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2.

Schon am 5. Juli hatte Herr von Lescure seine Leute wieder in seiner festen und mutigen Hand, so daß er Westermann in Châtillon angreifen und nach einer kurzen und ausnehmend wilden Schlacht auch glücklich vertreiben konnte. Westermann, der an Munitionsmangel litt, zog sich auf Bressuire zurück, und jedermann hielt ihn für abgetan; man war nicht gewöhnt, daß der Konvent seinen Generälen einen Mißerfolg vergab. Am 6. Juli zog der Oberste Rat, zog Gerichtshof und Druckerei, zog die ganze Bauernschar in so begeistertem Triumphe nach Châtillon zurück, wie sie in Jammer und Verzagtheit von dort weggezogen war, und alles war wieder voll des Glaubens an Gottes und der Heiligen Hilfe und Gunst. Das » Bulletin de la Vendée« brachte einen herrlichen Aufruf, in welchem die Bauern mit den Makkabäern verglichen wurden, und ein Festgottesdienst, wie er nie erhört war, ließ Glocken und Orgel im alten Städtchen erbrausen, daß die Dörfer der Umgebung, soweit sie noch standen, den jüngsten Tag gekommen glaubten. Die »Königliche und Katholische Armee« verfügte jetzt auch über einen Bischof, um den sich geheimnisvoll die Geschichte eines stillen Märtyrertums breitete. Und nun zog Bonvouloir wieder als dienende Vertraute in das Haus der Lescure ein, wo auch der immer noch fiebernde van Duyren und Louise Heimatrecht genossen.

Louise war sehr still geworden, ihre Kampflust, die Beharrlichkeit ihres Angriffs auf alles, was ihr Unrecht schien, war sonderbar gedämpft. Dieser Zustand war freilich nicht schwer zu deuten. Der große, reine republikanische Gedanke, den sie mit solcher Überzeugung und so oft verkündet hatte, hielt er stand vor einem zerstörten Heim, vor gemordeten Eltern? Van Duyren sah das bleichgewordene Mädchen an und vermied mitleidvoll jede Erinnerung an frühere Gespräche. Er ahnte, daß alles äußere Erleben an Bitterkeit ungesättigt erscheinen mußte neben dem, was Louise jetzt in ihrem Herzen durchkämpfte.

Van Duyrens Wunde, die mit einer Salbe aus Eigelb, Wein und einigen Kräuterabsuden behandelt wurde, läuterte sich langsam in unendlichen Fieberschauern. Louise pflegte ihn frauenhaft lieb mit einer Heiterkeit, die sie Mühe kostete und deren Preis er mitfühlend durchschaute. Sie war weicher geworden durch das Unglück, bereiter, sich lieben zu lassen und zu vertrauen; es wurde unter dem Paare ausgemacht, daß die Vermählung stattfinden sollte, sobald eine halbwegs anständige Trauerzeit vorübergegangen sein würde. Van Duyren war glücklich, Louise, scheinbar zufrieden, sah gleichwohl verfallen und matt aus. Jedermann schrieb diesen Zustand der Erschütterung zu, die auch ein festes Gemüt nach einem so schrecklichen Verluste empfinden darf. Der Grund lag indes wohl noch tiefer.

Wenn van Duyren schlummerte oder allein sein wollte, um strategische Pläne auszuarbeiten, saß Louise müde in einer der tiefgebuchteten Fensternischen und grübelte. Mußte ein Gedanke von so einfacher, überzeugender Schönheit wie der von der Brüderlichkeit aller Menschen solche Apostel in die Welt schicken, wie dieser Westermann war? Zugegeben, die Adligen hatten gefehlt – gab es keinen anderen Weg, ihnen die sittliche Macht des neuen Staates zu beweisen, als diese grausame Rachsucht? War dies das Werk fanatischer Toren, warum räumte die aufgeklärte Menge ihnen Herrscherrechte ein? War es Übereifer, der Wunsch, vor dem Konvent zu bestehen, Lorbeeren zu ernten oder Strafe zu vermeiden, wozu hatte man dann die Könige gestürzt? Oder war Brüderlichkeit überhaupt ein Traum, und war es je und je die brutale Kraft, die sich breit machte unter welcher Fahne auch immer, und die morden mußte, weil Mord ihr Lebenselement ist? Fragen genug für ein armes, ungelehrtes Mädchen! Die Menschen jener Zeit kannten nur wenige Blätter aus dem großen Lehrbuch der Geschichte, sie waren ganz auf die Aufschlüsse angewiesen, die ihnen ihr eigenes Herz gab.

