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Als Madame Recamier mit ihrer Ordnungs- und Verschönerungsliebe den für sie im Gasthofe vorher bestellten Zimmern ein wohnlicheres und anziehenderes Aussehn gegeben hatte – da überall, wo sie erschien, Personen sich hinzudrängten, um von ihr empfangen zu werden, so mußte sie stets einen geschmackvollen Rahmen herstellen, aus dem das von Allen bewunderte Bild vortheilhaft herausleuchten konnte – als Madame Recamier eben mit einer Art von Befriedigung über die von ihr umgeschaffenen Räume im Hôtel de la Grande-Bretagne den Blick gleiten ließ, ward ihr ein Edelknabe der Königin gemeldet. Er brachte Grüße von seiner erhabenen Herrin, sowie den Ausdruck ihrer Freude, daß Madame Recamier ihre Reise ohne irgend eine Gefährdung zurückgelegt habe. Dann sprach er im Namen des Königs, wie der Königin, den Wunsch aus, Madame Recamier bald im Palaste erscheinen zu sehen. Als der Edelknabe seine Bestellung ausgerichtet, winkte er nach dem Gange hinaus, und reichbetreßte Diener näherten sich, die einen riesigen, mit den wundervollsten Blumen gezierten Korb hineintrugen, als Geschenk der Königin für Madame Recamier. Ein zweiter Korb enthielt die köstlichsten, saftigsten Früchte. Letzteres Geschenk ward besonders von der kleinen Adoptivtochter der Madame Recamier geschätzt, die mit kindlicher Unbefangenheit und französischer Lebhaftigkeit den Wunsch äußerte, der huldvollen Königin sogleich ihren Dank abzustatten.
Am folgenden Tage begab sich Madame Recamier in den Palast und ward von dem Königspaare mit größter Auszeichnung und freundschaftlicher Hochachtung empfangen.
Wir haben früher gesehen, wie Caroline Murat der Madame Recamier eine zärtliche Freundschaft bewies; es ist demnach nicht zu verwundern, daß sie jetzt, wo ihr als Königin so viele Mittel zu Gebote standen, von ihrer Zuneigung glänzende Proben abzulegen, daß sie jetzt sich überaus liebenswürdig bezeigte. Und die Königin Caroline verstand es durchaus, liebenswürdig zu sein, wenn sie wollte und einen Menschen ihrer Aufmerksamkeiten werth fand. Madame Recamier war nun in ihren Augen eine Persönlichkeit, deren Herz gewonnen zu haben mit Götterlust erfüllen mußte. Daß Madame Recamier dem Kaiser gegenüber eine so edle, würdevolle Stellung behauptete, hob sie noch in den Augen der Königin Caroline, die bei eigenem stolzen Charakter kriechende Menschen verachtete. Ueberdies waren die Königin und ihr Gemahl – da Murat ganz von der charaktervollen Caroline gelenkt ward, so entspricht es genau der Sachlage, wenn wir ihren Namen voranstellen – überdies waren die Königin und ihr Gemahl, gerade als Madame Recamier bei ihnen eintraf, in den eifrigsten Unterhandlungen mit England und Oestreich begriffen und nahe daran, dem allgemeinen Bunde gegen Napoleon beizutreten; demnach war eine Rücksicht auf den Kaiser nicht mehr geboten. So ward Madame Recamier von Seiten Murat's und seiner Gemahlin mit Artigkeiten und Aufmerksamkeiten förmlich überschüttet. Man gab ihr die glänzendsten Feste, wo die Königin Caroline, eine zu kluge Frau, um einer oft sinnlosen Etikette Rechte zuzugestehen gegenüber den sichtbarsten Vorschriften der Gottheit, wo die Königin Caroline ihrer Freundin, weil sie die schönste und eleganteste Dame im weiten Kreise war, stets den ersten Rang anwies. Madame Recamier, seit Jahren gewohnt, daß ihr wegen ihrer Schönheit und Liebenswürdigkeit die höchsten Ehren erwiesen wurden, war durchaus gleichgültig gegen diese Auszeichnung, ja, bei ihrer großen Gutmüthigkeit that es ihr leid, wenn die hochbetitelten Frauen am neapolitanischen Hofe sich durch den ihr gewährten Vorrang gedemüthigt glaubten, während sie sich durch denselben nicht im Mindesten gehoben fühlte. Sie hatte ja durch ihr beharrliches Verschmähen, eine Palastdame in den Tuilerien abzugeben, deutlich genug gezeigt, daß sie an Höfen keine Rolle zu spielen gedenke. Wer, wie sie, das Scepter in dem Salon einer Hauptstadt führte, die nur vor höchster Anmuth des Geistes und des Körpers sich willig beugte, während sie jeder, auf bloßes Scheinverdienst und zufällige Geburt gegründeten, Anmaßung Spott und Hohn entgegensetzte, wer die unumschränkte Königin des Pariser Salons war, durfte zu einer abhängigen Lage am Hofe nicht herabsteigen. Madame Recamier hätte demnach sämmtlichen hochbetitelten Frauen am neapolitanischen Hofe gern den Platz vor ihr gegönnt; doch die Königin Caroline wollte durchaus, daß der personificirten Schönheit und Anmuth die ihr gebührenden Ehren erwiesen würden.
