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4.

»Es ist beinahe Tag,« unterbrach sich hier die Erzählerin. »Ziehen Sie die Vorhänge zurück, Camillo, und lassen Sie den Morgen hereinscheinen! Sind Sie schläfrig? Ich habe nicht mehr viel hinzuzufügen.«

»Schläfrig? Nein!« antwortete der junge Mann, indem er sich gleichwohl aus einer Art Erstarrung zu lösen schien. »Aber erstaunt bin ich, erstaunt, befremdet, fassungslos darüber, was für Worte Sie Ihren handelnden Personen in den Mund legen. Freundin! Adlige Vertreterin eines der Monarchie verbundenen Geschlechtes! Welcher Teil ihres Wesens hat sich in diesem Livarot verkörpert, dem Sie eine Beredsamkeit der gefährlichsten Art verleihen? Denn das müssen Sie nun wohl zugeben: hier haben Sie die Pfade der Überlieferung verlassen, sind auf den Faustmantel der Phantasie gestiegen und haben sich von ihm in unverantwortliche Höhen tragen lassen. In diesem Livarot steckt ein Ketzertum, zu dem Sie Sich doch wohl bei hellem Tageslicht nicht bekennen würden.«

Die alte Dame, die stark errötet war, richtete sich auf und schaute mit einer hübschen, jugendlichen Verlegenheit um sich. Augenscheinlich konnte sie sich eines leichten Schuldgefühles nicht erwehren. »Es mag sein,« sagte sie schüchtern, »daß ich ein wenig gedichtet habe. Und was dann für ein Geist aus mir spricht, weiß ich selber nicht. Es geschieht oft, daß ich in den Herzen zweier Parteien lebendig zu leben glaube, daß ich nur der Mund der von mir selbst geschaffenen Personen bin, daß ich den einen so gut verstehe wie den anderen und nicht zu entscheiden vermag, wem ich das größere Recht zuerkennen soll. Bin ich doch Mutter aller dieser blassen Gestalten, fordern sie doch alle ihr Herzblut von mir, und liebe ich sie doch alle mit gleicher Mutterliebe. Ich kann keinen zu kurz kommen lassen.«

»Es ist gegen alle Gesetze der Komposition,« wandte Camillo Witte ein. »Wir sind gewöhnt, daß es ein gutes und ein böses Prinzip in jeder Geschichte gibt, einen Edlen und einen Bösewicht, und daß zwischen diesen nach ewigen Gesetzen entschieden werde. Ihre Menschen sind alle gut und irren oder sündigen alle. Sie malen Royalisten und Republikaner mit dem gleichen Pinsel. Ja – ist das ein hohes Gefühl für Gerechtigkeit oder ein ritterliches Vorgeben? – manchmal lassen Sie dem Patrioten ein Streifchen Gold mehr zukommen als Ihrer Heldin selbst!«

»Ach,« erwiderte die alte Bonvouloir lebhaft, »dies letztere ist eine schlechte Gewohnheit von mir, auch im täglichen Leben. Wenn ich Gegensätze empfinde, so billige Ich meinem Feinde immer ein wenig mehr ›mildernde Umstände‹ zu, als ich für mich selbst anführen würde. Ganz einfach, weil ich ihn für schwächer halte, mich für stärker unter allen Umständen, schon dadurch, daß ich keinen Haß empfinden kann. Vielleicht auch, weil sachliche Beurteilung nicht möglich ist bei einseitiger Beleuchtung. Kurz – ich bin nicht geschaffen, leidenschaftlich Partei zu nehmen, und es mag sein, daß dies ein Fehler ist. Verzeihen Sie mir also, und lassen Sie uns zu Ende kommen, von jetzt ab wird kein Republikaner mehr seinen Schatten – oder sein Licht! – in diese Erzählung werfen.«

Livarot wagte, als er Louisens Wange auf seiner Hand erkalten fühlte, nicht die leiseste Bewegung zu machen, die letzte, ergreifende Geste endlicher Hingabe nicht zu zerstören. Er saß stumm und ließ die Tränen über sein Gesicht laufen, wie sie wollten. Da trat Bonvouloir, von langem Schweigen beunruhigt, an seine Seite, sah was geschehen war und sank mit gefalteten Händen in die Knie. Aber ihr Herz, verstehend im letzten Augenblicke, fand kein Gebet, das diese Tote hätte geleiten können. Sie erhob sich seufzend, stand eine Minute lang in finsterer Betrachtung der Gruppe und flüsterte traurig: »Diese Frau, Herr Livarot, hat hundertmal mehr Ihnen gehört, als sie ihrem Manne je gehört hat.«

