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7.

Die neue Bonvouloir, die so reizend die moralischen Unvollkommenheiten der alten nachzufühlen wußte, schwieg hier abermals, diesmal mit einem Blick heiterer Verträumtheit. Camillo dachte: Vielleicht betrachtet sie jene Zeit, die wir gewohnt sind eine lasterhafte zu nennen, nicht anders, als sie die kleine Vendéeheldin betrachtet: als eine Zeit viel zu warmer Gläubigkeit, viel zu tief gewurzelter Ehrfurcht vor morschgewordenen Götzen, verworfen nur, weil kein anderes Ideal vor ihnen aufgerichtet stand als das der irdischen Macht und Größe. Ja, man darf diesen Menschen ein gerührtes Lächeln widmen. Wie Kinder waren sie, die eine alte Puppe ans Herz drücken und vor den neuen Schulbüchern, die ihnen doch nicht erspart bleiben, schreiend davonlaufen. Denn ist nicht die Revolution die erste Schulklasse des wirklichen Menschentums gewesen, ist nicht der Begriff der Nation ihre größte und tiefgreifendste Lehre? Unser moderner Staatenbau ruht weit mehr auf dem, was die Phantasten jener Tage erträumt haben, als die meisten Leute wissen und zugeben wollen. Er sprach diese Dinge jedoch nicht aus, um ein Abirren in Theorien zu vermeiden, sondern blickte ruhig erwartend in die Augen der versunkenen Frau.

Diese erhob sich nun, Alter und Müdigkeit abschüttelnd, mit lebhafter Gebärde aus ihrem Stuhle. Camillo sah ihr bewundernd nach, wie sie leicht das Gemach durchschritt, einen Schrank öffnete und sich so mühelos nach einem gewichtigen Kasten bückte, der in einem unteren Fache stand, daß der Jüngling ihre Absicht kaum noch rechtzeitig begreifen konnte, um ihr denselben aus den Händen zu nehmen. Das Behältnis enthielt eine Anzahl beschriebener Blätter, allerhand verstaubte kleine Reliquien, eine Pistole, einen Zinnteller und ein Bündel Assignaten.

»Es scheint mir,« sagte die alte Dame, indem sie die Dinge sorgsam aus dem Kasten nahm und auf dem Tisch ausbreitete, »daß es nicht schaden kann, einige einwandfreie Zeugen für das, was ich Ihnen erzähle, zur Hand zu haben. Sie möchten sonst vielleicht mehr auf Rechnung meiner Erfindungsgabe setzen, als ihr tatsächlich zukommt. Sehen Sie vor allem hier: Dies ist das Tagebuch der armen Henriette, in dem Julians Predigten und unendlich viele andere Worte aus seinem schwärmenden Herzen aufgezeichnet sind. Hier ist ein erster Druck von den Erinnerungen der Frau von Lescure, verfaßt viele Jahre nach dem Kriege und nicht ohne eine feine Korrektur mancher Tatsachen, entsprechend den Forderungen einer gewandelten Zeit. Diese zwei oder drei sonderbar aussehenden Briefe mit der spröden Schrift und den vielen Schreibfehlern hat Bonvouloir selbst geschrieben unter Umständen, die wir nur noch ahnen können. – Was haben wir hier? Ach! die roten, aus Tuch geschnittenen Herzen, die die gläubigen Katholiken innen in ihren Röcken, die Frauen an ihren Schnürleibchen trugen, wie heute noch die kleinen Französinnen tun, wenn sie dem sacré cœur ein Gelübde geleistet haben. Man schickte diese heiligen Herzen, die irgendein Priester der alten Ordnung geweiht haben mußte, als Liebesgrüße an Freunde und Gesinnungsgenossen, und es haben diese harmlosen Briefeinlagen, von republikanischen Spionen leicht entdeckt und aufgefangen, nicht selten Absender und Empfänger ins Gefängnis gebracht. – Sehen Sie hier: eine Handvoll dreifarbiger Kokarden der Republik. Die Bauern fanden sie auf den Amtsstuben der eroberten Städte, knoteten sie auf und verwendeten das gute, feste Band gern zum Einflechten der Pferdeschwänze. Denn diese pflegten lang getragen zu werden und dienten im buschreichen Lande den Tieren zu Ärgernis und Mühsal, weshalb man während des Krieges darauf verfiel, sie zu flechten. So kam es, daß die Pferde der aufständischen Reiterei, die sich aus jungen Adligen, Wildhütern, Jagdgehilfen und Stallburschen zusammensetzte, sich mit der Trikolore die Fliegen abwedelten, was dann wieder Anlaß zu allerlei Spöttereien gab, wohl auch zu recht derben Späßen. – Hier nun endlich das, was mich am besten entlasten wird: eine Anzahl Ausschnitte aus dem » Moniteur de Paris« und eine ebensogroße Zahl aus den Bulletins de la Vendée, die vom Obersten Rate herausgegeben und erst in Châtillon, später in Cholet gedruckt wurden. Sie sehen hier in den Blättern beider Parteien das Wort ›Vendée‹ zum ersten Male erscheinen als Zusammenfassung aller Aufstände im Boccage wie im Marais. Denn vorher bestand diese Bezeichnung nicht. Es mögen die ersten Erhebungen der Bauernschaft, die ernst genug waren, den Pariser Zeitungsleser zu interessieren, und die tatsächlich in der Landschaft des Flüßchens Vendée vorfielen, wohl unter der Überschrift ›Erhebungen in der Vendée‹ in den Moniteur gekommen sein. Da man im übrigen von der Geographie dieser Provinz in Paris etwa so viel wußte wie von der des chinesischen Reiches, so mag man die Bezeichnung beibehalten haben, auch als sie längst das Aufstandsgebiet nicht mehr deckte. Nach der Amnestieerklärung haben dann die Bewohner des ganzen Landes diesen Namen sich als Ehrennamen ihrer Provinz erbeten, ja, sie haben diese Forderung zu einem der ersten Artikel ihres Friedensvertrages mit der Regierung gemacht. – Nun aber weiter in dem, was meine Ahne betrifft! Und greifen Sie zu dieser Truhe nur, wenn Sie Einwände gegen meine Glaubwürdigkeit haben!«

