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Die Erwerbung eines zweiten wahrhaften Freundes.

Wir haben die von Napoleon über Madame Recamier verhängte Verbannung keine Katastrophe genannt, weil durch sie nicht alles zusammenstürzte, was bisher fest gewesen war, und weil die einsamen und trüben Stunden, die sie fern von Paris verbrachte, ihr Seelencapital bereicherten. Schon deshalb durften wir die Zeit der Verbannung nicht als Katastrophe in dem Leben der Madame Recamier bezeichnen, weil sie in ihr den zweiten wahrhaften Freund gewann. Wir nehmen hier das Wort »Freund« in seiner allerhöchsten Auffassung, in seiner idealsten Bedeutung. Wollten wir die das Herz erweiternde Bezeichnung »Freund« schon für Menschen gelten lassen, die einem Andern die wärmste Theilnahme schenken, ihm gern zu Diensten bereit sind, an seiner Gegenwart sich erfreuen und über seine Abwesenheit sich betrüben, so hätte Madame Recamier an Freunden und Freundinnen eine Legion gezählt. Doch lassen wir hier das Wort »Freund« nur in seiner höchsten und idealsten Bedeutung gelten.

Einen Freund besitzen wir,

»wenn unsre Freude fremde Wangen röthet,
wenn unsre Angst in fremden Busen zittert,
wenn unsre Leiden fremde Augen wässern.«

Und weil Madame Recamier diesen Schatz während der Zeit ihrer Verbannung zu heben das Glück hatte – die meisten Menschenkinder gehen durchs Leben, ohne ihn jemals zu heben – deshalb ist jene Periode für sie mitnichten eine beklagenswerthe.

Durch Camille Jordan ward bei Madame Recamier Derjenige eingeführt; der neben Mathieu von Montmorency und Chateaubriand das Dreigestirn ihres Freundschaftshimmels bildet; wir sprechen von Ballanche.

Camille Jordan, der bei eigenem zartesten Gemüthe die feine Gemüthsart Anderer zu schätzen wußte, sprach zu Madame Recamier mit Begeisterung von seinem Freunde Ballanche. Er bat um die Erlaubniß, ihn bei ihr einführen zu dürfen. Diese Erlaubniß ward gern ertheilt. Doch war Camille Jordan durch seine Freundschaft für Ballanche keineswegs so verblendet, um nicht einzusehen, daß derselbe in seiner äußern Erscheinung durchaus nichts habe, um der gefeiertsten Dame von Paris, der Jahre hindurch von den elegantesten und hervorragendsten Männern gehuldigt worden, irgendwie gefallen zu können. Wäre Madame Recamier bloß eine Dame der großen Welt gewesen, so hätte Camille Jordan Anstand genommen, seinen Freund Ballanche ihrer ungünstigen Beurtheilung auszusetzen. Denn Ballanche hatte weder die Manieren des Salons, noch war seine körperliche Erscheinung vorteilhaft. Da aber Madame Recamier die feinste Fühlung für alles Schöne und Erhabene auf geistigem Gebiete hatte, so brachte er ihr, bevor er seinen Freund körperlich einführte, die von Letzterem geschriebenen »Fragmente.« Camille Jordan war überzeugt, daß, wenn Madame Recamier erst die schöne Seele des Schriftstellers bewundert, sie für sein unschönes Aeußere kein Auge mehr haben werde. Und so war es auch. Die geistvolle Frau versenkte sich mit theilnahmvollem Verständnisse in die vor kurzem erschienenen »Fragmente«, und da sie die Seele von Ballanche liebgewonnen hatte, so störte sie sein Körper nicht. Sie bemerkte kaum seine linkischen, verlegenen Bewegungen. Uebrigens hatte der Schmerz, sowol geistiger wie körperlicher, seinen brennenden Stempel dem armen Ballanche aufgedrückt, bevor er mit Madame Recamier bekannt ward. Er hatte unglücklich geliebt; er war von den entsetzlichsten körperlichen Schmerzen gefoltert worden. Camille Jordan erzählte der tiefempfindenden Madame Recamier von dem zweifachen Leide, das seinen Freund bei schon jungen Jahren heimgesucht hatte. So rief er bei der sympathischen Frau das wärmste Mitgefühl hervor, das, hinzutretend zu der Hochachtung, die sie für den begabten Schriftsteller empfand, ihm eine sehr schmeichelhafte Aufnahme bereitete. Madame Recamier erfuhr aus dem Berichte Camille Jordan's, daß Ballanche mit der heißen Gluth seines Jünglingsherzens ein Fräulein aus armer, aber vornehmer Familie geliebt habe. Der Vater dieses Fräuleins führte seit langer Zeit einen verwickelten Proceß, und von dem Ausgange desselben hing es ab, ob er ganz arm oder wohlhabend sein werde. Ballanche, um seiner Geliebten eine niederschmetternde Nachricht zu ersparen, hatte unter großen persönlichen Opfern der Gegenpartei Vorschläge gemacht, damit diese von ihrem vermeinten Rechte abstehe. Durch seinen milden Sinn und seine geistige Bedeutung hatte Ballanche bei längerem Verkehr den Vater seiner Geliebten so für sich eingenommen, daß dieser alle Vorurtheile gegen seine bürgerliche Geburt fahren ließ und ihn gern seinen Schwiegersohn genannt hätte. Doch die Tochter empfand für den unschönen Ballanche nicht das geringste zärtliche Gefühl, und so entsagte er mit blutendem Herzen ihrem heißersehnten Besitze.

