Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

8.

Zum Meiler zurückgekehrt, berichtete Bonvouloir der erwartungsbangen Louise: »Nach Fougères dürfen wir nicht, soviel ist sicher, die Einwohner sind gegen die Vendée, sie schreiben uns die Schuld an ihren Leiden und Unruhen zu. Heinrich ist irgendwo zwischen hier und der Loire, soviel ist auch sicher, denn das Land brennt noch von Aufständen, je näher der Loire, desto mehr. Laß uns also aufbrechen und südwärts wandern, so müssen wir ihn finden. Und er weiß gewiß, wo dein Mann ist!« Louise erwiderte: »Gottlob, dies ist wenigstens ein Wegweiser! Aber die Loire ist lang, und er kann in Angers sein so gut wie in Nantes. Wüßten wir nur eine Unterkunft, wo man sich einmal für eine Zeit sicher fühlen könnte, um mehr zu hören als dies!« Bonvouloir aber meinte vertrauensvoll: »Wir gehen dahin, wo am meisten gekämpft wird.«

Das junge Köhlerweib kam und sagte: »Ehe ich mit diesem hier gelaufen bin« – sie wies auf einen der jüngeren Männer –, »lebte ich in der Gemeinde Guenrouel. Ich bin ein wildes Kind des Windmüllers Ferré. Meine Mutter war Magd in der Mühle. Die Müllerin schlug mich, deshalb lief ich diesem nach, als er einmal vorüberkam. Aber der Müller ist ein braver Mann. Wenn ihr ihm meinen Namen nennt, wird er euch aufnehmen.« Sie beschrieb hierauf den Weg nach Guenrouel, so gut sie ihn selbst noch wußte, und fügte hinzu: »In dieser Gemeinde haben die Leute niemals Freiheitsbäume dulden wollen. Sie haben sie umgeschlagen und Kreuze an ihre Stelle gesetzt. Es hat niemand danach gefragt. Guenrouel liegt neben der Welt.« Dies alles klang so tröstlich, daß die Frauen sich aufmachten, sobald das erste bißchen herbstlicher Sonnenschein den Nebel des Waldes zu lichten begann.

Sie fanden nach einigen Umwegen und Gefahren den Windmüller Ferré, und es war, wie die junge Köhlersfrau gesagt hatte: er freute sich unbändig, von ihr zu hören, denn er hatte viele Jahre keine Botschaft gehabt, und als Louise das Kind beschrieb, war er ganz glücklich. Er war auch gleich bereit, für die Flüchtigen zu sorgen, nur sagte er: »Euch beide kann ich nicht im Hause behalten, es würde auffallen. Nie noch hat ein Müller zwei Mägde gehalten. Eine von euch muß in das Haus des Gemeindeschreibers Jousselin; er ist ein Lebemann und hat immer ein paar Mädchen im Hause.« Bonvouloir fragte etwas erschrocken: »Gemeindeschreiber? Dann ist er doch Patriot. Wird er uns nicht ausliefern?« Der Windmüller antwortete verächtlich: »Wir sind alle Patrioten. Deswegen tun wir doch, was uns beliebt. Wir haben unsere alten Priester behalten und wir lassen keinen Freiheitsbaum stehen. Sonst sind wir natürlich alle auf die neue Verfassung eingeschworen. Das macht, wir haben brave Volksvertreter, die Gott im Herzen haben und immer noch gern für den König beten, wenn er auch nie König sein wird, das arme Kind! Und wir helfen allen, die in Not sind, und wer ist jetzt in Not, wenn nicht die Aristokraten?« Louise lächelte zum ersten Male seit dem Tage von Granville über diese schöne und menschliche Politik und dachte: Könnte es doch überall so sein! Aber es gehört die Einfalt der reichen Menschlichkeit dazu, sich so zwischen zwei Bekenntnissen durchzuwinden. Sie beriet hierauf mit Bonvouloir, wer von ihnen beiden sich in das Haus des gefährlichen Lebemannes wagen sollte, und Bonvouloir, als die Mutigere, nahm das Schrecknis auf sich.

Es erwies sich, daß der Ausdruck Lebemann sich nur auf eine unschuldige Neigung für schmackhafte und reichliche Kost bezog, und daß in der Tat die zwei oder drei Mädchen, die den Geflügelhof und die Küche des Feinschmeckers zu besorgen hatten, sich keiner Unbill von ihm zu versehen hatten. Jousselin war ein alter, sehr dicker Mann von einer unerschütterlichen Gemütsruhe, solange seine Tafel wohlbestellt war, geradezu kriegerisch aber, wenn irgend etwas diese gefährdete. Er hatte trotz der mageren Zeiten noch eine hübsche Anzahl Hühner, ließ feines weißes Brot backen und schoß sich ab und zu ein Perlhuhn oder einen Fasan, ohne zu fragen, wo. Dazu hatte man ja Revolution gehabt, daß nun jedermann überall sein Wildbret holen konnte, wenn es ihm so gefiel! Die Bauern der Umgebung, noch ferne den Unruhen, waren wohlhabend genug, um ihm sein leckeres Mahl nicht zu neiden, dafür plagte er sie nicht mit neuen Gesetzen und Proklamationen. Er hatte sich die neue Verfassung in einer Weise zunutze gemacht, die ein ungeteiltes »den Menschen ein Wohlgefallen« bedeutete. Es ist meistens so, daß ein einziger Mann von friedfertigem Wesen eine ganze Gemeinde in bester Weise beeinflussen kann: Jousselin war von diesen. Ein verständiger und menschlich denkender Gutsherr machte ihm übrigens sein Amt leicht, und die Achtung, die beide genossen, hielt ihnen Einmischungen gesinnungstüchtiger Vorgesetzter vom Halse. Es war unwesentlich für die Welt, wie in Guenrouel regiert wurde.