»Nein! o nein!« wehrte Livarot leise und erschrocken ab. »Sie hat ihren Gatten sehr geliebt, Frau Marquise!« Aber schon, mit männlichem Stolze die falsche Abwehr überwindend, hob er den Blick und bekannte fest und freudig: »Ja, sie ist mein geworden! Mein, nicht um meines armen Selbst willen, sondern um der Größe des republikanischen Gedankens willen!« Er sah nicht, daß Bonvouloir sich mit einem verächtlichen Lippenzucken abwandte.

Als Louise begraben war, kam Bonvouloir, ihr Kind auf dem Arm und ein Bündel auf dem Rücken, zu Agathen, um Abschied zu nehmen. »Wo willst du hin?« rief die erschrockene Frau. »Was hast du vor? Du kannst nicht so ohne weiteres aus der Stadt!« Bonvouloir sagte kleinlaut: »Ich muß wieder kämpfen gehen. Sei mir nicht böse, Agathe! Nun Louise tot ist, darf ich kein Sansculottenbrot mehr essen.« Agathe rief entsetzt: »Gott im Himmel! Bist du wahnsinnig geworden?« Sie lief, um ihren Mann zu holen, während Bonvouloir mit niedergeschlagenen Augen, aber mit festgekniffenen Lippen still auf einem Flecke stand.

Als Proust hereintrat, sagte Bonvouloir ohne eine Frage abzuwarten: »Ich weiß, daß Sie mich für undankbar halten müssen, Bürger Proust. Sie und Agathe haben viel Gutes an mir und meinem Kinde getan. Aber wenn ich hier bliebe, wäre alles, was wir gelitten haben, sinnlos, und mein armer Heinrich wäre umsonst gestorben. Ich muß nun gehen und vollenden, was er begonnen hat. Es gibt gewiß noch viele, die ihn kannten, und sie werden mir folgen und tun, was ich sage. Wir müssen siegen. Wenn die alte Ordnung nicht wiederkommt, so ist mein Kind ein Bankert.«

Proust sagte: »Frau Marquise, ich mache mich schuldig, wenn ich Sie gehen lasse. Sie waren in Not, da war es Menschenpflicht zu helfen. Aber wenn Sie gegen uns kämpfen wollen oder zum Kampfe aufrufen, muß ich Sie den Behörden ausliefern.« Agathe, der die Tränen nahe standen, redete auf Bonvouloir ein: »Willst du dein Kind lieber tot sehen als unehrlich geboren? Was sind das für Vorstellungen? Ehe du hier durchs Stadttor bist, hat man dich schon gefaßt. Und dann sage den Herren Volksvertretern, was du vorhast! Sie werden sich ja besonders für deine Pläne interessieren!«

Sie redeten beide so lange, bis Bonvouloir, bleich und niedergeschlagen, aber ohne ein Wort der Entgegnung, sich langsam umwendete und mit Kind und Bündel die Treppe zu ihrer Mansarde wieder hinaufschlich. »Ich hoffe, sie ist zur Vernunft gekommen,« sagte Agathe, ihr nachblickend. Proust war nicht so zuversichtlich. »Ihr Gesicht verriet keine Zustimmung,« sagte er. »Ich fürchte, sie wird nicht zu halten sein. Ließe sie doch nur das Kind hier! Wenn sie geht, ohne daß wir darum wissen, so soll mir ihr Schicksal gleichgültig sein; nimmt sie aber das Kind mit, so wird uns niemand glauben, daß wir unbeteiligt sind an dieser Flucht; denn so wie sie dastand, konnte sie nicht ohne Aufsehen nur durch unsere Gasse kommen.«