 

Ich sagte schon, daß die Führer der Bauernheere damit befaßt waren, aus den verzettelten Aufständen ein planvolles militärisches Unternehmen zu gestalten, daß sie Armeen schufen, eine Verwaltung ins Leben riefen und einen Kriegsplan entwarfen, der in zweckmäßiger Weise auch das Marais umschloß und die beiden Eckpunkte Nantes und Saumur, von der leuchtenden Heerstraße der Loire verbunden, als Hauptpfeiler des Angriffs und der Verteidigung ins Auge faßte. Lescure knüpfte Verbindungen mit Herrn von Charette an, dem er die Operationen gegen Nantes auftrug, Herr von Bonchamps und d'Elbée, die an der Loire seßhaft waren, sollten Saumur nehmen, den übrigen waren jene Abwehr- und Vorbeugungsbewegungen zugedacht, die jedes der beiden Unternehmen vorbereiten und decken sollten. Die kleineren Manöver verliefen plangemäß und erfolgreich, im großen aber kam man nicht von der Stelle, weil eben ein Heer begeisterter Freischärler nicht in vier Wochen in eine Belagerungsarmee verwandelt werden kann.

Sämtliche festen Plätze wurden gewonnen, verloren und wieder gewonnen, so oft, daß man auf dem offenen Lande kaum noch wußte, wer jeweils in den Städten befahl. Das › Bulletin de la Vendée‹ konnte die herrlichsten Siegesnachrichten bringen, ohne wesentlich aufzuschneiden, der › Moniteur de Paris‹ aber nicht minder.