Zu dieser Seelenqual hatte sich bei Ballanche anhaltendes körperliches Leid gesellt. Er ward von den furchtbarsten Kopfschmerzen heimgesucht und hatte das Unglück, in die Hand eines Quacksalbers zu fallen, der ihm die sichersten Versprechungen in Betreff gänzlicher Heilung mit jener ehrlichen Miene machte, über die Betrüger so häufig zum Schaden der Arglosen gebieten. Der Quacksalber rieb Ballanche mit einer Salbe ein, die zuletzt einen Knochenfraß im Kinnbacken zur Folge hatte. Nun ward natürlich ein tüchtiger Arzt zu Rathe gezogen, als es fast schon zu spät war. Vermittelst einer Operation mußte ein Theil des Kinnbackens herausgenommen werden, so daß hierdurch Ballanche im Gesicht eine bleibende Entstellung davontrug. Wenn man nun hinzunimmt, daß Ballanche, als der Sohn einer wohlhabenden Buchdruckerfamilie, mehr mit den mittlern Classen der Gesellschaft verkehrt und von dem Firniß des Salons nichts abbekommen hatte, so wird man zugeben, daß die Vorsicht Camille Jordan's keine überflüssige war, auf seinen Freund von Seiten des Geistes und Herzens so viel Licht fallen zu lassen, daß diese bleibenden, sich eher steigernden als mindernden, Eigenschaften gänzlich verdeckten den dunklen Kern seiner körperlichen Erscheinung.

Die schönen Augen der Madame Recamier strahlten demnach voll Wohlwollen und Hochachtung, als ihr Ballanche gemeldet ward.

Wie das Geistige des Menschen mehr im obern Theile des Gesichts zu Tage tritt, das Sinnliche dagegen mehr im untern Theile; wie die Römer als ein mehr sinnliches Volk das Antlitz nach dem Munde, die Deutschen bei ihrer idealen Richtung es nach den Augen bezeichnen (dort os, hier Gesicht), so war auch bei Ballanche, einem der gemüthvollsten, das Innere täglich schöner herausarbeitenden Menschen, das, worin das Ueberirdische seines Wesens zu Tage trat, von großer Anziehungskraft. Er hatte eine prachtvolle Stirn, wie Beethoven, und ein tiefinniges Auge, wie Tiedge. Ueberhaupt haftete ihm, bei dem Vorwalten des Innern über das Aeußere, viel Deutsches an, so daß, bei seinem häufigen gänzlichen Vergessen des Körperlichen gegenüber dem Geistigen, er an den Geschichtschreiber der protestantischen Kirche, an Neander, erinnert, der gleichfalls den gepflegtesten Geist in dem ungepflegtesten Körper beherbergte. Madame Recamier sah also, als Ballanche bei ihr eintrat, nichts von seiner linkischen Verbeugung, nichts von seiner wenig geschmackvollen Kleidung; ihr Auge haftete auf seiner Denkerstirn; ihre Seele grüßte in dem sanften, innigen Blicke, der ihr in's Herz glitt, etwas ihr Verwandtes, das sie anheimelte und sie in eine wohlthätige Atmosphäre versetzte. Wie Madame Recamier mit ihrem künstlerischen Auge in dem nach dem Urtheile gewöhnlicher Menschen häßlichen Ballanche unschwer das Schöne herausfand, so hat auch David d'Angers diesen Zügen nur ihren geistigen Adel entnommen und die zufällige körperliche Entstellung bei Seite gelassen. Da der Künstler die Natur idealisirt, ohne deshalb ihre Wesenheit gänzlich verändern zu dürfen, so hat David d'Angers den Kopf des edlen und zartfühlenden Ballanche durchaus ähnlich und doch voll anziehenden Reizes zu gestalten gewußt.