Bonvouloir hatte aus den Worten des Ehepaares wohl das Wesentliche begriffen: daß es Scheu trug vor der Verantwortung, die es treffen mußte, wenn der langgehegte Gast sich plötzlich wieder auf feindlicher Seite im Feld zeigte. Und so weit durfte Undank nicht getrieben werden, daß diesen guten Menschen eine Gefahr erwuchs aus der Mildtätigkeit, die sie geübt hatten an Fremdgesinnten. Bonvouloir hatte Prousts Großherzigkeit nie gering geschätzt; sie wußte, daß er ihre Gesinnung kannte, denn er nannte sie ›Frau Marquise‹, und der Ton, in dem er das Wort aussprach, hatte etwas leise Drohendes. »Du bist bei Feinden,« sagte dieser Ton, »aber bei weitherzigen Feinden.« Agathe, deren robustes Gemüt den Übergang von der Königstreue zur Republik ohne jede Schwierigkeit gefunden hatte, hatte im stillen ein gleiches bei ihrer einstigen Standesgenossin vorausgesetzt, deshalb erschreckte sie Bonvouloirs plötzliches Bekenntnis mehr als sie sagen konnte. Bonvouloir saß also da, eine lange klägliche Nacht hindurch, und überlegte, wie sie dem Andenken ihres Gatten gerecht werden möchte, ohne ihre Gastfreunde ins Verderben zu bringen. Hundert Listen fielen ihr ein. Aber sie verwarf alle, denn sie mußte sich sagen, daß keine standhalten würde, wenn Gehässigkeit oder Neid die Anklage erheben wollten: »Proust und seine Frau haben mit einer Ci-devant zusammengelebt, sie haben sie entwischen lassen, sie mußten wissen, was sie vorhatte.«

Am nächsten Tage kam Frau von Bonchamps, um Bonvouloir zu besuchen. Sie wußte viel von der Güte der Putzmacherin zu sagen, die Arbeit und Schutz gab, und betonte wiederholt, diese Patrioten seien doch aus anderem Holz, als man in den adligen Kreisen früher zu denken pflegte. »Sie haben wahren Adel,« rief sie aus, »denn sie verstehen selbstlos zu helfen. Hätten wir sie früher gekannt, so hätten wir uns vielleicht besser mit ihnen zu stellen gewußt.« Bonvouloir erriet zornigen Herzens, daß Agathe den Besuch und die Belehrung veranlaßt hatte. Sie antwortete kalt: »Es kommt gar nicht darauf an, ob einzelne Menschen gut oder böse sind. Es kommt nur darauf an, welcher Sache sie dienen. Und die Sache der Republik ist schlecht.« Darauf wußte Frau von Bonchamps nichts zu erwidern.

Einige Tage später kam Bonvouloir wieder in Agathens Stube und sagte ohne Erregung: »Agathe, du mußt einsehen, daß ich hier nicht bleiben kann. Jeder Bissen würgt mich im Halse. Du hast doch Heinrich und Herrn von Lescure auch gekannt, hast ihnen gedient wie ich. Hast du sie denn vergessen können? Ich kann es nicht. Laß mich fort, aber sage mir, wie ich es tun kann, daß kein Vorwurf auf euch fällt. Ich weiß, wir leben in einer gefährlichen Zeit, und Verdacht ist schnell geweckt. Ich will mich ganz in deine Bestimmungen fügen, aber sorge, daß ich aus der Stadt komme.«

Agathe versprach, sich mit Proust zu beraten, und am anderen Tage kam sie zu Bonvouloir und meinte: »Livarot könnte es machen. Er könnte vorgeben, dich zu seiner Frau zu bringen, und dann könntest du sehen, wie du ihm unterwegs entwischen magst. Man würde nie einen Verdacht auf ihn werfen. Aber, Bonvouloir, laß das arme Kind hier! Es geht dir doch draußen unter allen Umständen zugrunde. Denk an die kleine Lescure, an ihr jammervolles Sterben bei fremden Leuten! Ich schwöre dir, das Kind soll unser letztes Brot teilen!«