In Paris hatte man unterdessen ein etwas klareres Bild über die Zustände in der fernen Provinz gewonnen. Die Befehlshaber der republikanischen Garnisonen schrieben wahre Jammerbriefe, riefen nach Truppen, Geschützen und fähigen Generalen, und der Konvent sah ein, daß Opfer erforderlich waren. Man schickte Soldaten, Kriegsgerät, Festungsingenieure und tüchtige Offiziere hinaus, die, wie man hoffte, binnen kurzem die gründlichste Ordnung schaffen sollten in dem, was man immer noch für ein bloßes Räuberunwesen hielt oder halten wollte. Die tüchtigsten – oder als Kind der Vendée sollte ich sagen: die fürchterlichsten von jenen Generalen waren der Königsmörder Santerre, dessen revolutionäre Blutgier sein Offizierspatent geworden war, und der Deutsche Westermann mit einer Schar fränkischer Jäger, die in den bergreicheren Teilen des Landes der Überlegenheit der terraingewohnten Bauern begegnen sollten. Westermann ging einfach mit rücksichtsloser Verwüstung vor und brachte dadurch augenblicklich alle diejenigen auf seine Seite, deren Lebensanker nicht unmittelbar in der Fruchtbarkeit der heimischen Erde ruhte: nämlich die Städter. Die Bauern freilich, deren Hütten und Ernten niedergebrannt wurden, strömten in Ungeheuern Scharen den Fahnen der Adligen zu, nur ein geringer Teil folgte – um der fünf Franken Sold willen – den Werbern der republikanischen Garnisonen. Diese »Fünffrankenhelden«, wie die Bauern sie nannten, richteten dort aber mehr Schaden an als sie nützten; vor allem verstanden sie sich darauf, mit ihrer Ausrüstung, an der sie besonders das gute Gewehr lockte, spurlos zu verschwinden, um sich in einem fernen Teile des Landes wieder neu anwerben und ausrüsten zu lassen. Es kamen auf diese Weise hübsch viele Gewehre neuesten Kalibers in die Hände der Bauern, und man vermied schließlich sie anzunehmen, wenn sie sich meldeten.

Das Bild des Krieges hatte sich nun gründlich und unheimlich verändert. Vorbei waren die feierlichen und kriegerischen Auszüge betender Bauern, die unschuldigen Proklamationen, das Tedeum in den Kirchen, die begeisterte Heimkehr, die trächtig war von Legenden und Wundern. Jetzt waren die Wälder voll von hungrigen Plünderern – wenigstens da, wo Westermann und seine Franken durchgezogen waren – und die eroberten Städte wurden übel mitgenommen. Grausame Maßnahmen und Gegenmaßnahmen wurden von beiden Seiten in Anwendung gebracht, der Haß wurde heilig gesprochen, wilde Opferfeuer brannten ihm Tag und Nacht, und die Kluft zwischen Nachbar und Nachbar ward schließlich so tief gerissen, daß alle menschlichen Gefühle darin versanken. Frau von Lescure erzählt aus jener Zeit von einem Vater, der den eigenen Sohn erschoß, weil er sich bei den Republikanern hatte anwerben lassen.

Ende Juni erfuhr man in La Grange, daß Lescure mit dem größten Teile seiner Scharen ins Marais gezogen sei, um sich mit Herrn von Charette zu dem geplanten Massenangriff auf Nantes zu vereinigen. Um so erschrockener war Frau von Texier, als am Abend des 30. Juni ihr Gatte mit Julian, begleitet von einer Anzahl älterer Bauern, in La Grange erschien und für diese scheinbare Fahnenflucht wenig stichhaltige Gründe angeben konnte. Das Läuten der Sturmglocke am nächsten Morgen und ein hastiges Fertigstellen kleiner Verteidigungsanlagen in geringer Entfernung vom Schlosse gaben der gewiegten Frau indes den vollkommensten Aufschluß, und sie sprach von da ab so ruhig, als ob sie von der bevorstehenden Apfelernte gesprochen hätte, von nahen Kämpfen mit Westermannschen Truppen und der Notwendigkeit, sich ihnen mit allen verfügbaren Leuten in den Weg zu stellen. Denn es war klar, daß Châtillon während Lescures Abwesenheit nicht preisgegeben werden sollte. Die kleine Verteidigungsschar wuchs rasch, das anrückende Schrecknis rief die Bauern von den entlegensten Weilern herbei, lauter als das Rufen der Sturmglocke: denn was da warb, war das Gerücht! Westermann war noch nicht zwei Wochen im Lande, und schon liefen rote Gespenster vor ihm her, Brand und Mord schreiend. Man erwartete ihn, wie man den Teufel erwartet hätte, mit einer Wut, die aus Grauen geboren war. Er hatte vor fünf oder sechs Tagen Parthenay, Lescures letzte Eroberung, aus den Händen der Aufständischen gerissen und hatte den umgebenden Landstrich so heimgesucht, daß selbst die Republikaner entsetzt waren: denn sie sahen eine Hungersnot im Gefolge solcher Kriegführung.