Ballanche, der sehr schüchtern an der Seite Camille Jordan's das Zimmer der gefeierten Schönheit betreten hatte, ward durch die Anmuth und die liebenswürdige Verbindlichkeit der Madame Recamier bald von aller Angst befreiet und athmete zum ersten Male im Leben jenen wunderbaren Hauch, der von einer Frau ausströmt, die Schönheit, Geist und Herzensgüte in einer Person vereinigt. Es war ihm deshalb viel zu früh, als Camille Jordan, die einer ersten Vorstellung gezogenen Grenzen berücksichtigend, zum Aufbruch mahnte. Madame Recamier forderte Ballanche bei'm Weggehen mit huldvollster Freundlichkeit auf, sie bald wieder zu besuchen. Ballanche, der mit dem Herzen hörte, vernahm deutlich, daß diese Worte von Herzen kamen. Er fand deshalb den Muth, schon am folgenden Tage sich wieder einzustellen. Es zog ihn zu ihr mit Allgewalt. Ihm war, als müsse er in den Tempel der Schönheit wallen und dort Dankopfer darbringen für das süße Glück, das bei'm ersten Anblicke der Göttin in seine Brust eingezogen war und dieselbe wunderbar erweitert hatte. Als Ballanche sich am folgenden Tage bei Madame Recamier melden ließ, so ward er sofort willkommen geheißen. Er fand die Göttin der Schönheit und Anmuth bei einer irdischen Arbeit; sie stickte nämlich. In verbindlicher Weise forderte sie ihn auf, neben ihr Platz zu nehmen. Ballanche hatte für höhere Gegenstände, sobald sie literarischen, politischen, philosophischen oder religiösen Inhalts waren, die ansprechendste und schwungvollste Ausdrucksweise. Mit Madame Recamier konnte man nun sofort von der Heerstraße alltäglicher Redensarten abbiegen, um eine belebende Höhe hinanzusteigen. Wären demnach Beide bloß Geister gewesen, so hätten sie wol lange in dem anziehendsten Zwiegespräche verweilt. Aber leider beleidigten die gewichsten Stiefeln des, wie wir schon sagten, durchaus nicht salonmäßigen Ballanche die Geruchsnerven der Madame Recamier. Die verwöhnte Frau hatte bis dahin nur mit Herren verkehrt, die Glanzstiefeln trugen; der Geruch von Wichse war ihr deshalb unerträglich. Zuerst kämpfte sie mit sich, ob sie Ballanche von ihrem unbehaglichen Zustande tu Kenntniß setzen sollte; doch, als sie in sein mildes, kindliches Auge blickte, schöpfte sie die Beruhigung, daß die ihm zu machende Bemerkung ihn nicht beleidigen werde, was sie um alles nicht gewollt hätte. Sie sagte ihm deshalb einfach und wahr, daß der Geruch der Stiefelwichse sie krank zu machen drohe. Dann fügte sie, ebenfalls ganz wahr, noch hinzu, wie sie schon seit längerer Zeit mit sich gekämpft habe, ob sie es ihm sagen solle, oder nicht; doch ihr steigendes Uebelbefinden zwinge sie zur Offenheit. Die kindliche Seele Ballanche's faßte auch für keine Secunde Unmuth. Im Gegentheil that es ihm unendlich leid, daß er eine so schöne und gütige Dame durch seine plebejischen Gewohnheiten belästigt habe. Mit rührender Demuth entschuldigte er sich, sprach sein Bedauern aus, daß Madame Recamier ihm nicht früher einen Wink gegeben habe, und verschwand dann in's Vorzimmer. Bald kehrte er zurück, und zwar in Strümpfen. Er hatte dem Schaden aufs Einfachste dadurch abgeholfen, daß er die Uebelthäter in's Vorzimmer verbannte.