Bald nach ihrer Ankunft in Neapel, ward der Madame Recamier der Graf Neipperg vorgestellt, der später als zweiter Gemahl Marie-Louisens die Beachtung der Welt auf sich zog. Der Graf Neipperg war einäugig; doch hinderte dies ihn nicht, auf die Damen den vorteilhaftesten Eindruck hervorzubringen. Denn er hatte ein sehr feines Benehmen und unterhielt sich vortrefflich. Dabei schwärmte er für Musik und leistete in dieser, vor allem zum Herzen dringenden, Kunst für einen Dilettanten und Krieger ganz Erstaunliches. Es begreift sich demnach, daß ihm das schöne Geschlecht trotz seiner Einäugigkeit sehr gewogen war. Da er von der zärtlichen Zuneigung, die zwischen Madame Recamier und Frau von Staël bestand, unterrichtet war und aus der Unterhaltung mit der schönen Französin wußte, wie sehr es diese ängstigte, von ihrer Freundin seit langem keine Nachrichten zu haben, so beeilte er sich, ihr über dieselbe etwas Bestimmteres mitzutheilen, als er dies nach neuen, aus Wien erhaltenen, Depeschen zu thun vermochte. Er erbat deshalb von Madame Recamier die Erlaubniß, ihr aufwarten zu dürfen. Man konnte ihm nicht verdenken, daß er als Dank für die angenehme Botschaft sich den Anblick der holden Frau verschaffen wollte. Die Zeilen, in denen er bei Madame Recamier bat kommen zu dürfen, lauteten:
»Neapel, den 3. Januar 1814.
Der General Graf von Neipperg, indem er der Madame Recamier seine ehrerbietige Huldigung zu Füßen legt, wagt um die Erlaubniß zu bitten, sich ihr vorstellen zu dürfen; er hat vor kurzem Nachrichten in Betreff der Frau von Staël empfangen.«
Graf Neipperg kam seitdem häufig zu Madame Recamier und verbrachte in ihrem Salon die Abende, die nicht durch Festlichkeiten bei Hofe ausgefüllt wurden. Auch der französische Gesandte, Herr Durand von Mareuil, zeigte sich viel bei Madame Recamier. Es braucht nicht weiter geschildert zu werden, daß er auf den Grafen Neipperg das wachsamste Auge gerichtet hielt. Wußte er doch, daß der österreichische Abgesandte von seinem Hofe den Auftrag hatte, den König von Neapel für ein Bündniß gegen Napoleon zu gewinnen. So wurden unter den Augen der Madame Recamier häufig die Fäden geschürzt zu den wichtigsten politischen Combinationen. Denn der verhängnißvolle Schritt des neapolitanischen Hofes vollzog sich nicht bloß in ihrer unmittelbaren Nähe, sondern sie ward auch direct an ihm betheiligt, indem sowol der König, wie die Königin, gegen sie ihr beklommenes Herz ausschütteten.