Bonvouloir sagte: »Das glaube ich ohne weiteres, daß du es gut versorgen würdest. Aber soll es dann eine Sansculotte werden? Heinrichs Tochter?« Agathe schrie außer sich: »Du Närrin, was weiß das Geschöpfchen von heute bis in zehn Jahren von solchen Dingen? Laß es hier gesund und als braver Mensch aufwachsen, siegt ihr wirklich noch einmal, so wird es noch schnell genug lernen, eine Adlige sein. Hast du es doch in verdammt kurzer Zeit gelernt!« Bonvouloir lächelte ein wenig und sagte: »Nun – nun!« Aber nach einer Weile sagte sie mit einem ganz weißen und verfallenen Gesicht: »Ich will es hier lassen, Agathe, aber schwöre mir, daß du es zu Frau von Lescure bringst, wenn sie je wieder ins Land kommen sollte!« Das versprach Agathe mit bindenden Eiden. Von da ab weinte Bonvouloir viel und magerte ab. Aber als Livarot das nächste Mal nach Nantes kam, ging sie mit ihm, ohne sich und Agathen den Abschied schwer zu machen, und tat in der Gasse ganz unbefangen vor den Leuten, die sie fortgehen sahen. Agathe mit dem Kinde stand unter der Tür und winkte, und Bonvouloir winkte zurück und rief laut: »Auf bald!« Livarot bewunderte ihre Kraft. Er kannte ihre Absicht, und er war groß genug, sie nicht darin zu hindern. Zu Proust hatte er gesagt: »Wir dienen der Republik, wenn wir die Fanatiker des Königtums sich möglichst schnell aufreiben lassen.« Proust war nun auch ganz zufrieden. Wenn Bonvouloir nun auf der Seite der Vendée gesehen wurde, so konnte man dies einer neuen Verführung oder auch einem Gewaltakte Charettes zuschreiben, hatte doch die ganze Gasse sie in freundlichem Einvernehmen mit Livarot und mit der Versicherung baldiger Wiederkehr davongehen sehen.

Naturgemäß begab sich Bonvouloir zuerst zu Charette, der immer noch das ganze Marais in Aufruhr hielt und unter dessen Fahnen sie alte Anhänger ihres Gatten zu finden hoffte. Sie hatte gut gerechnet. Denn gar nicht weit von Nantes stieß sie auf eine Schar von Anjouleuten, die Stofflet gesammelt hatte und auf heimlichen Pfaden dem Herrn von Charette zuführte, dem einzigen, auf den sich jetzt die Hoffnung der königlich gesinnten noch richten konnte. Die Zersplitterung der Katholischen Armee hatte diesen Mann nicht berührt, er hatte immer für sich allein und nach seiner eigenen schrecklichen Taktik gekämpft, und seine Selbstsucht war sein Glück gewesen. Er war ein starkknochiger, sehr großer Mann von häßlichem Aussehen, in Erscheinung und Lebensweise kaum von seinen Bauern zu unterscheiden, zäh, abgehärtet, unbedenklich und verschlagen; es hieß, daß er stark von Begierden sei und keineswegs wählerisch, wo es sich um Frauen handle. Er machte große Augen, als die schlanke Bonvouloir vor ihn geführt wurde, die den englischen blauen Rock und das rote Halstuch trug, die jedermann an Heinrich Larochejacquelein gekannt hatte, das Haar über der Schulter geschnitten und gescheitelt, ein kleineres und dunkleres Abbild des gefallenen Helden. Sie hatte sich diese Kleidung aus dem von Livarot besorgten Tuche selbst genäht, und Stofflet hatte sie auf ihre Bitte mit Flinte und Patronengürtel ergänzt.