Louise wußte: einen Mann gab es, und der saß ganz nahe in einer bescheidenen Straße von Châtillon, der hätte ihr Klarheit geben können über vieles. Aber eine neue Scheu hielt sie ab, ihn aufzusuchen. Würde er nicht sprechen, und mit Recht sprechen: »Die Adligen haben den Krieg vom Zaune gebrochen. Die Republik hat ihnen Zeit gelassen, die Aufstände zu beschwichtigen, sie hat mütterlich Geduld geübt, die nicht genützt wurde. Sie weiß von den Botschaften nach England, an die Emigranten, an die Mächte Europas. Sie weiß, daß die Adligen die junge Nation, die an allen ihren Grenzen so schwer bedroht ist, auch noch von innen her zu zerfleischen suchen. Ist diese Strafe wirklich so hart gewesen? War sie nicht vielleicht noch zu ehrenvoll für – Hochverräter?« Gewiß, so würde Livarot fragen, und was sollte Louise auf diese Fragen erwidern?

Sie trug ihre Ratlosigkeit, ihren Zweifel an allen göttlichen Wahrheiten mehr als eine Woche lang, dann kam ein Augenblick, wo sie sich gezwungen sah, Livarot aufzusuchen, unabhängig von den Empfindungen, denen sie sich dabei aussetzte. Sie brauchte Geld. Noch war sie beinahe in den gleichen Kleidern, mit denen sie aus La Grange geflohen war, hatte die geretteten Kostbarkeiten verpfändet, um Nötiges zu bestreiten, und mußte wohl oder übel an ihre Zukunft denken. Livarot hatte ihren Vater zuvor beraten, er war der Nächste, an den sie sich um Rat wenden mußte. Die Lescures hatten ihr freilich unbeschränkte Hilfe angeboten, eine Abrechnung nach dem Kriege in Aussicht gestellt. Aber Louise glaubte nicht, daß es jemals zu dieser Abrechnung kommen würde.

Sie suchte also den Advokaten auf und wurde von Frau Livarot mit vielen Tränen des Mitleids und mit vielen wohlgemeinten Worten empfangen. Die gutherzige Frau dachte nicht daran, der Schwergeprüften eine Schuld ihrer Kaste vorzurechnen. Auch Livarot sprach die Worte nicht, vor denen Louise sich im stillen gefürchtet hatte. Er sagte einfach: »Sie haben Furchtbares erlebt, Fräulein Texier! Ist es Ihnen ein Trost zu denken, daß Ihre Eltern und Ihre Schwester als Märtyrer ihrer Überzeugung gestorben sind?«

Louise senkte den Kopf und sagte: »Es muß mir ein Trost sein, da ich keinen anderen habe.« Dann erzählte sie Livarot, warum sie gekommen sei. Livarot dachte nach und erwiderte bekümmert: »Ich fürchte, man wird Ihr Eigentumsrecht bestreiten, sobald die Republik so weit Atem schöpfen kann, um an die Abrechnung mit den Besiegten zu gehen. Ihr Besitz wird dem Staate verfallen. Trotzdem gibt es einen Weg, Ihnen wenigstens einen Teil zu retten: wir müssen einen Käufer finden für die entlegeneren Meierhöfe, und dieser Käufer muß ein Mann der Republik sein, angesehen genug, um nicht fürchten zu müssen, daß man ihn später für diesen Kauf zur Rechenschaft zieht. Wollen Sie mir Vollmacht geben, einen solchen Käufer zu finden? Daß das Geld, das wir lösen, Ihnen unangefochten bleibt, wird die geringere Sorge sein: ich lasse es auf meinen Namen schreiben und gebe Ihnen Quittung und Abrechnung darüber.«

Der Vorschlag wurde erwogen. Es stellte sich heraus, daß zwei Meierhöfe so lose mit dem Besitze der Texiers verbunden waren, daß aus dem Stadtarchiv ihre Zugehörigkeit nicht nachgewiesen werden konnte. Freilich war der eine der beiden Höfe gerade der, auf den Louise ihr schönes Zukunftsbild gebaut hatte, wenn sie sich als Gattin an van Duyrens Seite träumte; sie bekam feuchte Augen, als sie davon sprach, ihn zu verkaufen. Aber Livarot erinnerte sie daran, daß ein Zufall ihr Besitzrecht daran entdecken konnte, und daß das kleine Anwesen dann dem Staate verfallen würde so gut wie das Schloß und der größere Besitz. Da willigte sie ein, es preiszugeben.

