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Louise war weniger glücklich als Bonvouloir, denn van Duyren stand bei der Vorhut d'Autichamps und half die kleinen republikanischen Garnisonen aus Varades und Ancenis vertreiben. Louise wußte nicht einmal, ob er noch unverletzt war. Sie suchte ihre Unruhe zu beschwichtigen, indem sie sich um den kranken Lescure, seinen Tragestuhl und die Bereitung des Wundbalsams bemühte, der täglich frisch hergestellt werden sollte und zu dem die nötigen Eier kaum noch aufzutreiben waren. Frau von Lescure war sehr ermattet, weil sie gesegneten Leibes und seit einigen Wochen nicht ganz rüstig war, man hatte vermocht, sie zu völliger Rast zu bewegen. Agathe sorgte für die Befriedigung der geringen leiblichen Bedürfnisse, eine Aufgabe, die unter den Umständen, in denen man sich befand, die Begabung eines Stabsoffiziers und die Geduld einer Mutter erforderte.
Das kleine Mädchen der Lescures fror bitterlich bei dem kalten Oktoberwetter. Um es zu erwärmen, nahm Louise es mit sich, wie sie von Haus zu Haus um Eier betteln ging, es taute auf und freute sich des Spazierganges durch die fremden Gassen. Viele Leute blieben stehen, bewunderten und bedauerten es, weil es so ins Ungewisse hinein geschleppt werden sollte, und weil es wohl bald eine arme Waise sein würde; zum Glücke verstand das kleine Wesen wenig von dem Dialekt der Loirebauern. Plötzlich bemerkte Louise, während sie eine stillere Straße durchschritt, um den ungelegenen Anreden zu entgehen, daß ein Knabe ihr beharrlich folgte, sie häufig ansah, aber augenscheinlich nicht wagte, unaufgefordert zu ihr zu sprechen. Sie rief ihn an: »Willst du etwas von mir?«, und augenblicklich huschte er an sie heran, hielt ihr ein Briefchen unter die Nase, ließ es in den Eierkorb fallen und verschwand rasch. Louise nahm ahnungsvoll das Papier auf und erkannte, wie sie erwartet hatte, daß es von Livarot stammte. Den Inhalt konnte sie erraten: er führte ihr vor Augen, wie recht er mit seinen düsteren Voraussagungen gehabt hatte, und lud sie noch einmal in rührenden und flehenden Ausdrücken ein, sich ihm anzuvertrauen, seinen wohlgeborgenen Zufluchtsort aufzusuchen und dort den Ausgang des Krieges abzuwarten. Er schwur, daß er sie nie unaufgefordert besuchen, daß er für sich selbst keinerlei Vergünstigung aus seinem Rechte an ihre Dankbarkeit ableiten, daß er nichts von ihr erbitten wolle, als ihr Leben nicht nutzlos dahinzugeben. Er nannte schließlich auch noch die Ecke hinter einer Kirche, wo sein Bote bis zum Abend auf Antwort warten werde.
Louise war mehr ärgerlich als gerührt, obgleich der Ton des Briefes leise an ihr Herz schlagen mußte. Sie überlegte, ob sie den Brief vernichten und ohne Antwort lassen sollte, oder ob sie mit einem Dankworte ihre Ablehnung, deren sie sicher war, noch einmal begründen müsse. Da fiel ihr Lescure ein und die arme tapfere Frau, die nun selbst von ihrer zarten Körperlichkeit übermannt zu werden drohte, und sie beschloß, ihr den Brief zu zeigen. Wenn sie sich entschließen konnte, den Kranken von der Armee zu lösen und mit ihm jene verborgene Einsamkeit aufzusuchen, dann wollte Louise um ihretwillen sich auch von van Duyren trennen, wollte bei ihr bleiben und ihr beistehen, wenn der furchtbare Augenblick des Abschiedes von dem Gatten kam, der Augenblick, der unfehlbar und bald zu erwarten war. Hier empfand Louise die Pflicht der Frau gegen die Frau tiefer, als die der Liebe gegen den Geliebten. Zeit genug, zu van Duyren zu eilen, wenn ihm, wovor Gott sein wolle, ein Kriegerschicksal zustieß!
