Wetter stundenlang in dem Garten umher, der an das von ihren Eltern bewohnte Haus stieß, und wo sie ja inmitten der großen Stadt am besten und sichersten aufgehoben waren. Dieser Garten grenzte an einen andern, von dem er durch eine dicke Mauer getrennt ward, die oben abgeplattet war, so daß, wenn man sich hinaufgeschwungen und noch keinen allzu stattlichen Körperumfang hatte, man sich dort ganz frei und behaglich bewegen konnte. Daß die Höhe und der dortige Aufenthalt, als mit etwas Gefahr verbunden, die Kinder anlockte, versteht sich von selbst. Doch nicht bloß, daß die beiden Kinder auf der hohen Mauer saßen, standen und gingen, nein, der junge Simonard brachte auch eine Schubkarre hinauf, in die sich seine reizende Spielgefährtin setzen mußte, um von ihm in tollem Uebermuthe auf- und niedergefahren zu werden. Bei der Höhe der Mauer und bei der Unbesonnenheit der Kinder war es ein großes Glück, daß Beide nicht hinabstürzten und sich den Hals brachen. Doch außer den Fahrten in der Schubkarre lockte noch etwas Anderes die beiden Kinder auf die hohe Mauer. In dem nachbarlichen Garten befanden sich nämlich die schönsten Weintrauben, die man, sich von der Mauer ein kleinwenig niederbiegend, ganz bequem pflücken konnte. Julie war allerdings zu ängstlich, vielleicht auch zu gewissenhaft, um die ihr nicht gehörenden Trauben selbst zu pflücken. Sie stand aber als Schildwacht hoch auf der Mauer und spähte scharfen Auges in den nachbarlichen Garten, um dem jungen Simonard, der für sie und sich die schönsten Trauben pflückte, sofort ein Zeichen zu geben, falls seine Arbeit, die nicht gut anderweitige Zeugen vertrug, unterbrochen werden mußte.
Der Eigenthümer der schönen Weintrauben war schon seit längerer Zeit gewahr geworden, daß unbefugte Hände sich an seinem Besitzthum vergriffen. Er war deshalb häufig auf der Lauer, um den Thätern auf die Spur zu kommen. Bei der großen Vorsicht der Kinder hatte er wiederholt den Späher abgegeben, ohne je eine raubende Hand gewahr zu werden. So hatte er nicht bloß den Verdruß, fast an jedem neuen Tage eine oder die andere schöne Traube entwendet zu sehen, sondern auch das niederschlagende Bewußtsein, stets vergeblich zu lauschen und zu lauern, ohne je an dem Thäter seine Wuth auslassen zu können. Doch, wie gemeiniglich im Leben reichlicher Verdruß durch sparsame Genugthuung sich abgelöst findet, so hatte der schon lange vergeblich Spähende zuletzt doch noch die Freude, die Ursache seines Aergers sich in Fleisch und Blut gegenüber zu sehen. Er hatte sich nämlich eines Tages so gut versteckt, daß der junge Simonard, als er wieder mit seiner kleinen Freundin Julie auf der Mauer, erschien, sich ganz sicher glaubte und wohlgemuth seiner lieblichen Gefährtin eine herrliche Traube abpflückte, um darauf eine zweite für sich zu ergattern. Da konnte der hinter einer Hecke verborgene Eigenthümer der Weintrauben nicht länger an sich halten, sondern stürzte mit drohend geschwungenen Armen hervor und rief dem jungen Simonard mit donnernder Stimme zu: »Erwische ich also endlich den Dieb!« Der junge Simonard ließ sich eiligst von der Mauer in den Bernard'schen Garten hinabgleiten, während Julie, die ihm so schnell nicht zu folgen vermochte, bleich und zu Tode erschreckt auf ihrer Stelle wie angewurzelt stehen blieb. Da hatte sie zum ersten Male Gelegenheit, die Allgewalt seltener Schönheit kennen zu lernen. Der Eigenthümer der Weintrauben, der wie ein Rasender gegen die Mauer gestürzt war, fühlte nämlich seinen Zorn alsobald schwinden, als er, näher gekommen, die lieblichen Züge des beschämt dastehenden Kindes genauer unterscheiden konnte. Er mußte sich eingestehen, noch nie ein so reizendes kleines Wesen gesehen zu haben. Schnell machten die Worte des Zorns freundlicher und ermunternder Rede Platz, die damit schloß, daß ihre Eltern kein Wort von diesem Vorfälle durch ihn erfahren sollten. Was er versprochen, hielt er treulich. Natürlich waren Julie und der junge Simonard zu anständig, um je wieder auf der Mauer zu erscheinen.
