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4.

Es versteht sich von selbst, daß von diesem Tage an Louise das Haus des Advokaten nicht mehr betrat: Bonvouloir hatte ihr die Deutung gezeigt, der sie sich aussetzte, und Louise war stolz genug auf ihre Ehre, um die Warnung anzunehmen. Sie schrieb ein freundliches Briefchen an Frau Livarot, in welchem sie ein längeres Ausbleiben durch eine leichte Unpäßlichkeit entschuldigte. Dann nahm sie mutig und hochgesinnt die Einsamkeit auf sich, in der ihr Geist von nun an leben, mußte.

Mit van Duyren gab es, vollends solange er ruhebedürftig war, keinerlei Aussprache, ebensowenig mit Frau von Lescure, die mit gleicher Festigkeit an die Wiederherstellung des Königtums glaubte und für die jedes Wort von Livarot eine Lästerung des Höchsten und Heiligsten gewesen wäre. Wen gab es sonst in diesem Kreise gläubiger Anhänger der Krone, dem Louise nur mit dem leisesten Zweifel an dem Gelingen des Unternehmens hätte nahen dürfen? Niemand. Sie mußte von nun an versuchen, allein mit den dunklen Mächten ihres Gemütes fertig zu werden. Allein mit der bangen Gewißheit, daß die königliche Sache von gewaltigen und zielbewußten Gegnern bedroht sei, allein mit dem Mißtrauen in die Aufrichtigkeit der Führer, allein mit der Einsicht in die Lebenskraft der neuen Ideen, in die Verbrauchtheit der alten. Wahrlich, es lag keine geringe Last auf ihren schmalen und aufrechten Schultern, und tragbar war sie nur durch das unvergängliche Belebungsmittel einer großen und innigen Liebe. Louisens erstes Gebot war, nicht zu verletzen, weder den Mann, dem sie ihr Herz geschenkt hatte, noch die Freunde, die ihr Vater und Mutter ersetzen wollten. Sie schwieg also, täuschte eine wärmere Beteiligung an den Vorgängen des Krieges vor, sprach Hoffnungen aus, die sie als unerfüllbar kannte. Es war ein unsagbar peinigender Zustand, eine ununterbrochene Selbstverleugnung. Sie nahm die Last auf sich, mitleidvoll, beinahe mütterlich opferfreudig, und zitterte nur vor dem Augenblicke, wo die Ereignisse des Krieges die Täuschung, die sie unterhielt, zerreißen würden.

Bonvouloirs Verschwinden erregte Besorgnisse, rief Fragen wach. Louise, die fest entschlossen war, weder sich noch die Arme preiszugeben, fand eine glaubwürdige Erklärung: Bonvouloir wäre gegangen, das Tagebuch Henriettens zu suchen, nun, da die Umgebung von Châtillon leidlich sicher war. Man glaubte ihr, und da man die selbständige Art des Mädchens kannte, gab man sich keinen weiteren Vermutungen hin. Herr van Duyren sagte: »Sie wird wiederkommen, wenn sie uns braucht.«