Den Weg betrachtend, den Westermann nehmen mußte, konnte man nicht verfehlen, an Clisson zu denken, das ungeschützt auf der gefährlichen Straße lag, unschützbar auch wegen seiner Lage im breiten Lande, während La Grange einen Hinterhalt und strategisch günstigen Punkt darstellte. Dennoch erwogen die Freunde, ob nicht ein Versuch gemacht werden müsse, den Feind von jenem Wege abzudrängen, und wie weit dies die Verteidigung der nach Châtillon führenden Straße benachteiligen würde. Aber schon der Abend des gleichen Tages erwies die gutgemeinte Maßregel als überflüssig. Eine ungeheure Brandröte erhellte den Horizont, Richtung und Entfernung wiesen auf Schloß Clisson, und wenige Stunden später bestätigten die herbeiströmenden Bauern des zu Clisson gehörigen Dorfes Amaillour die grausame Verwüstung. Nicht nur das Schloß, sondern auch die ferneren und näheren Dörfer, die zu Lescures Herrschaft gehörten, waren niedergebrannt; die »Blauen«, wie die Soldaten der Republik damals genannt wurden, hätten ganze Wagenkolonnen mit Reisig, Stroh, Pulver und anderen Brandstoffen herbeigefahren und geschworen, die Rebellen aus ihren letzten Schlupfwinkeln auszuräuchern. Von Frau von Lescure wußte niemand etwas zu berichten, ebensowenig von Frau von Donnissan, doch nahm man an, sie würden in Châtillon sein. Die Amme mit dem Kinde sei da und da in Sicherheit. Dagegen erwies sich, daß Herrn von Lescures Tante, die ci-devant Äbtissin, die nach Aufhebung ihres Klosters bei ihm Zuflucht gefunden, trotz ihres hilflosen Alters gefangen hinweggeführt worden sei.

Es versteht sich von selbst, daß in dieser Nacht kein Schlaf auf die Mauern von La Grange niedersank. Herr von Texier und Julian standen heiß beschäftigt bei ihren Bauern und Schanzen, kamen nur ab und zu ins Haus zu schneller Kräftigung, und vielleicht mehr noch, um den still wartenden Frauen Mut zuzusprechen. Diese saßen schweigend an der weit geöffneten Tür des Gartensaales, den Blick gegen den Horizont gerichtet, wo der Flammenschein noch stieg und sank, und nahmen Abschied vom Leben. Alle, außer Louise: denn diese, obwohl auch sie schwieg, gehörte nicht mit dem Herzen zu dieser Schar stiller Heldinnen.

Sie hatte einige nötige Dinge und die wertvollsten Kostbarkeiten gepackt und hatte Pferde gesattelt, eigenhändig, denn es war kein Mann im Schloß geblieben; sie war des Augenblicks gewärtig, wo Herr von Texier kommen und sprechen würde: »Die Unseren halten nicht mehr stand, versucht gegen St. Aubin hin zu entkommen!« Davon zu reden, wagte sie nicht. Sie wußte, was Frau von Texier antworten würde, und sie wollte abwarten, bis der Vorschlag als Befehl ergehen würde.

Draußen fielen nun die ersten Schüsse, ernst blickten die Frauen einander an. Noch redeten sie nicht, sie lauschten mit ganzer Seele, und so ungewohnt sie solcher Geräusche waren, sie schienen ihnen verständlich und beredt. Die Schüsse der feindlichen Gewehre klangen anders, boshafter, giftiger als die der Bauern, mochte es scheinen. Dann folgte ein langes, donnerndes Rollen wie das Echo eines Gewitters, und dann ein furchtbares Verstummen. Wieder Schüsse! Kamen sie nicht von einer anderen Seite? Aus geringerer Ferne? Und plötzlich trat Herr von Texier in den Saal und sagte die Worte, auf die Louise gewartet hatte: »Fort! Sie sind an der zweiten Schanze! Das Schloß ist verloren.«