Der Käufer fand sich schon nach wenigen Tagen, und Louise sah sich im Besitze eines kleinen Vermögens, das sie wenigstens für eine Reihe von Jahren vor Mangel schützen konnte: eine bescheidene Morgengabe für ihre Ehe. Als Livarot ihr eine Quittung ausstellen wollte, sah sie erst das Papier, dann das stille, demütige Gesicht des kleinen Mannes sinnend an. »Livarot,« sagte sie dann, »wenn diese Quittung bei mir gefunden wird, so sind Sie schwer gefährdet. Und wer bürgt, daß sie nicht gefunden werde? Wir leben im Kriege und ich kann in die Hände der strafenden Republik fallen, so gut wie meine Eltern. Behalten Sie dies Papier! Ich weiß, daß Sie mich nicht um den Wert eines Hellers kürzen werden. Verwalten Sie dies Geld, sagen Sie mir jeweilen, wie ich mich einzurichten habe; und wenn ich sterbe, geben Sie es meinem Verlobten, oder nach diesem an Frau von Lescure. Nichts Geschriebenes! Ich muß jetzt mein ganzes Vertrauen auf einen Republikaner setzen, sonst verzweifle ich völlig an der Republik.«

Livarot reichte ihr die Hand, ohne ein Wort zu sprechen. Sein Gesicht war tief erglüht, sein Mund zitterte leicht in den Winkeln, seine Augen hatten eine strahlende Tiefe, wie Louise sie noch an keinem Menschen gesehen zu haben glaubte. Nach einer Weile sagte er schüchtern: »Wenn es dahin kommen könnte, daß eine Ihnen feindliche Hand dies Papier bei Ihnen fände, wäre es wohl kaum von Wichtigkeit, was nach diesem noch aus mir würde.« Louise verließ ihn mit einem verworrenen Gefühle von Dankbarkeit und Reue.

Sie erzählte nun van Duyren, was sie getan hatte, und fand seinen Beifall in allen Dingen, bis auf das letzte. Er hielt es für gefährlich und töricht, das Geld in der Hand eines offenkundigen Sansculotten zu lassen. »Er wird dich bestehlen, und du hast keine Waffe gegen ihn.« Louise sagte: »Ohne ihn hätte ich nichts bekommen von all diesem Gelde. Er ist redlich, und seine menschliche Anhänglichkeit ist stärker als sein politisches Bekenntnis.« – »Laß sehen, für wie lange!« erwiderte van Duyren. Dann wurde die Sache weiter nicht mehr erörtert. Van Duyren rechnete mit einer Wiederergreifung des ganzen Besitzes, sobald der Sieg vollends erfochten sein würde. Es konnte sich nur noch um wenige Wochen handeln.

Louisens Herz war plötzlich um ein geringes leichter geworden, sie begriff selbst nicht, warum. Aber sie schrieb es dem beruhigenden Eindrücke von äußerster Redlichkeit und Güte zu, den sie bei dem Ehepaar Livarot empfangen hatte, und sie ging von da an ab und zu in das schlichte Haus der einstigen Kameradin. Um Mißdeutungen zu vermeiden, nahm sie Bonvouloir mit, und diese brachte ihrerseits ein Anliegen zu Livarot, den sie nach vielen Seiten hin unterrichtet glaubte: konnte er nichts über den Aufenthalt ihres Vaters in Erfahrung bringen? Und nun war sie es, die durch diese Frage das Gespräch gerade auf das Gebiet brachte, das zu vermeiden Louise sich so fest zugeschworen hatte: auf den Aufstand und seinen tatsächlichen Verlauf.

Die »Königliche Regierung« saß siegesfroh in Châtillon und regierte im Namen Ludwig XVII., druckte Geld, hielt Gericht, schloß Ehen und setzte Priester ein. In bezug auf die freiherrlichen Rechte hielt sich diese neue Regierung unbedingt an die Gesetze, die vor 1789 gegolten hatten. Die vom Konvent oder der »sogenannten« Nationalversammlung eingesetzten Tribunale galten für abgesetzt, wer sich an sie wandte oder für sie arbeitete, wurde als Rebell bestraft. Diese Regeln wurden in großen, weithin lesbaren Plakaten gedruckt und oft genug vervielfältigt, um an die Rathaus- oder Kirchentüren sämtlicher eroberter Gemeinden angeschlagen zu werden.