Unter solchen Betrachtungen kehrte sie in ihr Quartier zurück, ließ sich von Agathen benachrichtigen, wann Frau von Lescure erwachte, und begab sich zu ihr, um ihr den Brief zu zeigen. Sie sah, daß Frau von Lescure einen inneren Kampf zu bestehen hatte: der Gedanke, ihrem Kranken Ruhe und Pflege bieten zu können, mußte eine große Kraft ausüben, die Möglichkeit, das ermüdete Kind in geordnete Lebensbedingungen bringen zu können, lockte nicht weniger, wenn auch erst bei zweitem Besinnen. Durfte sie Nein sagen um dieser beiden willen? Sie sah Louise mit tränennassen Augen an. »Ein Patriot, sagst du, aber menschlich und ergeben? Gibt es das? Und wie kommt er darauf, dir diesen Dienst anzubieten, der doch auch für ihn bedrohliche Folgen nach sich ziehen kann?« Louise, dem Ernst der Stunde über alle Bedenken weg zu genügen entschlossen, sagte ohne Umschweife: »Ich glaube, daß er mich liebt, wiewohl in einer bescheidenen und nicht kränkenden Weise. Ich halte es nicht für unrecht, diesen Dienst von ihm anzunehmen, er weiß, daß er nicht auf Lohn zu rechnen hat. Manchmal tun Menschen das Gute um des Guten willen, und warum sollen wir sie dann durch den Hinweis auf mögliche oder unmögliche Vergeltung kränken? Er wäre vielleicht glücklich, etwas von dem gutmachen zu können, was seine Gesinnungsgenossen an vielen von uns verbrochen haben.« – »Laß es mich noch einmal überdenken!« bat Frau von Lescure zitternd. Sie stand auf, ging im Zimmer hin und her, seufzte und setzte sich wieder, wie in Ermattung: »Es ist doch unmöglich,« sagte sie dann bedrückt. »Wie soll ich meinem Gatten vorschlagen, die Armee zu verlassen? Er wüßte denn, daß sein Zustand hoffnungslos ist!«
Sie überlegten noch eine lange Weile, ohne zu einem Troste zu gelangen. »Wenn er gesund wird, so wird er mir fluchen, ihn fortgebracht zu haben,« sagte Frau von Lescure, »und wenn er sterben muß, so soll es ein Feldherrntod sein, vor dem Feinde und vielleicht mit einer Siegesnachricht als Letztes. An ihn allein müssen wir jetzt denken. Ich weiß, daß er nun und nimmer dieser Aufforderung Folge geben würde, auch wenn er noch viel kränker wäre. – Und es ist ja doch noch Hoffnung auf plötzliche Besserung,« fügte sie mit brechender Stimme hinzu, »man hat ja dergleichen so oft erlebt und gehört! Ich kann nicht handeln, als ob sein Tod gewiß wäre.«
»Vielleicht,« wandte Louise ein, »würde er dort schneller genesen? Er hätte ein gutes Bett, Ruhe, Nahrung –.«
»Und keine Nachrichten von der Armee! Die Unruhe allein würde ihn töten. Und dann, wo ist dieser geheimnisvolle Zufluchtsort? Es kann eine so gefährliche und so mühselige Reise für ihn sein, als ob wir ihn über die Loire brächten. Und drüben findet er sicher auch, was ihm nottut.«
Louise wagte nicht zu sagen, daß diese letztere Hoffnung ihr allzu kühn erscheine, wenn man die Zustände bedenke, die eine Armee von achtzigtausend Flüchtlingen um sich her verbreiten müsse. Sie war, mit Heinrich, fast die einzige, die dieser nüchternen Erwägung fähig war, alle anderen, auch Frau von Lescure, glaubten drüben in volle Speicher langen zu können. So wurde Livarots treugemeinter Vorschlag also abgelehnt, und Louise schrieb für den wartenden Boten ein Briefchen, das so lautete.
»Mein Freund! Es hat sich nichts für uns geändert, und ich kann Ihren Dienst nicht annehmen, ohne vor denen, die mir nahestehen, verächtlich zu werden. Noch ist es unsere Pflicht, zu hoffen und zu vertrauen, daß der Sieg unser sein werde.
Ich danke Ihnen innig für Ihr Wohlmeinen! Sie sind ein guter Mensch, und auch ich habe mich immer bemüht, ein solcher zu sein, deshalb sind wir Freunde geworden. Menschen, die so viel von sich sagen können, dürfen auf das Gefühl der politischen Zusammengehörigkeit verzichten.