Louise stand auf und sagte ruhig: »Es ist alles bereit.« Aber nicht weniger ruhig erwiderte Frau von Texier: »Wozu? Ich gedenke nicht von hier fortzugehen.« Herr von Texier, während die Mädchen sich erschrocken ansahen, versuchte ein Zureden, ein Drängen. Aber die alte Dame erklärte mit äußerster Bestimmtheit, daß sie ihr Haus nicht lebend verlassen würde, daß sie ein Leben in einer neuen, ihr unverständlichen Welt nicht für erstrebenswert halte, und daß sie sich nie bereit finden würde, als Flüchtling an fremden Herden zu sitzen. Vor dem Tode empfinde sie keinerlei Angst, im Gegenteil sei er ihr am willkommensten in der Gestalt, wie er ihrem König erschienen sei: auf dem Schafott; und das wäre ihr ja wohl sicher, wenn sie hier ergriffen würde. Sie sprach diese Worte mit so überzeugender Einfachheit, daß alle fühlen mußten, sie werde nicht zu überreden sein. Louise und Herr von Texier tauschten denn auch einen tränenschweren Blick; dennoch versuchten beide noch einmal, sie umzustimmen.

Nun aber erhob sich die zarte Stimme Henriettens, zwar nicht ohne ein merkliches Zittern, aber dennoch überzeugend, und sie sagte: »Ich denke, Mutter hat recht, was ist das Leben ohne das, was uns heilig war? Und ich will auch gern sterben, da ich doch nicht mit Julian vereint sein kann, dann werden wir uns bald im Jenseits treffen und uns beglückt angehören, wo es keine Trennung mehr gibt.« Und nach diesen heldenhaften Worten brach die rührende kleine Stimme, und Henriette eilte so schnell sie konnte in den dunkelsten Winkel des Saales.

Dort fand sie Bonvouloir in keiner weiseren Verfassung. Die Jeanne d'Arc des Poitou, die Erwählte der heiligen Jungfrau, die hochherzige Freundin des unbesiegbaren Generals, nun, dieses ganze Bündel glorreicher Weiblichkeit, das Bonvouloir zu sein geträumt hatte, das saß nun zusammengesunken, an die Wand gedrückt, und zitterte so, daß die herantretende Henriette es zu fühlen glaubte, konnte sie schon von dem hingeduckten Mädchen nichts sehen. Bonvouloir spürte zum ersten Male in ihrem jungen Leben die schauerliche Wirklichkeit des herannahenden Todes, der nun auf keine Weise mehr zu betrügen oder zu umgehen war, und ihr junger Leib wand sich in unbewußtem Entsetzen vor seinen unerbittlich dröhnenden Tritten. Sie betrachtete in schmerzendem Selbsterbarmen ihre schöne Jugend, die nun zertreten, weggewischt, ausgelöscht sein sollte, wie ein Fünkchen, das vom Herde fällt. – Oh, und sie hatte doch die Gluten eines Weltbrandes in sich gefühlt! Die Worte der Frau von Texier erfüllten sie mit Entsetzen, sie sah sich einer Wahnsinnigen ausgeliefert, verstand nichts von den Beweggründen einer so ausschließlichen Natur, empfand nur die unmittelbare Nutzlosigkeit eines solchen Verzichtes. Henriettens Todeswunsch schien ihr begreiflicher, da sie, selbst liebend, den gleichen Rausch der Empfindung, des überwältigenden Verlangens kannte. Wenn Heinrich dagewesen wäre, wäre sie lächelnd gestorben, die kleine Bonvouloir. So sah sie nur eine böse Hartnäckigkeit in dem Verhalten der edlen Frau und hatte doch nicht den Mut, aufzustehen und sich aus dem Staube zu machen, solange es noch Zeit war. Henriette legte im Dunkeln leise die Hand auf ihre Schulter. Sie ergriff sie, drückte sie an die Brust und ließ das Beben ihrer armen Leiblichkeit hinübergleiten in das tapfere Herz der Freundin.