Übrigens brachten die nächsten Tage Erregungen, die es begreiflich machten, daß man des Flüchtlings vergaß. Westermann war keineswegs, wie jedermann erwartet hatte, vom Kriegsgericht verurteilt worden: er hatte es verstanden, die Schuld am Verluste Châtillons einigen Offizieren adliger Herkunft aufzubürden, die in seiner Armee gedient hatten, und diese büßten nun dafür. Er selbst war wieder in sein Amt eingesetzt, und man wußte, daß er zu neuen Schlägen rüstete. Im Süden des Landes, von Luçon aus, stieß der General Tuncq in raschen und wohlüberlegten Angriffen wie ein Raubvogel mitten in die Bauernscharen hinein; es hieß, er habe viertausend Aufständische zersprengt, zum Teil getötet, zum Teil gefangen. Unbestreitbar wahr erwies sich leider der anfangs mit Empörung zurückgewiesene Bericht, daß der alte Sapinaud de la Veirrie, dessen militärische Erfahrung viel galt und oft zu Rate gezogen werden mußte, von Tuncq gefangen und nach schweren Mißhandlungen hingerichtet worden sei. Herr von Lescure hatte Tränen in den Augen, als er, von Chantonnay kommend, die Nachricht heimbrachte. Von Saumur aus schickte Herr von Larochejacquelein beunruhigende Botschaft: er könne die Stadt nicht mehr lange halten, die Bauern ließen ihn im Stiche, sie begehrten heimzuziehen, wie immer abhold dem nervenspannenden Nichtstun auf fremden Wällen, ohne Kampf, ohne sichtbaren Gewinn. Lescure ließ ihm sagen, daß ein neuer Angriff auf Nantes im Werke sei; noch wenige Tage, und er werde ihm an den Ufern der Loire entgegenkommen, die Vereinigung, die den ganzen Strom zur Heerstraße der Vendée machen sollte, zu vollziehen. Aber Herr von Lescure erkrankte schwer, weil er Wasser aus einem versiegenden Brunnen getrunken hatte, und der Angriff auf Nantes erfolgte nicht. Herr d'Elbée lag mit einem zerschmetterten Ellbogen in seinem Landhause bei Beaupréau. Nur Stofflet und der unerschütterliche alte Herr von Royrand meldeten noch geringe Erfolge.

Diese Schläge, dumpf wie ferner Geschützdonner, fielen in eine seelische und körperliche Erschlaffung, die eine maßlose, selten erlebte Sommerhitze hervorgebracht hatte. Sie schienen kaum zu treffen. Die Mattigkeit, verstärkt durch das ungewohnte Leben in einer Stadt mit engen, ungesunden und vielfach überfüllten Gassen, machte wehrlos, selbst gegen die Gefahr. Frau von Lescure seufzte leise, wenn sie von Clisson sprach, wo mächtige alte Bäume, tief geneigt über den Spiegel der großen, klaren Teiche, Kühlung und Gesundheit schenkten. Sie wäre gern mit ihrem Kranken ins offene Land hinausgezogen, gleichviel auf welchen einsamen Hof, wenn er nur Wasser und Milch zu bieten gehabt hätte; kopfschüttelnd wehrten die Führer das unmögliche Ansinnen ab. So ergab sie sich still der Notwendigkeit des Krieges.

Louise vernahm wie die anderen die besorgniserregenden Berichte, schleppte wie die anderen durch bleierne Müdigkeit die nagenden Gedanken, die nur fragen und bangen konnten, aber keinen klaren Entschluß abwehrenden Handelns hervorbringen. Auch die Bauern waren erschöpft. Die meisten hatten sich irgendwie in den Wäldern verloren, viele waren heimgekehrt auf ihre verbrannten Höfe, nur eine Schar von Frauen, Greisen, Kindern und Kranken lag schutzsuchend noch immer in kleinen Lagern um die Mauern der Stadt. Die kleinen Verbände, die man soldatisch auszubilden bestrebt war, und die in einem eigenen Lager vor der Stadt ihre Tage mit Übungen verbringen mußten, die ihnen teils unverständlich, teils unbequem erschienen, zeigten sich verdrossen, verweigerten jede Dienstleistung bei so drückender Glut; man mußte sie gewähren lassen.