Charette mißverstand die Absicht, die Bonvouloir zu ihm geführt hatte; er überfiel sie in der rohen Art, die er Frauen gegenüber zu üben gewohnt war. Aber Bonvouloir, weder erstaunt noch eingeschüchtert, stieß ihm das Gewehr zwischen die Beine und die Faust vor die Brust mit solcher Behendigkeit, daß er lachend zurücktrat. Sie zog nun die Pistole aus dem Gürtel und erklärte bündig, daß sie gekommen sei, um der heiligen Sache zu dienen und ihren gefallenen Gatten zu rächen; daß sie sich zutraue, etwas Nennenswertes zu leisten, wenn man ihr eine Rotte anvertrauen würde; andernfalls wolle sie auf eigene Hand Leute anwerben. Charette, mit dem Blick auf der Pistole, die ruhig in fester Hand lag, versuchte noch einen scherzhaften Vorstoß, indem er sagte: er, der bisher nur befehligt habe, würde sich gern unter das Gebot einer so schönen Führerin stellen, wenn er gebührenden Soldes gewiß sein könnte. Aber Bonvouloir schaute ihn haßerfüllt an und sagte: »Es geht um meine Gattenehre, Herr von Charette!« Ihr Ernst machte ihm Eindruck, er behandelte sie von da an mit einer etwas herablassenden Kameradschaftlichkeit und gewährte, daß Stofflet ihr eine Schar zusammenstellte, die größtenteils aus solchen Leuten bestand, die schon unter Heinrich gefochten hatten. Da auch einige von jenen dabei waren, die Bonvouloirs Hochzeit in der Durbelière mitgefeiert hatten, vor noch nicht ganz einem Jahre, so entbrannte alsbald eine gewisse Begeisterung für die schöne, beklagenswerte und kriegerische Frau. Die ganze Schar trug nach wenigen Tagen das rote Halstuch, und Gott mag wissen, wie sie in solcher Schnelligkeit dazu kamen. Nun spann sich ein besonderer Zauber der Unverletzbarkeit, aber auch der Heiligkeit und seltsamer Berufenheit um das kleine Häuflein: es brauchte, so hieß es, nur zu erscheinen, um den Gegner sonderbar zu verwirren und zu entmannen. In Nantes wie in den anderen Garnisonen der Republik hörte man nicht selten die abergläubische Deutung, Herr von Larochejacquelein sei auferstanden und führe die Geister gefallener Vendéekrieger zum Kampfe. Die Generale der Republik richteten ihre besondere Aufmerksamkeit auf die Bande mit den roten Halstüchern, ohne daß es jemals gelungen wäre, sie einzukreisen. Denn Bonvouloir hielt die alte Kampfweise der Bauern hoch, die Heinrich stets als die beste bezeichnet hatte, und die darin bestand, den Gegner, wenn er sich als stärker erwies, ins Leere stoßen zu lassen.

Bonvouloirs Führerschaft und der geheimnisvolle Einfluß, den sie auf ihre Anhänger ausübte, mag im wesentlichen darin bestanden haben, daß sie Heinrichs Andenken in einer seltsam hinreißenden Weise lebendig hielt. Immer sprach sie zu den Leuten gleichsam in seinem Namen. »Euer Herr Heinrich befiehlt –« oder »Euer Herr Heinrich läßt Euch sagen –« oder »Es ist Eures Herren Heinrich Rat und Absicht« glitt so oft und mit so überzeugender Wohlangebrachtheit in die kurzen und markigen Ansprachen, die sie hielt, daß bei einer nicht geringen Anzahl der einfachen Seelen sich die Vorstellung bildete, es bestehe in der Tat eine geheimnisvolle Offenbarung des Toten durch den Mund der Lebenden. Immer auch wußte sie von seinen Heldentaten zu sprechen, an seine Schönheit, seine Güte, sein Verständnis für die Bauern zu erinnern, an seine Liebe zum Lande, die ihm die Flucht an den Rhein verboten hatte, und belegte solches Gedenken immer mit hübschen kleinen Geschichten, die ihr jederzeit zur Hand waren oder die sie fröhlich erfand, wenn sie sie brauchte. Freilich hatte das gläubige Volk ihr in gewissem Sinne darin vorgearbeitet; es bestand schon ein lichter Kranz von Sagen und Wundern, der sich um den stillen und sehr schlichten Jüngling gesponnen hatte, noch während seiner ersten Erfolge im Boccage. Aber Bonvouloir verstand es, diese silbernen Totenblumen zu purpurrotem Leben zu erwecken und Heinrichs Eingreifen und Mitleben in allen Kämpfen der Gegenwart anschaulich und glaubhaft zu machen. Wenn sie, schmal wie er, auf ihrem hohen Pferde vor den Scharen Herzog, wenn sie mit Händen, weiß und schlank wie die seinen, den Säbel führte, wenn ihre knabenhafte Stimme sprach, glich sie oft genug dem Bilde, das in den Seelen der Bauern fortlebte. Daß sie, wie Heinrich, immer und unter allen Umständen ein Siegfrohlocken zuließ und ermunterte auch dann, wenn ihre Leute das Schlachtfeld klüglich preisgegeben hatten, machte die Zauberwirkung ihrer Persönlichkeit noch stärker. Sie hieß bei vielen der Bauern bald schlechthin »Herr Heinrich«, und die Zuversicht des Sieges ging von ihr aus, wie sie von ihm ausgegangen war.