Um die innere Unruhe zu übertäuben, die der beabsichtigte Abfall von Napoleon in der Brust des Murat'schen Ehepaars erzeugte, jagte ein Fest an dem Hofe zu Neapel das andere. Die Anwesenheit der zu feiernden Madame Recamier bot hierzu eine sehr willkommene Veranlassung. Da die Feste im Innern der Schlösser und Paläste meist auf dasselbe hinauslaufen und einen sehr gleichförmigen Charakter tragen, so wollen wir hier nur bei einer zu Ehren der Madame Recamier in Pompeji vorgenommenen Ausgrabung etwas länger verweilen. Der König Joachim, der wußte, daß Madame Recamier für Kunst und Wissenschaft auf jedem Gebiete und zu jedem Zeitalter eine stets gleiche Theilnahme bekundete, und der für die Ausgrabungen zu Pompeji viel thätiger war, als vor ihm die frömmelnden und schläfrigen Bourbonen, der König Joachim wollte seiner schönen Landsmännin die wieder an das Tageslicht beförderten Straßen, Häuser und Geräthe einer seit Jahrhunderten unter Asche und Lava begrabenen Stadt zeigen, einer Stadt, die so viel Zierliches und Anmuthiges darbot, daß sie es wol verdiente, von den Augen einer anmuthigen Frau betrachtet zu werden. Außer Madame Recamier, befanden sich alle Gesandten und viele Fremde von Auszeichnung, so auch der Prinz von Rohan-Chabot, unter den Eingeladenen. Die Ausgrabung ward unter der Leitung der Herren von Clarac und Mazois vorgenommen, die für dies Fach tüchtigste Alterthumskenntniß und häufige Uebung sehr geeignet machte. War der Fund auch kein gerade ergiebiger, so wurden doch einige, durch reizende Formen ausgezeichnete, Bronzegefäße an's Tageslicht befördert. Hierauf ward ein Frühstück eingenommen, das für den, zu vielem Essen nicht auffordernden Süden vielleicht zu reichhaltig gewesen wäre, hätte man sich nicht in einem Wintermonate befunden, und hätte das mehrstündige Umherwandern nicht Appetit erweckt.
Doch der Augenblick, so sehr Murat ihm auch noch auszuweichen suchte, nahte heran, wo er sich für Napoleon oder die Verbündeten entscheiden mußte. Sein Volk verlangte laut den Frieden und war der ewigen Kriege überdrüssig. Man konnte nun sagen, daß die Pflichten gegen sein Volk schwerer in die Wagschale fallen mußten, als die Dankbarkeit gegen Napoleon. Und dann machte es Napoleon den von ihm geschaffenen Herrschern unendlich schwer, in der Dankbarkeit zu beharren. Waren sie einmal Könige, so brauchten sie sich nicht als Bedienten behandeln zu lassen, und waren sie gewissenhafte Könige, so mußte das Heil des ihnen anvertrauten Landes allem Uebrigen vorangehen. Nun war Murat ein sehr gutmüthiger Mensch und erstrebte von ganzem Herzen das Glück seines Volkes. Deshalb war er auch in Neapel sehr beliebt. Schon als Großherzog von Berg hatte er sich die Zuneigung seiner deutschen Unterthanen zu gewinnen gewußt. Wenn damals Franzosen in seinem rheinischen Ländchen sich Uebergriffe erlauben und das Volk aussaugen wollten, so erklärte er ernstlich, daß ein deutscher Reichsfürst dergleichen nicht dulden dürfe. Ebenso gab er sich in Neapel redliche Mühe, für Schulen und Aufklärung zu sorgen, während die Bourbonen sich stets mit dem Klerus verbündet hatten, um das Volk im Aberglauben zu erhalten. Wenn nun Murat in Neapel die französischen Interessen nicht über das Wohl seines Volkes stellte, so handelte er wie ein gewissenhafter Herrscher. Napoleon sah dies freilich mit ganz andern Augen an und erblickte in ihm einen unbotmäßigen Vasallen, dem man den Fuß auf den Nacken setzen müsse. Als nun Murat nach der Schlacht von Leipzig in dringlichster Weise zum Frieden rieth, so betrachtete Napoleon diese, von der seinigen abweichende, Meinung als eine Frechheit und würdigte die Briefe seines Schwagers gar keiner Antwort. Man konnte es demnach dem so gereizten und überdies durch die Rathschläge seiner, ihn beherrschenden, Gemahlin zu einem Eintritte in die Coalition gedrängten Murat nicht verdenken, wenn er sich endlich zu der Unterzeichnung eines Bündnisses entschloß, das ihm den ruhigen Fortbesitz seiner Macht verbürgte. Er unterzeichnete demnach am 11. Januar 1814 das Friedensinstrument mit England und Oesterreich.
