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9.

Sie verließen Guenrouel, wohlversorgt mit warmen Kleidern und mit Geld – auch Frau von Lescure hat solches von einfachen Leuten angenommen! – und mit Wegezeichen und Losungsworten für mannigfache Unterkunft. Langsam, viel zu langsam für Bonvouloirs liebebrennendes Herz wanderten sie wieder von stillem Gehöft zu stillem Gehöft, von verstecktem Dörfchen zu verstecktem Dörfchen. Louise war so schwach, daß sie nur etwa zwei Stunden des Tages gehen konnte, und auch bei Bonvouloir machte sich die vorgeschrittene Schwangerschaft bemerkbar. Sie saßen oft und rasteten, mit der eigenen Unzulänglichkeit hadernd, und mehr als einmal mußten sie tagelang in einem Dorfe verweilen, weil Fieber die eine, körperliche Schwerfälligkeit die andere niederzwangen. Auch in anderer Hinsicht stand ihre Wanderschaft unter einem dunklen und unheimlichen Walten. Man wies sie nirgends ab – aber man empfing sie wie ein Übel, aus dem es kein Entrinnen gibt. Die Bauern klagten zitternd ihre doppelte Not: entdeckten die Blauen verborgene Rebellenflüchtlinge bei ihnen, so wurden sie füsiliert; verweigerten sie aus Angst vor diesem Gerichte die Aufnahme, so folgte ihnen eine geheimnisvolle Feme, man fand die Ungastlichen am nächsten Tage ermordet mit dem Zeichen der Chouans, dem blutigen Beile, zu ihren Häupten. Gespenstisch klang, was von dem Zusammenwirken, der Allgegenwart, der unerbittlichen Gerechtigkeit dieser neuen Verteidiger des Königtums berichtet wurde, und Herr Jousselin hatte wohl recht gehabt zu sagen: »Sie sind fürchterlicher als die Blauen.« Sie waren auch fürchterlicher als die Banden des Boccage, so entartet diese in den letzten Wochen und Monaten gewesen sein mochten. Das waren nicht verzweifelte Bauernscharen, die ein verbranntes Heim zu rächen hatten, das waren entschlossene, grausame, zielbewußt treffende Mörder, die die Vernichtung zum Gebot erhoben hatten. Daneben waren sie eine Landplage, denn sie überfielen auf den Landstraßen, wer immer Handel und Wandel zu treiben hatte, da sie die Versorgung der Städte mit Lebensmitteln schon zu den todwürdigen Verbrechen rechneten. Alles Leben schien in Schrecken erstarrt, seit diese Unfaßbaren, oder auch nur der Schatten ihrer finsteren Gestalten, die Wälder der Bretagne bevölkerten.

Louise sagte: »Etwas Herrliches haben wir zuwege gebracht mit unserem Kampfe gegen die Republik! Das ist das Land, wo man einen Beutel Gold am Straßenrand liegen lassen und ein Kind durch den tiefsten Wald schicken konnte, sicher, daß beides unverletzt blieb! Das sind die Bauern, die ein Wort geleitet hat, die ihren Herren treu waren, auch als die Revolution sie freisprach, das sind die Einfältigen, die sich nie ihr Recht genommen hätten, die Guten, Demütigen, die wir mit Stolz denen entgegenhielten, die von den Greueln im östlichen Frankreich erzählten. Nun haben wir sie auch zu Bestien gemacht. Und was ist aus unserem Lande geworden? Denke an La Grange mit seiner Blumenterrasse, denke an Clisson mit dem Buchenhain um den silbernen Teich! Denke an hundert Orte, die schöner waren als diese! Denke an die Dörfer mit den lieblichen Glocken, an Erntegesang und Mühlengeklapper, denke an die lustigen Hörner der Eberjagd im Winter, an die hübschen Bauernmädchen, die Sonntags in den Schloßhof zum Tanzen kamen! Das alles haben wir zerstört, nachdem es die Revolution glücklich verschont hatte. Das ist die Ordnung, für die wir gekämpft haben: ein Trümmerfeld, auf dem sich Leichenräuber breit machen. Kann es einen verwerflicheren Wahnsinn geben?«