Sie sind noch Verwalter des kleinen Vermögens, das ich Ihnen danke. Wenn ich sterben sollte und es sollte noch etwas davon übrig sein, so verwenden Sie es, um den Bauern beim Wiederaufbau ihrer verbrannten Hütten zu helfen. Fragen Sie nicht, ob sie dann noch königlich gesinnt, oder ob sie unterdessen Patrioten geworden sind: wenn es nur brave und fleißige Menschen sind! Ich weiß, Sie werden das in meinem Sinne erfüllen, und ich grüße Sie zum letzten Male mit einem Worte des Dankes: daß es in dieser Welt Freundschaften gibt, die nur auf gemeinsames Streben nach reiner Menschlichkeit gegründet sind, nicht auf Gemeinsamkeit des Standes, der Gewohnheiten, der politischen Ziele, das gehört mit zu den Dingen, an die ich bis zu meinem Ende mit Freuden denken werde.
Ihre Freundin Louise Texier.«
Als Louise diese kurzen Zeilen geschrieben und hastig abgesandt hatte, ward sie von einem Gefühle sträflicher Unaufrichtigkeit gepeinigt. Dieser Brief war eine Ausflucht! Schlimmer noch, eine Ausflucht, die einen Mann wie Livarot nicht täuschen konnte. Ein guter Mensch! Livarot wußte so genau wie sie selbst, daß es nicht diese gegenseitige Anerkennung war, die das Band zwischen ihnen bildete. Ein guter Mensch zu sein war schließlich eine bescheidene Forderung, gegen sich selbst wie gegen andere. Nein, was Louise bei Livarot gesucht und gefunden hatte, waren seine Gedanken gewesen, die er ausgebreitet hatte vor ihr wie lichte Wolkenbrücken, unendlich zart und doch fest genug, um darauf hinüberzuschreiten in eine neue herrliche Welt. Die Gedanken von einem Reich der Gerechtigkeit und Liebe auf der ganzen Erde! Die Gedanken von gleich freien, gleich erzogenen, gleich denkenden Menschen, von weiser Erwägung des Förderlichen für die möglichst große Zahl, die Gedanken von der Entfesselung geistiger Quellen, die jetzt eingemauert lagen unter dem alten Schutt der Sonderrechte, der Vorurteile, der Unkenntnis des menschlichen Geistes! Wie weit hatte er ihren Blick geführt! Was für Paradiese hatte er ihr gezeigt! Und sie dankte ihm jetzt, indem sie die Schätze, die sie empfangen hatte, einfach ableugnete und als etwas Nebensächliches beiseite schob! Sie wurde rot vor sich selbst bei der Erkenntnis ihrer eigenen Feigheit.
Aber was er ihr gegeben hatte, war es wirklich lauteres Gold und nicht nur blinkender Schaum gewesen? Wenn sie es doch wüßte! Sie überdachte noch einmal, indem sie mit finsteren Brauen vor sich hinstarrte, die ganze Last der Zweifel, die sie seit fast drei Jahren mit sich schleppte. Was hatte sich denn erfüllt von all den Versprechungen, mit denen die begeisterten Befreier der Menschheit die Welt erfüllt hatten? Die alten Fesseln, deren Druck man kaum noch gespürt hatte, waren abgestreift, aber neue, tief ins Fleisch schneidende waren dafür angelegt worden. Frei geworden waren nur die Mörder, verbrüdert hatten sich nur die Gewaltsamen, gleich geworden war nur das Elend! Wenn sie Livarot darauf hinwies, hatte er sie immer mit der Berufung auf die Zeit, auf die Wachstumsgesetze auch der bescheidensten Pflanze getröstet, die sich nicht beeilen lassen. Die Zeit! Wenn man auf die Zeit vertraute, brauchte man an nichts Bestehendem zu rütteln: die Zeit würde besorgen, was nötig war.