Trotz dieser wahrlich glückverlassenen Zeit schien es Louisen jedoch, als ob die Zuversicht und Siegeshoffnung der Aufständischen nicht einen Augenblick ernstlich ins Wanken gekommen sei. Die Rückschläge wurden als unvermeidlich hingenommen, man tröstete sich damit, daß noch kein Unternehmen der Welt auf gerader Bahn zum Siege geführt habe, und die beliebten frommen Hinweise auf »Prüfung« und »unerforschlichen Ratschluß Gottes« traten häufig in Kraft. Louise fragte sich, ob dies Leichtsinn oder Verblendung sei? Sie beobachtete still, und eine unabweisbare Erkenntnis lehrte sie, daß es Glaube war. Livarots Wort, daß so gut wie kein Mensch an Gott glaube, fand sich hier widerlegt: diese Adligen, Männer wie Frauen, glaubten ganz offensichtlich mit einer so unerschütterlichen Festigkeit, daß sie der warnenden Vernunft unzugänglich waren. Frau von Lescure las abends die Geschichte der Makkabäer vor, las sie immer wieder, und es war nicht zu leugnen, die schweigsamen Hörer schöpften Kraft aus dem erhebenden Vergleiche. Louise fühlte sich bewegt, von neuen Zweifeln befallen: nein, jetzt mußte sie doch bekennen, daß auch ein Livarot sich irren konnte! Ein Glaube, der solche demütig zuwartende Zuversicht gebar, war kein verbrauchtes Werkzeug! Wenn Frau von Lescure mit kindlich frommem Ausdrucke sagte: »Wir wissen, daß wir Seinen Willen tun, warum sollte uns vor dem Ausgang bangen?« dann brannten Louisens Augen von Tränen, die zu weinen sie sich schämte. Sie zeigte sich in diesen Tagen von einer neuen Holdheit, war weicher als je in ihren Worten, lehnte sich liebender über ihren genesenden Freund. Sie hätte jetzt Welten drum gegeben, wenn sie die Überzeugung hätte besitzen können, die sie bisher so streng verurteilt hatte: die Überzeugung, im Einklang mit dem höchsten Willen zu handeln.

Dann wieder gab es Stunden für sie, in denen gerade diese Überzeugung ihr als wildeste Vermessenheit erschien. Das war, wenn sie durch die Straßen gegangen war oder gar ein Stückchen Weg vor die Tore hinaus gemacht hatte, und wenn sie dabei den Menschen ins Gesicht sehen mußte, die durch diese Überzeugung aus ihrer friedlichen Lebensbahn geworfen waren, überall lungerten müßige Soldaten herum, verdrossen, zu Händeln geneigt, hungrig und zerlumpt, und an allen Haustüren hockten Weiber mit müden, sorgengrauen und oft mit kranken Gesichtern. Sie sah auch Verwundete, die draußen vor den Toren in Planwagen lagen, nur durch die dünne Leinwand vor dem grausamen Stiche dieser fürchterlichen Julisonne geschützt, buchstäblich verschmachtend. Sie sah Häuser, die ihre großen, kühlen, steingepflasterten Höfe den Unglücklichen zur Verfügung gestellt hatten, und die verpestet waren von dem Geruche der eiternden Wunden. Sie sah Kinder stehlen, sie sah Bauernfrauen, die würdig und gesetzt aussahen, betteln und heulen für Säuglinge, denen es an Milch fehlte. Sie sah eine so unerwartete lange Kette von Elend und Entbehrungen, daß sie die Geduld der Bauern zu bewundern begann. Freilich, was blieb ihnen übrig als zu dulden? Wer gab ihnen die Heimstatt wieder, die der Krieg ihnen genommen hatte? »Wenn ich der König wäre,« sagte sich das fühlende Mädchen, »ich stürbe lieber zehnmal, als daß ich diese guten und einfältigen Leute um meinetwillen in solche Not brächte. Und wenn ich Gott wäre, ich wüßte meinen Willen anders zu erfüllen, als durch die armseligen Waffen dieser Handvoll Menschheit.« Sie empfand mit Empörung, wie leicht die sonst keineswegs hartherzigen Führer die Verantwortung für so viel Leiden trugen.