Bonvouloir antwortete ein wenig giftig: »Besprich das mit deinem Herrn Livarot, wenn du ihn wiedersiehst. Ich bin nicht klug genug, dir zu antworten. Aber mir scheint, wenn du das Schöne nennst, das dahin ist, solltest du auch den Opfermut nennen, der es gegeben, und gern gegeben hat. Du siehst nur Zerstörung: sieh auch die Entsagung derer, die die Zerstörung erleiden! Du siehst nur Unbotmäßigkeit: sieh auch Hingabe! Es sind viele Menschen schlecht geworden in dieser Zeit, aber es sind viele unendlich besser geworden, als sie je vorher waren. Und schließlich ist es einmal so in der Welt: auf jeden Guten muß ein Schlechter kommen, sonst könnte der Gute seine Gutheit ja nicht zeigen. Wo wäre die Tapferkeit, wenn niemand angriffe? Wo wäre die Liebe, wenn niemand haßte? Es ist keine Kunst brav zu sein, wenn einem nichts zuwider ist. Jetzt hat sich einmal zeigen sollen, ob die Menschen einen Gott haben oder nicht.«

Louise sagte schmerzvoll: »Das sind Spitzfindigkeiten. Die Natur weist uns den Weg zum Glück, zum Lieben, zu ruhigem Besitze, zur Pflege dessen, was lebt. Sie hat uns diesen Wunsch ins Herz gelegt. Wenn wir ihm nachgingen, wenn wir allen Menschen das Recht zugestünden, ihm nachzugehen, wäre die Welt ein Paradies. Wir allein mit törichtem Eigensinn schaffen das Leid. Der Wahn ist es, der alle Paradiese zerstört. Konnten wir nicht zufrieden sein mit dem, was durchaus erträglich war? Jetzt haben wir Unerträgliches hervorgebracht.«

Bonvouloir zuckte die Achseln. »Ob etwas erträglich ist, das weiß Gott, der es schickt. Noch leben wir, und wenn dies vorüber ist, so kommen vielleicht wieder Tage der Freude. Felder können wieder bestellt und Häuser wieder gebaut werden. Wir wollen nicht jammern wegen ein bißchen Unglück. Wer sagt denn, daß der Mensch immer glücklich sein soll? Man muß auch einmal zeigen, was man entbehren kann.«

»Und die Toten?« fragte Louise. »Können die auch wiederkommen? Kann man die auch entbehren? Bonvouloir, du sprichst, als ob wir nichts zu verlieren hätten!« Darauf freilich blieb Bonvouloir die Antwort schuldig.

Der Ruf unerhörter Greuel knüpfte sich übrigens nicht allein an den Namen der Chouans. Auch aus dem Marais drangen Gerüchte, die den Frauen das Blut gefrieren ließen. Charette hatte längst wieder kampftüchtige Scharen um sich gesammelt, und hatte er sie vorher zur Roheit erzogen, so lehrte er sie jetzt das Verbrechen. »Nur wer keine Gnade mehr zu hoffen hat, kämpft mit äußerster Kraft,« pflegte er zu sagen und trieb seine Leute zu Dingen, die ihnen keinen Weg offen ließen als den zum Galgen oder den zum Sieg. Und tatsächlich siegten sie wieder in mehr als einem Falle.

Louise litt unsagbar, wenn sie die empörenden Gerüchte vernahm. Sie sah in Charette noch immer einen der Ihren, den Mann, der Lescures Freund gewesen war, und sie fühlte die Vendée beschmutzt durch seine Ruchlosigkeit. Bonvouloir, die Charette abgeneigt war, weil Heinrich ihn nicht liebte, nahm die Dinge kaltblütiger. »Mich beunruhigt nur,« sagte sie eines Tages, »daß wir von Heinrich nicht auch dergleichen hören; das bedeutet, fürchte ich, daß er keine wesentlichen Erfolge hat. Man verleumdet nur, wen man fürchtet. Möchte er doch wieder einmal ›das Ungeheuer von Anjou‹ vor uns heißen!« Louise fuhr entrüstet in diese sehr menschliche Betrachtung. »Wer sollte es wagen,« rief sie, »diesem reinen Menschen solche Dinge nachzusagen? Er hat sich nie durch Blutdurst vor seinen Leuten erniedrigt, wie Charette es tut!« Aber Bonvouloir, die den Volksmund kennengelernt hatte, antwortete sachlich: »Als ich ihn zum erstenmal als Sieger sah, pflegte er kleine Kinder zu spießen. Ich wollte, er täte es wieder! Es war herrlich zu sehen, wie die Patrioten in Bressuire vor ihrem selbstgeschaffenen Gespenste zitterten! Nein, man muß einem Soldaten schon ein bißchen Teufelei zutrauen, die Furcht vor ihm ist sein bester Verbündeter.« Und mit plötzlich verfallendem Gesichte fügte sie leise hinzu: »Seit mehr als zehn Tagen erzählen sie nichts mehr von ihm, weder Gutes noch Schlechtes. Er kann doch nicht untätig sein! Ob er geschlagen ist?«