Unterdessen hatten Herr von Texier und Louise alle Gründe erschöpft, die einem verzweifelten Entschlusse entgegengehalten werden konnten, alle Worte gesprochen, die in einem solchen Falle nicht kläglich klangen. »Mutter,« sagte Louise, die nicht aufhören zu dürfen glaubte, »Mutter, wem wollen Sie ein Opfer bringen mit solcher Hingabe? Der König wird nie etwas davon wissen. Die Kämpfer unserer Sache werden nicht angespornt, sie werden entmutigt werden, wenn sie sehen, daß hochgesinnte Frauen den Tod bequemer finden als den Widerstand, und der Feind wird keine Scham empfinden, denn Sie haben ihm ja erspart, zu tun, was er tun müßte. Und wozu? Wozu dies Furchtbare? Ist denn wirklich der Stand ein Ideal, das solche Opfer fordern darf? Ist er alles? Ist ein Leben in allen Tugenden, in Fleiß, Güte, Reinheit und Nächstenliebe nicht lebenswert, auch wenn es in einer Gasse gelebt werden müßte, in einer Dachkammer, in einem Stalle? Wenn wir vereint blieben, uns gegenseitig helfen könnten in Arbeit und Erheiterung, uns liebten und Liebe um uns verbreiteten, wäre es da nicht ganz gleichgültig, welchen Namen wir führten? Wir werden nicht so arm sein, daß wir darben müßten, wir werden leben wie hundert andere Menschen leben! Und Sie haben vier Kinder, Mutter – nein, fünf! Denn auch Bonvouloir wird bei uns sein und uns lehren, wie man die Arbeit liebt! – Fünf Kinder, die nur dafür leben werden, Ihr Alter leicht und schön zu machen! Ich kann die schönsten Hauben nähen, Henriette stickt wie eine Fee, wir werden unser Leben auf Arbeit gründen, und wir werden ein neues Glück kennenlernen, das uns bisher nur in Büchern gelockt hat. Wo wäre da ein Grund, auf die Zukunft zu verzichten?«

Unnütz zu sagen, daß alle diese Worte den Sinn der adelsstolzen Frau in keiner Weise erschütterten. Wenn man das Beugen unter eine neue Macht als Scham empfindet, so spricht keine Notwendigkeit einen frei. Frau von Texier erklärte, daß sie nie und nimmer in einerlei Kreis und Lebensbedingungen mit Leuten leben würde, die den König ermordet, Gott gelästert und den ganzen Bau des Staates aus den Fugen gerissen hätten, und daß sie sich nicht erniedrigen würde, den Schutz einer Verfassung anzunehmen, die nur auf die augenblickliche Überlegenheit von völlig rechtlosen Menschen gegründet sei. Sich unter eine solche Verfassung beugen, heiße alles Vergangene verleugnen, heiße den König noch einmal aufs Schafott bringen! Sie war nun, da sie sich angefochten sah, nicht mehr ruhig, sondern redete mit einer fanatischen Begeisterung, die jedes Wort unwiderruflich machte. Schließlich warf sie die Arme um den Hals ihres Gatten und rief: »Stirbst nicht auch du? Warum soll ich allein übrigbleiben, die ich doch nicht kämpfen kann? Laß uns vereint bleiben, denn ich weiß wohl, daß du hier nicht weichen wirst, solange du eine Flinte halten kannst.«

Louise, erschöpft von der zerreißenden Gewißheit, daß hier nichts mehr zu retten war, zog sich nun ihrerseits zurück, ließ die Eltern, die in fester Umarmung ruhten, allein und trat leise hinaus auf die Terrasse. Die Schwüle der Juninacht, der Geruch von Pulver und Holzrauch, der Widerhall der Schüsse, die nicht verstummen wollten, langgezogenes, gellendes Heulen, der dumpfe Schall von Kuhhörnern, alles gedämpft durch die Ferne, die dennoch, ach! nicht fern genug schien, legte sich betäubend um ihre Sinne. Sie glaubte nun auch sterben zu müssen, aber sie glaubte es mit einer zornigen inneren Abwehr, mit einer verächtlichen Auflehnung gegen die Torheit und Verantwortungslosigkeit anderer. Unbewußt, nur dem Triebe nach augenblicklicher Entspannung folgend, trat sie weiter hinaus. Fürchterlich, diese Nacht voll Kampflärm und Glut! Es war ihr, als ob die Hitze aus den Mauern schlüge, als ob der Lärm an ihnen widerhalle. Und plötzlich lief sie rasch und leise den Garten hinab, fühlte sich frei und erlöst und besann sich endlich der gesattelten Pferde. Sie umschritt das Haus, schwang sich auf eines der Tiere, riß einen der Mantelsäcke an sich und ritt davon.


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