Als der Tag gekommen war, wo die von Murat vorgenommene Schwenkung dem Volke verkündet werden sollte, befand sich Madame Recamier gerade zum Besuche bei der Königin Caroline. Die beiden Frauen waren allein und hatten bisher nicht von dem Gegenstande gesprochen, der in vielen frühern Unterhaltungen berührt, aber nicht zu einem befriedigenden Abschlusse gebracht worden. Denn Madame Recamier war vor allem Französin und konnte es nicht verstehen, was die Königin Caroline ihr unter Thränen und Seufzern begreiflich zu machen suchte, wie sie um ihres Gemahls und ihrer Kinder willen sich zu einem schweren Opfer entschließen und von ihrem Bruder abfallen müsse. Da sie nun von Madame Recamier keine Zustimmung für ihre Handlungsweise erlangen konnte, so hatte sie in der letzten Zeit vermieden, mit ihr über einen Gegenstand zu sprechen, in Betreff dessen eine Uebereinstimmung sich nicht ergeben wollte. Die beiden Frauen hatten demnach, wie gesagt, am heutigen Morgen sich nicht über Politik unterhalten, sondern sich auf Feldern bewegt, wo sie schwesterlich Hand in Hand miteinander zu wandeln vermochten. Jetzt öffnete sich plötzlich die Thür, und der König trat ein, bleich und in höchster Erregung. Er näherte sich sogleich der Madame Recamier und setzte dieser die ganze Sachlage, wenngleich mit bebender Brust und fliegendem Athem, doch sehr klar auseinander. Indem er Madame Recamier mit seinen feurigen, blauen Augen fest anblickte, fragte er sie, ob sie seinen Entschluß nicht durchaus billigen müsse. Er hoffte, in Madame Recamier keine Fürsprecherin Napoleon's zu finden, da sie unter dessen harten Maßregeln seit Jahren zu leiden hatte. Doch jetzt zeigte sich Madame Recamier wieder in dem schönen Glanze ihrer gänzlichen Selbstlosigkeit. Der Sturz Napoleon's erschloß ihr Paris und gab ihr tausend Annehmlichkeiten und Lebensgewohnheiten zurück, die sie seit Jahren schmerzlich entbehrt hatte; aber sie dachte keinen Augenblick an sich, sondern nur an ihr Vaterland. Mochte sie auch noch länger in der Verbannung umherirren, wenn nur Frankreich nicht besiegt war. Sie erhob sich demnach in höchster Erregung, und ihr schönes Auge, in dem eine Thräne schimmerte, zum Könige aufschlagend, sprach sie: »Sire, Sie sind Franzose. Deshalb müssen Sie Frankreich treu bleiben!«
Wenn Madame Recamier durch ihren vertrauten Umgang mit den angesehensten und höchsten Personen vielem Bedeutenden beiwohnte, sei es, daß es während ihrer Anwesenheit in die Erscheinung trat, sei es, daß sie zu den Berathungen hinzugezogen wurde, so bieten sich demgemäß aus ihrem Leben viele Tableaux dar, die es wol verdienten, durch Künstlerhand dargestellt und verewigt zu werden. Und diese eben geschilderte Scene zwischen dem Könige und der Madame Recamier, bei der die Königin sich mehr schweigend verhielt, gehört zu denen, die einem Maler einen dankbaren Vorwurf darböten. Der Schauplatz ist ein Gemach im königlichen Palaste zu Neapel, dessen Balcon geöffnet ist, und über den man hinwegblickt auf den tiefblauen Himmel und das ebenso tiefblaue Meer, von der strahlendsten Sonne mit wunderbarem Glanze übergossen. In der Mitte des Zimmers steht mit schmerzlicher Aufregung in den Zügen der König Joachim. Sein lockiges, schwarzes Haar umrahmt sein heute so bleiches Antlitz, und seine sonst so feurigen, blauen Augen starren, ihres Glanzes beraubt, wie verstört, in's Weite. Aber sein hoher, athletischer Wuchs, sein prachtvoller, fast phantastischer Anzug, seine, trotz der über seine Züge ausgegossenen Trauer, höchst einnehmende Gesichtsbildung bewirken, daß der Blick gern ruhen bleibt auf dieser herrlichen Männergestalt. Und von ihm gleitet das Auge auf die in einem Sessel fast zusammengekauerte Königin. Ihr Antlitz hat einen stolzen und strengen Ausdruck. Die Königin, die ihren Thron für sich, die Mutter, die das Reich für ihre Kinder erhalten will, hat in ihrem Innern einen langen Kampf bestanden mit den Mahnungen der Dankbarkeit, die für den Bruder spricht, der sie zu dieser Höhe emporgehoben. Doch Stolz und Mutterliebe vereint haben über die Dankbarkeit der Schwester gesiegt; sie sträubt sich nicht mehr, ihren Gemahl zum Kampfe gegen den edlen Eugen Beauharnais, der seinem Kaiser treu geblieben, ausziehen zu sehen. Uebrigens ist die Königin, wenn der Ausdruck des Stolzes sie für den Augenblick nicht anziehend erscheinen läßt, doch im Allgemeinen eine schöne Frau. Reiches, braunes Haar schmückt ihr Haupt. Prächtige, braune Augen, die halb stolz, halb wollüstig blicken, ruhen unter schöngeschwungenen Brauen. Zwei Reihen prächtiger Zähne glänzen aus rothen Lippen hervor, um die in guten Stunden ein bezauberndes Lächeln schwebt. Ihre Gesichtsfarbe ist weiß, wie Alabaster, und die zierlichsten Hände und Füße vollenden das im Ganzen höchst anziehende Frauenbild. Dabei hat diese Königin viel Klugheit und Charakterstärke. Sie ist ganz eine italienische Schönheit, wie Madame Recamier den französischen Typus in seiner höchsten Vollendung darstellt.