Und so dauerte der Kleinkrieg denn fort, trotz Klebers und Westermanns gewaltiger Aufgebote, entbrannte bald heftiger in der Bretagne, wo die Chouans das Erbe der Vendée antraten, und war im Marais unter Charettes rücksichtsloser Zähigkeit unausrottbar. Bonvouloir war vielleicht weiter nichts als das Stückchen Zunder, das die heilige Flamme von einem Herde zum andern trug – immerhin war sie wirksam. Das Seltsame war, daß sich ihr eine Nachfolge von erstaunlicher Verbreitung bildete. Es gab fast kein Schlachtfeld mehr, auf dem man die beinahe unheimliche Rotte mit den roten Halstüchern nicht wollte gesehen haben, und als das linke Loireufer zu leidlicher Beruhigung gelangt war, lebte sie auf dem rechten Ufer bei den Chouans weiter – vielleicht lange noch, nachdem Bonvouloir in der Tat in einem Waldesdickicht, von Kugeln durchbohrt, ihren letzten Seufzer getan hatte. Denn als drei Jahre später Frau von Lescure dazu gelangte, Nachforschungen anzustellen, erfuhr sie von überlebenden Kriegern aus Bonvouloirs Schar, daß die kühne Führerin etwa acht Monate nach ihrer Flucht aus Nantes bei einem Scharmützel mit den Blauen ums Leben gekommen sei. Die Wirkung ihrer leidenschaftlichen und begeisternden Tapferkeit sei aber so weithin spürbar gewesen und als so unentbehrlich empfunden worden, daß sich gleich nach ihrem Tode ein schöner, jugendlicher Mann an ihre Stelle gesetzt und in genauer Nachahmung ihrer Gepflogenheiten die Schar weitergeführt habe. Später habe sich diese gespalten, und es bildeten sich nicht weniger als drei Gruppen, die alle unter dem Feldgeschrei »Larochejacquelein« gingen, und alle mit dem feuerroten Halstuche prunkten. Diese verteilten sich nach allen Richtungen, schwärmten bis in die Normandie hinein und erzeugten so die sagenhafte Vorstellung von der Allgegenwart ihrer geheimnisvollen Führerin. Allenthalben traten Leute auf, die Bonvouloir selbst gesehen haben wollten; sie erschien als Warnerin, wenn die republikanische Armee ein Umgehungsmanöver vollzog oder einen Hinterhalt bereitete, oder aber, sie zeigte Orte an, an denen sich Salpetervorräte oder versteckte Lebensmittel befanden. Herr von Charette, dem der wildeste Aberglaube innewohnte, erschien eines Tages sehr verstört in Stofflets Hütte und erzählte, daß Bonvouloir, nur etwa eine Stunde zuvor, im Walde seinen Weg gekreuzt und ihn drohend angesehen habe. Dies geschah mitten im Marais, ziemlich weit südlich von Nantes, und Bonvouloirs Schar sollte um diese Zeit in der Gegend von Bressuire wirksam sein, das Herr von Marigny, wie man weiß, den Blauen noch einmal entriß. Die Erscheinung erklärt sich vielleicht, wenn man bedenkt, daß Charette Herrn von Marigny in ebenso ruchloser Weise im Stich gelassen hatte, wie einst Lescure, und daß ein bitterer, zehrender Haß, nicht selten mit Mordgedanken gepaart, in dem eifersüchtigen und niedrig denkenden Manne wohl Fieberträume erwecken konnte. Da mag denn eine Jünglingsgestalt, die zufällig vorüberkam, das strafende Bild der Frau geweckt haben, vor der Charette eine heimliche Angst hegte. Der einzige Mensch indes, der Bonvouloir wirklich noch manchmal zu sehen bekam, war Livarot, bei dem sie in Frauenkleidern und am hellen Tage ab und zu vorsprach, um sich Nachrichten über ihr Kind zu erbitten. Er wußte auch die ungefähre Zeit ihres Todes, konnte aber nie den Ort erfahren, wo das Schicksal sie ereilt hatte.