Freilich, die, die da rüttelten, waren nicht die denkenden Lenker des Volkes gewesen, sondern diejenigen, denen die alten Ketten zu schwer geworden waren! Die jahrhundertelang gedarbt, entbehrt und auf die Zeit gehofft hatten, und denen sie nie Wort gehalten hatte! Die hatten nun, als sie die Hand, die sie lenkte, nur leise erschlaffen fühlten, den Zaum zwischen die Zähne genommen und hatten alles hinter sich hergerissen, Lenker wie Gelenkte! Sie, Louise, hatte das nie für möglich gehalten, wie ein Ding, das weise geplant ist, zum Weltuntergang werden kann, bis der gegenwärtige Aufstand es sie gelehrt hatte. Ja, so war es! Republik wie Königtum, sie unterlagen beide dem gleichen fürchterlichen Gesetze, daß das Element, das gebildet werden sollte, stärker war als der Bildner!
Louise stand auf, ging im Zimmer hin und her, ihr Schritt hallte schwer durch die Stille des Hauses. Wenn man sich den ganzen Aufstand so von Anfang an überdachte –? Es hätte alles anders geschehen müssen als es geschah. Nun ja, die Bauern haßten die landfremden Priester, die ihnen die Republik ins Land geschickt hatte! Warum aber war den alten, königstreuen Seelsorgern ihr Eid so viel heiliger gewesen als ihre Pflicht am Volke? Wenn sie den Revolutionseid geleistet, wenn sie im Lande geblieben wären, wie hätten sie vermitteln können zwischen Regierung und Volk! Die es getan hatten, gaben den Beweis dafür. Ein anderes! Die Bauern verweigerten die Heerfolge gegen die Freunde ihres Königs. Die Edlen hatten sie darin unterstützt. Wäre es nicht weise gewesen, ihnen zu raten, einen fernen Krieg gegen Fremde dem Bruderkriege im eigenen Lande vorzuziehen? Damit wäre jeder zehnte Mann dem Heerbanne verfallen, nun waren sie alle entwurzelt, und Frauen und Kinder mit ihnen! Warum schämt sich der Mensch, zur Nachgiebigkeit zu raten? Welches Gebot bindet Ehre an völkervernichtenden Trotz?
Die Edlen? Gewiß, man hat sie in vielen Rechten gekürzt. Die lebenswichtigen haben sich erhalten. Der Zehnten und die Fron sind abgeschafft: auf gut und ertragreich geführten Gütern haben sie nie aufgehört, der Bauer blieb stillschweigend in den Gewohnheiten, bei denen er und sein Herr wohl bestand. Die »Tote Hand« ist abgeschafft: menschlich denkende Edelleute haben nie davon Gebrauch gemacht, sie freuten sich untereinander, daß den weniger menschlich fühlenden die grausame Handhabe gegen Witwen und Waisen entwunden ist. Die Jagd, der Fischfang sind freigegeben: das konnte, wie Herr von Texier oft sagte, eine Schädigung des Wohlstandes für das ganze Land bedeuten. Es hätte nur wenige Jahre bedurft, so hätten sich die schlimmen Folgen klar erwiesen, und das Volk hätte sich an eine Jagd- und Fischordnung gewöhnen lassen, die ihm wie dem Jagdherrn zugute kam. Und selbst wenn Fehlgriffe nicht zu vermeiden waren, wenn einzelne geschädigt werden mußten, was hatte dies zu bedeuten gegen den jetzigen Zustand, wo Alle besitzlos geworden waren, wo das Land auf lange Jahre hinaus verwüstet und wo der beste Teil seiner Bewohner gestorben und verdorben war? Aber während Louise alles dieses in langer und trauriger Erwägung vor sich aufrollte, fühlte sie bei jedem einzelnen Punkte deutlich, daß der andere, bessere Weg, der jetzt so klar erkennbar schien, damals im Augenblick des Geschehens von keinem gesehen, von denen, die ihn ahnten, nicht begangen werden konnte. Das ist das tiefe Geheimnis, das ewig unfaßbare Verhängnis alles Geschehens, daß der Mensch nicht denken kann, nicht denken darf, was ihm nützt, sondern was das Gebot einer Gemeinschaft, der er angehört, verlangt. Der Geist des Standes! Ja, Frau von Texier hatte recht, wenn sie diesen über alle Lebenstriebe stellte! Und das, was auf der anderen Seite Könige enthauptete und halb Europa bekriegte, es war eben auch der Geist eines Standes, um nichts weniger gewaltig und unbeugsam, weil dieser Stand sich eben erst dem Dunkel entwunden hatte.