Es war ein bitterer Trost für Louise, daß nicht allein die Führer des Aufstandes als Bösewichter gebrandmarkt wurden. Die Schauermären über Charette verklangen in gegebener Zeit, und es kam eine Gegenwelle die Loire aufwärts, die Aller Zorn und Aller Entsetzen gegen den Stadtverordneten Carrier in Nantes aufrief. Immer häufiger erklang der neue Name, und was sich mit ihm verband, war Geheul der Erinnyen. Es hieß, er morde gefangene Vendéeleute in einer eigenen, höchst förderlichen Weise, indem er sie zu Fünfzigen auf einen alten Kahn bringen und diesen versenken ließ. Es hieß, er ließe die Hände abhacken, die aus den Wellen heraus nach einem Uferbalken, nach einem Bootsrande griffen. Es hieß, der also Getöteten seien so viele, daß sie sich an der Sandbarre der Loiremündung stauten und von der Flut wieder stromaufwärts gegen die Stadt getrieben wurden, Pest aushauchend gegen ihre Mörder. Wenn solche Dinge erzählt wurden am schwelenden Feuer eines einsamen Bauernhauses, während draußen Frühmärzstürme und Wölfe durch den Wald heulten, da konnte es sogar geschehen, daß Bonvouloir blaß wurde und kein Wort mehr fand. Diesmal war es Louise, die besonnen einwandte, man dürfe nicht jedes Gerücht glauben, das Weg und Wind einem zutrügen. Nur, daß sich eines Tages eine Geschichte verbreitete, die unbedingt Glauben forderte!

Jemand erzählte, daß Frau von Bonchamps bei einem Versuche, die Loire zu überschreiten, gefangen worden sei. Man habe sie nach Nantes geschleppt, eingekerkert und nach kurzer Frist auf eines der vielgenannten Todesboote bringen wollen. Im Augenblick, wo sie den Steg betreten sollte, sei ein Soldat der Stadtwache aus der Reihe gesprungen und habe leidenschaftlich um Erbarmen für die Dame gebeten, die er zu kennen vorgab. Er erzählte sodann, daß er unter den viertausend gefangenen Bürgern gewesen sei, die in Saint-Florent von den Offizieren der Vendée zum Tode verurteilt worden waren, weil man den Loireübergang nicht mit ihnen belasten wollte. Da habe der Gatte dieser Dame, schon sterbend, sich dafür eingesetzt, daß man die Gefangenen begnadige und entlasse, und seinem Willen, als dem letzten eines Edlen, hätten die Offiziere sich auch, jeder militärischen Sicherheit zum Trotz, gebeugt. Der Soldat beschrieb den Vorgang so rührend, daß eine starke Stimmung zugunsten der verurteilten Dame sprach, und das umstehende Volk schließlich ihre Befreiung bewirkte. Louise erschrak sehr, als sie diese Erzählung vernahm. Die Sache mit den viertausend Gefangenen hatte ihre Richtigkeit, sollte das übrige dann erlogen sein? Von da an begleitete ein tiefes Grauen die armen Frauen auf ihrer mühseligen Wanderung. Sie verbargen sich ängstlicher, bedachten sorgfältiger Rede und Auskunft, die sie etwa über ihren Weg geben sollten, und fürchteten sich mehr als sie je zuvor getan hatten vor einer Begegnung mit den Blauen. Ihre körperliche Schwäche war schuld, daß es am Ende doch über sie kam. Ein Sergeant mit vier Mann, der sie überholte, fand sie am Wegrande eingeschlafen und nahm sie mit sich, ohne noch zu ahnen, daß er eine gute Beute getan hatte. Unterwegs in einem Dorfe übergab er sie einem Posten, der Verdacht schöpfte, die Frauen auf einen kleinen Wagen packte und nach Nantes fuhr. Hier nun wollte es das Unglück, daß ein Beisitzer des Tribunals vorher in Châtillon gelebt hatte und vor der Vendée von dort entflohen war. Er erkannte Bonvouloir und ihre Herrin und Freundin sofort. Ohne sich erst lange mit Fragen aufzuhalten, erklärte er sie für Angehörige der Königlichen Armee und diktierte mit lauter Stimme dem Schreiber, der die Listen führte, ihre Namen:

»Louise Texier, Gattin des zu Ancenis standrechtlich erschossenen Will van Duyren, und Bonvouloir Perreault, Konkubine des kürzlich bei Trémentin gefallenen Heinrich von Larochejacquelein.«


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