Nur leider, daß sie gar nicht oder kaum zur Anwendung kamen! Denn mit den Eroberungen ging es wie bisher, Städte wurden gestürmt, aber nicht gehalten, und in sehr vielen Fällen erlitt die Vendée empfindliche Niederlagen. Westermann hatte in den Generalen Rosignol, Canclaux und Tuncq geübte und entschlossene Helfer bekommen, und während man, wie in geheimer Verabredung, Châtillon ruhig im Besitz der Aufständischen ließ, entriß man ihnen an den Grenzen ihres Gebietes Stadt um Stadt, verbrannte Schloß um Schloß, und trieb die entheimatete Bevölkerung in immer engeren Ringen gegen die Mitte des Landes. Nichts davon erfuhr Louise von den Lescures oder von ihrem Verlobten! Keiner, der zur Königlichen Partei in Châtillon gehörte, schien etwas davon zu wissen, und fiel ein Wort, das darauf hindeutete, so wurde Verrat geschrien und der Unliebsame durch Schmähungen zum Schweigen gebracht. Die kleinen Siege bei Vihiers und Coron wurden mit Gebet und Glockenklang gefeiert. Das Herbeiströmen immer wachsender Bauernhorden wurde falsch gedeutet; man sah ein begeistertes Anwachsen der Armee in diesem Gefolge, das nur Obdachlose und Erbitterte brachte. Immer wieder verkündete das Bulletin de la Vendée den nahen Sieg. Mißerfolge, die nicht verschwiegen werden konnten, schrieb man der sengenden Hitze dieser Julitage zu, dem Mangel an Wasser, und vergaß, daß die Republikaner kein kühleres Wetter hatten und daß sie standhielten, auch wenn ganze Reihen von ihnen schwer erkrankt aus dem Gefecht gezogen werden mußten.

Livarot wußte Bescheid, und er gab, obgleich widerstrebend, der drängenden Freundin preis, was er wußte. Louise versuchte einige Male, van Duyren von dem zu unterrichten, was der Advokat ihr verraten hatte, aber sie erregte nur den heftigsten Zorn und wurde Lügen gestraft in allen Punkten. Die Republik log. Sie mußte lügen, um nicht die letzten Kämpfer zu verlieren. Es war eine Schmach, solche Dinge zu glauben. Und nun folgte ein Verbot, die erste Äußerung der männlichen Herrschaft in dieser noch ungeschlossenen Ehe: das Verbot, Livarots Haus je wieder zu betreten.

Louise wagte einen Einwand: »Livarot hat sich mir hilfreich erwiesen, es würde mir weh tun ihn zu kränken. Bedenke, daß er mir einen Teil meines Vermögens gerettet hat! Ohne ihn wäre alles dem Staate verfallen.« Aber diese Worte waren nicht geschaffen, van Duyren zu besänftigen. »Hilfreich?« rief er womöglich noch ärgerlicher als vorher. »Geschäftig hat er sich gemacht, ganz zwecklos und überflüssig hat er sich in deine Angelegenheiten gedrängt! Denn dieser famose Dienst, den er dir da geleistet hat, der hätte doch nur Bedeutung, wenn das, was er Staat nennt, wirklich bestünde, wenn das Regiment dieser Räuberbande mehr wäre als eine vorübergehende Unordnung. In vier Wochen sind wir fertig mit diesen Herren Patrioten, und wer sollte dann wohl wagen, Hand an unser Eigentum zu legen? Dieser Verkauf wird dann so ungültig sein, wie alles was unter dieser sogenannten Regierung vor sich gegangen ist! Aber daß du, eine Texier, ihn eingegangen bist und damit dieser angedrohten Beschlagnahme auch nur einen Schatten von Wichtigkeit, auch nur einen Gedanken an ihre Möglichkeit beigelegt hast, das war eine Unwürdigkeit, das war ein Verrat an unserer Sache! Kannst du, kannst du auch nur von weitem dir vorstellen, daß die Republik Bestand habe?«

Louise erschrak. Wahrlich, eine so grundsätzlich verschiedene Betrachtung der Dinge konnte auch einen gewiegteren Denker, als sie war, erschrecken! Ihr erschien die Republik keineswegs als etwas Vorübergehendes und leichtlich Abgetanes, sie konnte freilich nicht sagen, warum. Aber ein Gefühl, klarer und sicherer als das Gefühl von Tag und Nacht, von Nah und Fern oder von Gut und Böse, sagte ihr, daß da ein Weg betreten war, der vorwärts führte. Ein Weg, auf dem es keine Umkehr gab! Und wenn die »Königliche und Katholische Armee« siegte? Weiß Gott, dann würde es noch einmal ein 1789 geben, einen Sturm auf eine andere Bastille – vielleicht noch einen König auf dem Schafott! Und plötzlich, an Hand einer einfachen, geschäftlichen Erwägung, kam Louise zu dem Bewußtsein, das auch für sie ein beinahe niederschmetterndes war: daß sie fester an den Bestand der Republik glaubte als an den Sieg der Kaste, der sie angehörte!


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