Louise überlegte weiter. Es war nichts geschehen, was man nicht hätte voraussagen können. Ihr Vater hatte es vorausgewußt; Livarot hatte es vorausgewußt; sie selbst, Frau wie sie war, hatte beinahe alles voraussagen können, was über das arme Land gekommen war. Warum waren ihre und andere Stimmen gleicher Warnung nicht gehört worden? Waren Männer wie Lescure, d'Elbée, der weise alte Sapinaud blinder als sie? Nicht zu denken! Aber sie waren jenem geheimnisvollen Gesetze des Beharrens mehr unterworfen, sie nannten Recht, was ihr Recht war, sie wollten das Gute, das sie kannten, nicht gegen ein Neues tauschen, das sie nicht kannten und das anderen zugute kam, oder ihnen selbst nur auf dem Wege über andere. Sie waren Herrscher und wollten nicht Gleiche unter Gleichen werden. Und nun standen sie da am Ufer dieses grauenvollen gelben Stromes, arm wie ihr letzter Bauer, und es waren viele unter ihnen, die wußten was geschehen würde, wenn dieser Übergang vor sich ging. Larochejacquelein zum Beispiel, und wohl auch Royrand, und vielleicht noch mehrere. Und doch mußten sie hinüber, doch glaubten sie an Wunder, die ihnen zu Hilfe kommen sollten, und wenn ein nüchterner Mann ihnen sagte: wo ihr hinüber gegangen seid, da können auch die Blauen hinüber, und glaubt ihr denn, daß die Garnisonen auf dem rechten Ufer weniger gut kämpfen werden als die Garnisonen auf dem linken Ufer? – so würden sie diesen nüchternen Mann einen Feigling und Ehrlosen schelten und würden sich auf das Gebot Gottes berufen, dem sie nicht widerstreben dürften. Tausende werden fallen und Hunderte werden Hungers sterben, aber keiner wird es aussprechen dürfen, daß es besser gewesen wäre, still im heimischen Lande unter den Fahnen der Republik zu leben und meinetwegen um den Freiheitsbaum zu tanzen, wenn es befohlen wird. Und diese seltsame Kraft des Ertragens, dieser Wahnsinn der Selbstzerfleischung, der in allen zu wirken scheint, nur wenige Alleinstehende wie sie und Livarot ausgenommen, war es nicht in der Tat ein Gebot der Natur, die will, daß das, was sich überlebt hat, nicht Verjüngung sucht im Neuen, sondern daß es sich glorreich und stolz selbst vernichtet und so die Kraft seiner Seele, seinen Glauben, weiter gibt an den Nachfolger? Zu unergründlich, diese Rätsel der Menschenseele! Und schwer zu tragen, wenn man nicht einen Stand, sondern die Menschen als solche liebt und dann miterleben muß, was die folgenden Tage und Wochen unfehlbar bringen mußten. Ach, wenn man doch sein könnte wie diese Bonvouloir, die an Wunder glaubte und durch keine bittere Lehre enttäuscht werden konnte!