Über Bonvouloirs Kampfweise gingen weit und breit die verschiedensten Gerüchte um. Sie habe wie einst Cathelineau, viel und inbrünstig gebetet, und da alle Kapellen und Gedenksäulen im Lande zerstört waren, habe sie stets ein Marienbild mit sich geführt, dieses vor dem Gefechte an einer Stange befestigt und die Leute davor knien heißen. Der Angriff wurde auch stets unter dem Absingen von Marienliedern begonnen, in die schauerlich hohnvoll der Ton der Kuhhörner geschnitten habe. Während des Gefechtes und nach demselben sei indes von keinem frommen Gedanken mehr etwas zu spüren gewesen, Bonvouloir habe rücksichtslos vorgetrieben und alle Gefangenen, ob Mann oder Weib, erschießen lassen. Da die Soldaten wußten, daß Herr von Lescure und mehr noch Herr von Bonchamps stets mit allen Kräften gegen Hinschlachten der Gefangenen gearbeitet hatten, so fehlte es nicht an Stimmen, die sich gegen Bonvouloirs Härte erhoben. Sie erwiderte fest, sie sei in Nantes Zeuge gewesen, wie die Republik an gefangenen adligen Frauen gehandelt habe, und sie halte Vergeltung für Pflicht. Stark in der Liebe, war sie auch stark im Haß, wie sie ihrerseits auch Gnade verschmäht hätte, wenn der Krieg sie in die Lage gebracht hätte, solche zu empfangen.

Als im Anfange des Jahres 1795 der Friede zwischen Charette und Stofflet einerseits und dem Konvent andererseits geschlossen und Amnestie für alle Rebellen verkündet wurde, wagte sich eines Tages Frau von Lescure nach Nantes und fand den Weg zu Agathen. Das kleine dunkle Mädchen mit den strahlenden Augen Heinrich von Larochejacqueleins wuchs ihr schnell ans Herz, sie nahm es freudig an und führte es zunächst mit sich nach Bordeaux, wo sie und Frau von Donnissan die Gastfreundschaft edler Verwandter genossen, bis eine neue Heimat auf den Ruinen von Clisson für sie bereitet war. Als sie einige Jahre später den älteren Herrn von Larochejacquelein ehelichte, fand dieser es geboten, die kleine Bonvouloir zu adoptieren und ihr seinen Namen zu schenken, womit alle Fragen über die Gültigkeit jener von abgesetzten Priestern geschlossenen Ehe dahinfielen. Ganz naturgemäß also wuchs das kleine Ding in die Ideale hinein, für die ihre Eltern gestorben waren, und das umso mehr, als der Krieg gegen die Republik, trotz jenes Friedens von La Jaunaye, zu wiederholten Malen wieder aufflammte und die Gefühle der Treue gegen das Königshaus immer neue und herrliche Auferstehung erlebten. Man weiß, daß im Jahre 1814 achtzigtausend Vendéer sich zusammenfanden, um gegen das angemaßte und unheilvolle Kaisertum eines Bonaparte zu kämpfen, und daß nur das Eingreifen einer höheren Macht zugunsten der Bourbonen jene Achtzigtausend abhielt, gegen Paris zu marschieren. Nirgends wurde Napoleons Sturz freudiger begrüßt als in der Vendée, und als Ludwig der Achtzehnte dem Throne seiner Väter zurückgegeben ward, begrüßte ihn eine Abordnung poitevinischer und bretonischer Frauen, deren Gatten, Söhne oder auch Väter zwanzig Jahre vorher für diesen Thron gestorben waren. Da stand neben alten Mütterchen, aufrechten Matronen und rüstigen Mädchen aus dem Volke die zarte und schöne Gestalt der jungen Bonvouloir vor dem neuen König und erzählte unerschrocken und lieblich von dem Wunder, das ihre Mutter auf den Weg des Heldentums gewiesen, und von der Liebe, die sie darin weitergeführt hatte. Der König hörte ihr zu und sah sie an mit einem trägen Lächeln, das sie nicht verstand. Dann legte das junge Kind Henriettens Tagebuch vor ihn hin und zeigte ihm den Todesgruß eines edlen Geschlechtes. »Es möge, wenn einmal die Namen der Befreier Frankreichs aus der Tyrannei des Pöbels der Geschichte überliefert werden, Eurer Majestät nicht unbekannt bleiben, daß auch die Mitglieder der Familie Texier freudig gestorben sind für die Wiederherstellung des Königreichs und der Kirche, und mit dem letzten Bekenntnis auf ihren Lippen: es lebe der König!« Ihre kleinen Hände zitterten, während sie das Buch hielt. Aber die Majestät las nur die Hälfte, der lichtlose Blick glitt über das Buch weg in das zarte Halsgrübchen des reizenden Mädchens. »Sehr rührend! Sehr rührend!« sagte die trockene Stimme. »Erlauben Sie mir, Ihnen die Hand zu küssen! Das Königreich ist Ihrer Familie sehr verpflichtet.« Es klang höflich, aber Bonvouloir fühlte sich durch diese Höflichkeit verletzt, ohne recht zu wissen warum. Dann ließ der König ein kleines Diadem aus Edelsteinen bringen und setzte es selbst in ihr schwarzes Haar. Sie ärgerte sich, wie ungeschickt er sich dabei benahm, und daß er ein paarmal an ihren Wangen und Ohren herunterstrich, was gar nicht nötig war. Er sah rot aus und sagte süßlich: »Schmücken Sie meinen Hof oft durch Ihre anmutige Gegenwart, Fräulein von Larochejacquelein!« Bonvouloir verstimmte auch diese Aufforderung. Sie dachte: alles dies ist Form und weiter nichts. Und sie ahnte dunkel und beschämt, daß die Gegenwart der Vergangenheit so wenig Dank zollt, wie das Kind dem blutigen Schoße, dem es entstiegen ist.