Sie sprach diese Gedanken nicht aus, aber Agathe, von der sie sich jetzt begleiten ließ, und deren derbes und wortreiches Mitleid das Haus Lescure mit den Schilderungen der traurigen Bilder erfüllte, griff mit ihrer festen Bauernhand den Edlen ins Gewissen. »Er müßte einmal sehen können, was man für ihn aushält, der König,« meinte sie unbefangen. Frau von Lescure fand, wie immer, die beschwichtigende Antwort. »Er leidet auch,« sagte sie, »und er ist es weniger gewöhnt als wir anderen. Wir alle leiden für das gleiche Ziel: für die Ordnung, die Frankreich glücklich und groß gemacht hat. Gott prüft uns schwer; aber es ist sein heiliger Wille so, und er wird uns zu lohnen wissen.« Agathens einfältiges Herz gab sich ohne weiteres zufrieden. Louise grübelte über diese im Namen Gottes versprochene Belohnung nach und fragte sich bitter: »Wie aber, wenn dieser Lohn ausbleibt?«

Eines Tages, als sie wieder durch die Straßen ging, fiel ihr Blick auf eine der Ankündigungen des Obersten Rates, die durch Zufall an einer stillen Ecke hängen geblieben und noch leserlich war; die meisten dieser Plakate hatten die Westermannschen Soldaten während der kurzen Besetzung der Stadt abgerissen. Sie trat gedankenvoll an die weiße Tafel heran und las die kräftig gedruckten, durch leuchtende Anfangsbuchstaben zur Aufmerksamkeit rufenden Worte. Sie lauteten:

»Da wir über die Absichten Seiner christlichen Majestät, Ludwig XVII., Königs von Frankreich, nicht im Zweifel sein können, soweit sie das Verdienst und die Belohnung Seiner tapferen und treuen Untertanen betreffen, die sich für Seine Heilige Sache und die der katholischen Kirche opfern, so befehlen wir allen Räten und Verwaltungen in den verschiedenen Gemeinden, für die Frauen und Kinder derer, die für uns kämpfen, zu sorgen. Sie sollen ferner Empfangsscheine für das unseren Heeren gelieferte Getreide ausstellen, von denen sie Abschriften an den Obersten Rat zu schicken haben. Ebenso sollen Listen angefertigt werden in allen Gemeinden, enthaltend die Namen der Männer, die nicht ein- oder zweimal, sondern bei jedem Aufrufe für unsere Sache eintreten. Nach diesen Listen wird zu urteilen sein, welche Gemeinden, Dörfer und Familien einer Belohnung durch den König empfohlen werden sollen. Wer schlechten Willens erkannt wird oder es an Eifer für die Heilige Sache fehlen läßt, wird zu dem Steuersatz verurteilt, wie er bis 1792 bestanden hat. Denn wer die Gefahr nicht teilt, soll auch der Belohnung nicht teilhaftig werden.«

Die untere Hälfte des Plakates, die von den Pflichten und Befugnissen der Priester handelte, war durch Kritzeleien unleserlich gemacht. Gezeichnet war der Erlaß vom 1. Juni. Louise stand und starrte so lange auf die Schrift, daß ein alter Bauer, der vorüberging, neugierig wurde und sie bat, ihm den Inhalt vorzulesen. Sie tat es, langsam und mit guter Betonung, damit das Männlein folgen könne. Er verharrte eine Weile in Nachdenken, dann sagte er: »Wenn so große Herren, wie Herr von Lescure und der Herr Bischof etwas versprechen, dann muß man glauben, daß wir nicht betrogen werden sollen. Wir geben unser Blut gern. Aber was soll aus unseren Kindern werden, wenn der Herr König uns nicht belohnen kann?« Louise hatte eine Antwort bereit, die dem wildesten Jakobiner Ehre gemacht hätte. Aber ein Blick in das treuherzige Gesicht des Alten wandelte ihr die Worte auf den Lippen. »Warum sollte er es nicht können?« fragte sie mit freundlichem Ernste zurück. »Ihr gebt ihm ja seine Krone wieder.« Dann errötete sie so, daß es sie brannte, wandte sich rasch und ging sehr langsam und sehr betrübt nach Hause.


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