Die hereinbrechende Dunkelheit trieb Louise, bewohnte Gemächer aufzusuchen, sie kam zu Frau von Lescure und fand sie in freudiger Rührung. Es hatte sich in den Nachmittagsstunden eine erstaunliche Besserung in Lescures Befinden eingestellt, er schien weniger zu leiden, hatte nach der Anwesenheit seiner Freunde verlangt und hatte auch, wiewohl mit äußerster Anstrengung, einige Worte an sie gerichtet. Seine Augen, fieberhaft belebt, waren den Bewegungen der Besucher teilnehmender gefolgt als seit lange, und wenn er lächeln wollte, so verzog sich der einseitig geschwollene Mund zu einer grotesken und zugleich ergreifenden Grimasse, die dann plötzlich unter einem Aufzucken des Schmerzes wieder erstarb. Seine Mattigkeit schien geringer. Ein Kundiger hätte nun wohl in diesem trügerischen Aufleben die Wirkung einer gewaltigen seelischen Spannung gesehen, deren Ursache ja nahe genug lag: Dieser Mann, der das Werk mehrerer Monate vertilgt sah, als ob es ein Bau von Insekten gewesen wäre, das eroberte Gebiet mit seinem neuen Königtum, die wiederhergestellte Verfassung in einer ganz hübschen Reihe von Städten, diese ganze sinnvoll und gläubig errichtete Grundlage für das Erstrebenswerte vernichtet, leergebrannt, zu Spott verkehrt – dieser Mann sollte nun todeswund einen neuen Anfang verantworten, aus dem Nichts heraus, nur auf die Hoffnung fremder Beihilfe gegründet, und besaß dabei trotz des Fiebers, das ihn schüttelte, Klarheit des Denkens in genügendem Maße, um alles vorauszusehen, was eintreffen mußte, wenn nur eine dieser weitgespannten und durch nichts verbürgten Hoffnungen in Schaum zerrann. Heute noch, obgleich ein Besiegter, stand er auf heimischer Erde, von ureigenen Rechten getragen; morgen sollte er ein Gast, ein Fremdling sein und vom guten Willen Unbekannter abhängen, und mit ihm Tausende, deren Schicksal er an das seine gebunden hatte! Das war wohl genug, um auch ein versagendes Herz noch einmal in drängenden Schlägen aufleben zu lassen, auch einen erlöschenden Geist noch einmal zur Arbeit zu spornen, und jeden Schmerz, der sich neben dem einen und allgewaltigen eines solchen Schicksalswechsels fühlbar machen wollte, in den Hintergrund zu drängen. Alles was in dem Manne noch lebte, war so sehr in Sorge, Erwartung, Zweifel und Wunsch zusammengefaßt, daß er in der Tat die bohrende Qual seiner Wunde nicht mehr spürte. Und so erschien er der liebenden Frau wie ein Genesender oder wenigstens Schmerzbefreiter.
Als Louise eintrat, kam ihr Frau von Lescure entgegen und drückte ihr die Hand. »O Louise,« flüsterte sie mit feuchtschimmernden Augen. »Sieh, Gott belohnt uns, weil wir der Versuchung widerstanden haben! Sieh, es geht ihm besser! Er wird genesen! Wie froh bin ich, daß wir uns von Livarot nicht verleiten ließen, ihn von der Armee zu entfernen!« Sie sah selbst um Jahre verjüngt aus, während sie dies sprach, ein lichtes Rot belebte ihre Wangen, die von der Bekümmernis der vergangenen Tage welk geworden waren, ihr schöner Mund blühte in einer neuen Freude, die zum ersten Male seit Lescures Verwundung nicht Verstellung war.
Louise setzte sich still an das Fußende des Bettes und sah Lescure an. Eben führte Agathe ihm den vollendeten Tragstuhl vor, pries die Sicherheit der Tragvorrichtung, die weiche Polsterung der Lehne. Lescure lächelte seine traurig-komische Verzerrung. Dann sah sie Stofflet unweit der Türe stehen, sie sah ihn zum ersten Male und erschrak vor der Wildheit seines ungepflegten Bauerngesichtes. Er brachte indes Nachricht über d'Elbée, wollte wissen, daß dieser unter des jüngeren Cathelineaus Begleitung sich nach dem Marais durchzuschleichen und Anschluß an Charette zu suchen gedenke. Lescures Augen blitzten auf, es war ein freudiges Zustimmen und mußte für Worte gelten. Noch ein wenig später kam Frau von Bonchamps herein, schwarz gekleidet, sie trat an das Bett des Kranken und küßte die Hand, die er ihr hinhielt. Louise sah, daß ihn die Geste erschreckte: verstand er sie als Mitleid? Frau von Bonchamps sprach davon, daß sie die Leiche ihres Gatten auf das andere Ufer mitzunehmen gedenke, um ihm ein ruhiges Grab unter Gleichgesinnten zu sichern, sie fürchtete Schändung durch die Soldaten der Republik, wenn sie den Toten auf dem diesseitigen Ufer bestattete. Lescure sprach leise ein paar Worte des Mitgefühls, der Zustimmung. Louise glaubte nie wehmütigere Stunden erlebt zu haben. Das ungeheure Leid, das auf der Seele dieses verwundeten Führers liegen mußte, war ihr ungeteilt gegenwärtig.