Ich will Ihnen, lieber Freund, gern dies Tagebuch anvertrauen, wenn Sie sich noch weiter in die Gedankengänge der Frauen vertiefen wollen, die ihr Heiligstes in diesen Blättern hinterlassen haben: Henriette und Louise. Bonvouloir hat nicht geschrieben, ihr Teil war die Tat. Livarot hat einige Daten beigefügt. Die kindlichen Schwärmereien Henriettens werden Sie mit Rührung erfüllen – solche Empfindungen tragen ihren Lohn in sich; sie brauchen kaum eine andere Erfüllung. Die Gläubigen, die am Alten hingen, wußten, wofür sie gestorben sind. Aber Tränen werden Ihnen kommen, wenn Sie in Louisens letzten Aufzeichnungen den bescheidenen Forderungen an das Schicksal nachgehen, um die damals jener Krieg entbrannt war. Dinge, die uns heute so unbestritten sicher sind wie die Luft, die wir atmen, mußten in Blut und Grauen geboren werden, und die sie erstritten, sahen nicht einmal in ihren Träumen die Herrlichkeit der Verwirklichung, die wir heute ohne Dank erleben. Den Wohlstand freien Bauerntums, die geistige Macht einer durchgebildeten Bürgerklasse, die königliche Entfaltung des Menschengeistes, wie die aufs Höchste gesteigerte Leistungsfähigkeit des menschlichen Leibes – alle die Ergebnisse eines bis zum äußersten verfeinerten und durchgebildeten Lebenskampfes konnten die Männer von 1789 auch nicht einmal ahnen. In abgrundtiefen Schächten der Unwissenheit und Abhängigkeit haben sie, von einem leisen Lichtschimmer geleitet, sich emporzuwühlen gesucht zu einem Tage, den sie selbst nie erleben durften. Sie also sind wirklich für den unbekannten Gott gestorben.

Sie sehen mich traurig an, mein Freund, und ich lese eine Frage auf Ihren Lippen. Wofür dann die Larochejacqueleins und die Lescures gestorben seien? Auch nicht umsonst, so wahr ich in die Vernunft der Dinge Vertrauen habe! Die gewaltige Uhr des Weltgeschehens braucht Gewichte, die ihren Gang regeln, damit er nicht donnernd abrolle ins Nichts. Nur im langsamen Pendelschlag liegt Vorwärtsbewegung. Wir Alten sind diese Gewichte.

Und nun geht die Sonne auf, Camillo. Der Tag wird schon nach den gestrigen Stürmen. Verlassen Sie mich nun und sorgen Sie nicht weiter um mein Befinden. Es ist meinem Alter angemessen, den Anbruch neuer Morgenröten zu verschlafen.

 


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