Als Madame Recamier mit ihrer milden, süßen Stimme zu Murat sprach und ihn beschwor, Frankreich treu zu bleiben, ward er blaß wie der Tod, und sprach dumpf vor sich hin: »Also bin ich ein Verräther!« Dann blickte er auf das Meer, und plötzlich schoß helle Röthe in seine Wangen. Die englische Flotte mit schwellenden Segeln fuhr so eben in den Hafen von Neapel. Lauter Volksjubel scholl durch das geöffnete Fenster. Der König warf sich in heftiger Erregung auf ein Sopha, bedeckte sein Gesicht mit den Händen und brach in lautes Weinen aus. Die Königin, damit die Dienerschaft von dieser schmerzlichen Scene nichts erfahre, ging selbst in das Vorzimmer, um ihrem Gemahle ein Glas Wasser zu holen, in das sie Orangensaft preßte, und bat ihn, seiner Aufregung Herr zu werden.
Im Laufe des Tages zeigten sich König Joachim und Königin Caroline im offenen Wagen den Bewohnern ihrer Residenz und wurden vom Volke mit Jubel begrüßt. Nicht minder groß war die Begeisterung, als sie das Theater besuchten und den österreichischen außerordentlichen Gesandten und den englischen Admiral an ihrer Seite hatten. Bald darauf begab sich König Joachim ins Feldlager und übertrug seiner Gemahlin die Regentschaft.
Die Beziehungen zwischen der Königin Caroline und der Madame Recamier wurden mit jedem Tage inniger. An einem Morgen, wo die Königin sich noch nicht von ihrem Lager erhoben hatte, wurde Madame Recamier sofort empfangen, und nachdem die beiden Frauen ungefähr eine Viertelstunde geplaudert, ward der Justizminister gemeldet, der wegen einiger dringenden Sachen Vortrag zu halten wünschte. Die Königin befahl ihn vorzulassen. Als nun Madame Recamier sich zurückziehen wollte, so bat die Königin sie dringend zu bleiben. Der Vortrag werde nicht viel Zeit wegnehmen. Darauf erschien der Justizminister mit einer Mappe unter dem Arme, und Madame Recamier zog sich in eine Fensternische zurück, über die, wenn auch oft gesehene, doch stets aufs Neue entzückende Gegend träumerisch hinblickend. Da rief plötzlich die Königin: »Meine theure Madame Recamier, wie würden Sie unglücklich sein, wenn Sie an meiner Stelle wären; denn ich muß ein Todesurtheil unterzeichnen.« Sogleich erhob sich die schöne Frau mit dem milden Herzen, eilte zum Bette der Königin und rief mit beschwörender Stimme: »O, Madame, Sie werden nicht unterzeichnen! Da die Vorsehung mich gerade in diesem Augenblicke zu Ihnen führte, so war es offenbar ihre Absicht, daß der Unglückliche gerettet werden sollte.« Die Königin lächelte. Zu dem Minister, der hinter ihr stand, den Kopf umwendend, sagte sie: »Madame Recamier will nicht, daß der Unglückliche sterben soll; dürfte man ihn wol begnadigen?« Der Minister machte milder oder kluger Weise keine Einwendung, und so war der Unglückliche gerettet.
Madame Recamier hob dankend den Blick zum Himmel, daß es ihr vergönnt gewesen, einen Mitmenschen am Leben zu erhalten. Dies tröstete sie für den Mißerfolg jener frühern Fürbitte zu Gunsten des jungen Fischers von Albano.
Um den Ceremonien der heiligen Woche in Rom beizuwohnen, beendete Madame Recamier ihren Aufenthalt in Neapel. Die Königin Caroline sah sie sehr ungern scheiden und sprach die Hoffnung aus, daß sie bald zu ihr zurückkehren werde, um ihr bei so schwierigen Zeitläuften durch ihre holde Gegenwart über manche trübe Stunde hinwegzuhelfen.