Dann kam Larochejacquelein mit Bonvouloir, und es schien, als ob die ruhige Fassung dieser jungen und glücklichen Menschen eine wohltuende Entspannung in Lescures Gesicht brächte. Er sah sie unverwandt an, es war etwas von dem Vertrauen eines Vaters in seinen wohlgeratenen Sohn in dem Blicke, den er auf Heinrichs warmen und belebten Zügen ruhen ließ. »Sieh, Louise,« sagte er mit seiner klanglosen Stimme, »so sieht die Zukunft aus!« Dann winkte er Heinrich heran und fuhr ebenso leise, aber mit fühlbarer Bewegung fort: »Wenn ich tot bin, werden sie dich zum Führer wählen!« Larochejacquelein erwiderte sogleich mit Überzeugung: »Du wirst genesen!« Und alle Anwesenden, auch Louise, wiederholten den Ausspruch, jeder mit einer anderen Begründung. Es war Louisen dabei, als ob der kalte Wind, der draußen die Läden rüttelte, ihr durch die Rippen führe. Gott, dachte sie, wie sammeln wir die letzten Brosamen der Hoffnung und wissen doch alle, daß wir Staub essen!
Heinrich mochte nun wohl fühlen, daß er ein wenig Heiterkeit abzugeben verpflichtet sei, er wandte sich noch einmal an Lescure und sagte scherzend: »Ihr wäret schlecht bedient, wenn ihr mich zum Führer hättet. Denn der wahre Führer wäre dann diese kleine Person hier.« Und er erzählte, wie er eben hinausgeritten sei an die Loire, um den Bauern das Ungeheure des bevorstehenden Wagnisses recht vor Augen zu führen, und wie er Bonvouloir gefunden habe, deren gläubiges Gesicht allein alle seine weisen Bedenklichkeiten entkräftet hätte. Bonvouloir wurde ein wenig rot, wandte aber doch ganz besonnen ein, sie habe die Bauern so traurig gefunden, daß sie nichts anderes habe denken können, als ihnen jede Hoffnung zu bestärken, und sie würde dies auch getan haben, wenn sie weniger überzeugt wäre von der Richtigkeit des gegenwärtigen Planes. Frau von Lescure trat lebhaft auf Bonvouloirs Seite und rief: »Du hast ganz recht getan, Liebe! Als Moses sein Volk ins gelobte Land führte, da hat er ihm die vierzig Hungerjahre in der Wüste auch nicht voraus verkündet! Man muß sein Ziel im Auge behalten und die Mühsal, die auf dem Wege liegt, mit in Kauf nehmen.« Nun mußte Louise doch eine Einwendung wagen: »Ob die, die in der Wüste verdurstet sind, auch so dachten?« Bonvouloir erwiderte ruhig: »Wenn ihr geistiges Auge das Ziel sehen konnte, gewiß!«
So verging dieser letzte Abend auf heimischer Erde. Lescure wurde schließlich matt und begann wieder über Schmerzen zu klagen, da verließen ihn die Freunde, jeder mit einem Worte der Zuversicht für den kommenden Morgen. Und am anderen Tage vollzog sich also dieser Übergang, der in der Tat mit nichts zu vergleichen ist als mit dem Auszuge der Kinder Israel aus Ägypten, bis zum letzten Manne. Aber der gelbe Strom, der ihre Barken getragen hatte, tat seinen rächenden und schützenden Schlund nicht auf, als die Verfolger herankamen. Die letzten der Flüchtenden empfingen noch das Gewehrfeuer der republikanischen Vorhuten, die erstaunt, aber keineswegs eingeschüchtert zusahen, wie der Krieg sich auf ein neues Gebiet verpflanzte. Und während im Konvent in außerordentlicher Sitzung der Bericht der vereinigten Generäle über die Eroberung von Cholet verlesen wurde, während Barrère die denkwürdigen Worte zu Gehör brachte: »Tiefe Einsamkeit liegt über dem Lande, das die Rebellen bewohnten. Man könnte tagelang gehen, ohne einen Menschen, eine Hütte, ein bebautes Feld zu sehen. Denn die wenigen festen Städte ausgenommen, haben wir hinter uns nur Asche und Leichen gelassen!« während der Vorsitzende diesen Bericht mit der beruhigenden Erklärung schloß: »Es gibt keine Vendée mehr!« – gab Kleber, jeder Anweisung zuvorkommend, die Parole aus: »Den Rebellen auf dem Fuße folgen, und wenn es bis in die Hölle wäre!«