Wenn bei der kleinen Unrechtfertigkeit mit den Weintrauben die große Schönheit Juliens ihr einen Freibrief ausstellte, so hatte der im Allgemeinen beneidenswerthe Vorzug ihres seltenen Liebreizes doch auch seine kleinen Unannehmlichkeiten im Gefolge, wie denn jedes irdische Ding seine Kehrseite hat. Die Mutter Juliens nämlich, die, wie wir bereits erwähnten, sich eines sehr hübschen Aeußern erfreute, war zuerst nicht wenig eitel auf sich selbst, weshalb sie ihrem Anzuge viel Mühe und Zeit widmete; noch eitler aber war sie auf ihr wunderschönes Kind, das allenthalben, wo es erschien, Aufsehn erregte. Die eitle Mutter vervielfältigte demnach die Gelegenheiten, sich mit ihrer Tochter öffentlich zu zeigen und den ihr so süßen Weihrauch einzuathmen. Da Madame Bernard vielen Geschmack hatte, so waren sie, wie ihre Tochter, stets auf's passendste und für die Erhöhung ihrer Reize wirksamste gekleidet. Aber dieses Anziehen nahm eine beträchtliche Zeit weg, und hierfür fehlte Julien die Geduld. Da sie eigentlich Eitelkeit nie kannte, so hätte sie tausendmal lieber im Garten gespielt und wäre an den öffentlichen Orten, wohin sie ihre Mutter begleiten mußte, gern in weniger geschmackvollem Anzuge erschienen.
Bei den mannigfaltigen Ausflügen, die Madame Bernard mit ihrer schönen Tochter unternahm, kam sie auch eines Tages nach Versailles. Dort wußte sie sich die Erlaubniß zu erwirken, die königliche Familie tafeln zu sehen. Die alte Gewohnheit der französischen Könige, von Zeit zu Zeit in Gegenwart einer größeren Anzahl nicht hoffähiger Personen ein feierliches Mittagsmahl einzunehmen, bestand bis zur französischen Revolution. So sahen denn Madame Bernard und Julie, untermischt mit einem sehr gut gekleideten, aber nicht gerade vornehmen Publikum, in einem prächtigen Saale den guten Ludwig XVI., die schöne Marie-Antoinette nebst andern Mitgliedern des Königshauses, sowie einen glänzenden Hofstaat, an einer reichgeschmückten Tafel sitzen und so harmlos speisen, als ob sie sich in engem Familienkreise befänden. Damals schwebte der gute König noch in dem Wahne, als ob die Franzosen ihn als ihren Vater und seine Kinder als die Kinder Frankreichs betrachteten. Und bei dem an diesem Tage zuschauenden bürgerlichen Publikum waren ähnliche Gefühle aller Vermuthung nach auch vorhanden. Wenigstens Madame Bernard war gut königlich gesinnt, und nicht minder ihr Mann, so daß Julie in royalistischer Luft groß wurde und die Gesinnungen ihrer Eltern theilte. Als sie nun bei ihrer Mutter stand und mit leuchtenden Blicken auf die glänzende Tafel und das Königspaar hinsah, – sie war der festlichen Veranlassung gemäß sehr geschmackvoll gekleidet – da erregte sie bald die Aufmerksamkeit der ganzen Hofgesellschaft, und auch Marie-Antoinette wurde gefragt, ob sie nicht dem reizenden Kinde dort im Hintergrunde des Saales einen Blick schenken wolle. Die schöne Königin brauchte ihr Auge nicht neidisch vor fremdem Liebreize zu verschließen. Schnell forschte sie demnach mit dem Blicke in der bezeichneten Richtung und äußerte nach kurzer Prüfung, daß sie niemals ein so schönes Kind gesehen habe. Natürlich wünschte die Königin, so seltenen Liebreizes sich in unmittelbarer Nähe zu erfreuen. Beim Aufstehen von der Tafel entsandte sie deshalb eine ihrer Hofdamen an Madame Bernard mit der Bitte, ob sie nicht gestatten wolle, daß ihr holdes Kind für einige Augenblicke der königlichen Familie in ihre Gemächer folge. Madame Bernard, den höchsten mütterlichen Triumph kostend, den sie bis dahin genossen hatte, gewährte die Erlaubniß in der liebenswürdigsten Weise, mit Worten der Verehrung für die erhabene Königin. Als Julie an der Hand der Hofdame in das Zimmer der Königin trat, ward sie von dieser auf das leutseligste begrüßt und neben Madame Royale gestellt, um mit dieser gemessen zu werden. Julie überragte die Tochter der Königin, was nicht zu verwundern, da sie zwei Jahre mehr zählte. Madame Royale war ebenfalls ein schönes Kind, obgleich ihr der Liebreiz fehlte, durch den Julie alles bezauberte. Da die Königstochter schon damals jenen Stolz verrieth, den sie weder von ihrem Vater, noch von ihrer Mutter geerbt hatte, so schien ihr das Gemessenwerden mit einem bürgerlichen Kinde durchaus nicht zu gefallen.
Julie ward von Marie-Antoinette in zärtlich-huldvoller Weise entlassen und dann durch dieselbe Hofdame, die sie geholt hatte, ihrer mit stolzer Freude erfüllten Mutter wieder zugeführt.