Wenn uns die Fülle des Stoffes nicht Nebenbemerkungen verböte, so würden wir uns hier über das Natürliche und wahrhaft Reine im Benehmen Ballanche's des Breitern ergehen. Jetzt wollen wir nur einfach zu bedenken geben, wie deutsche und englische Damen außer sich gerathen wären, wenn ein Herr in Strümpfen ihre Schwelle überschritten hätte. Madame Recamier, eine der elegantesten und tugendhaftesten Frauen, die es je gegeben, fand, daß Ballanche höchst verständig gehandelt habe, und bald versenkten sich Beide wieder in die anziehendste Unterhaltung.

Inzwischen kam neuer Besuch, und auch diese Personen waren vernünftig genug, an den Strümpfen des Herrn Ballanche keinen Anstoß zu nehmen.

Wie Madame Recamier die ganze Seele ihres neuen Freundes in Besitz nahm, und wie er ihre ausgezeichneten Eigenschaften voll zu würdigen wußte, geht aus folgenden Stellen eines Briefes hervor, den er ihr schrieb, als sie eben von Lyon abgereist war. Dort heißt es: »Ja gewiß, Sie sind die ausgezeichnetste aller Frauen. Lassen Sie es mich Ihnen gestehen, daß ich oft erstaunt und beschämt war bei so viel Huld und Güte, die Sie mir zu Theil werden ließen. Denn ich hatte ja nicht den geringsten Anspruch darauf. Ich kenne mich nur zu gut; bin ich doch im Allgemeinen schweigsam, traurig und wenig anziehend. Aber Sie mit Ihrem bewundernswürdigen Feingefühle erkannten sogleich, wie viel Gutes Sie mir zu erweisen im Stande seien. Sie sind die fleischgewordene Nachsicht und christliche Nächstenliebe, Sie erblickten in mir eine Art von Verbannten, und Sie fühlten Mitleid, mich so von jedem Glücke ausgeschlossen zu sehen.

Mein furchtsames Naturell hemmt den vollen Erguß meiner Rede. Ich werde Ihnen deshalb schreiben, was ich nicht den Muth hatte Ihnen zu sagen.

Gestatten Sie mir in Betreff Ihrer die Empfindungen, die ein Bruder für seine Schwester hegt. Ich sehne mich nach dem Augenblicke, wo ich mit dem Rechte eines Bruders Ihnen das Wenige anbieten darf, was ich zu spenden habe. Meine Hingebung wird ganz und ohne Rückhalt sein. Ich wünsche Ihr Glück auf Kosten des meinigen; es ist dies nur gerecht, da Sie mich an Werth so unendlich übertreffen.«

Wie edle Frauen in die Gebilde der Dichter stets hinüberspielen, ersehen wir aus den Zeilen Ballanche's, wo er der Madame Recamier erzählt, daß er an seiner Antigone fleißig weiter arbeite und sie ihm dabei immer vorschwebe. Die bezügliche Stelle lautet:

»Jeden Abend widme ich der Antigone einige Augenblicke; ich will mich bemühen, sie Ihnen ein wenig ähnlich zu machen; dies wird ein Mittel sein, mir jene Abende zurückzuzaubern, die ich an Ihrer Seite zu verbringen das Glück hatte.«

So fand Madame Recamier in der Zeit ihrer Verbannung einen zweiten wahrhaften Freund, von hohem Geiste, kindlichem Gemüthe und unbedingtester Hingebung. Deshalb durften wir ihre Verbannung nicht als eine Katastrophe bezeichnen, sondern als eine Zeit der Prüfung, Läuterung und beginnenden Verklärung.


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