Als Bonvouloir den wackeren Mann erfaßt hatte, trug sie kein Bedenken, ihm zu verraten, wer sie und Louise seien, und welches Interesse sie hätten, etwas über den Verlauf des Aufstandes und den Aufenthalt seiner Führer zu hören. Jousselin hielt eine kleine Zeitung, die aber, als Organ der Regierung, nur von Siegesnachrichten über da und dort streitende Banden wußte. Jousselin bemerkte hierzu mit gutmütigem Spott: »Es mag Sie trösten, Frau Marquise, daß unsere Blauen immer noch so viel zu siegen haben!« In der Tat war nun der Dezember seinem Ende nahe und immer noch keine Befriedung des Landes abzusehen; im Gegenteil schienen die Unruhen sich zu mehren und an Gefährlichkeit zuzunehmen. Nur war leider zu bemerken, daß keine oder wenige Boccageleute dabei beteiligt waren; die Bretonen schienen ihre Sache auf eigene Hand zu betreiben, und vollends waren die Namen der Führer, die ab und zu genannt wurden, Bonvouloir völlig fremd. Eines Tages, als eine nicht sehr entfernte Stadt eine beträchtliche Garnison von Blauen erhielt, fragte Bonvouloir wie im Scherz: »Herr Jousselin, was werden Sie tun, wenn die Blauen bei uns einrücken?« – »Aber gar nichts!« erwiderte der fröhliche Mann vergnügt. »Ich werde dafür sorgen, daß sie gut gefüttert werden. Nach acht Tagen werde ich dafür sorgen, daß sie nicht mehr gefüttert werden. Dann werde ich ihnen sagen: Meine Herren, Sie haben uns aufgefressen, ziehen Sie gefälligst ein Dorf weiter? Das werden sie verstehen. Und was sollten sie übrigens bei uns wollen? Wir sind alles gute Patrioten und unser Edelmann ist Hauptmann unserer Nationalgarde. Wenn sie aber doch kommen sollten, so werden wir einen Freiheitsbaum aufpflanzen, und wenn sie wieder weg sind, werden wir Kleinholz daraus schneiden lassen.«

Louise und Bonvouloir sahen sich, da die Windmühle ziemlich weit vor dem Dorfe lag, nur Sonntags in der Kirche. Bonvouloir, die bei der häuslichen Arbeit wie eine Rose erblühte, sah mit Schrecken, wie blaß und mager ihre Freundin wurde, und wie dies krankhafte Aussehen von einem Male zum anderen zunahm. Louise behauptete, gut und schonend behandelt zu werden; die Müllerin ließ sie fast nur spinnen oder nähen, auch gab sie ihr kein Maß der Arbeit vor. Louise aber arbeitete aus innerer Unruhe mehr, als ihr zuträglich war. Womit sonst hätte sie ihre rastlos kreisenden Gedanken beschäftigen sollen? Als Herr Jousselin Bonvouloirs Sorge um die Freundin erfuhr, sagte er: »Die arme Dame lebt da draußen auf der Windmühle zu einsam. Auch ist es kalt auf dem freien Hügel. Wir wollen sie zu uns nehmen. Der Müller kann eine von meinen Mägden in Tausch bekommen.« Und gleich am nächsten Morgen fuhr er mit einem Maultierwägelchen, um seinen Vorschlag zur Tat werden zu lassen.

Louise weinte vor Glück über die Wiedervereinigung mit Bonvouloir. Nun hatte sie doch die Möglichkeit, sich auszusprechen, und Bonvouloirs Heiterkeitsbalsam auf ihr geängstigtes Herz. Sie erholte sich auch ein wenig, da Herr Jousselin alle guten Geister seines Herdes beschwor, um in wahrhaft zauberischen Gerichten die Lebenslust der zarten Dame zu erwecken. Aber Bonvouloir fühlte Fieber in den bleichgewordenen Händen der Freundin brennen und Lebensunlust aus den tiefgesunkenen Augen starren. Sie fragte dringend: »Louise, was fehlt dir?« Louise antwortete: »Eine Nachricht, weiter nichts. Es ist nicht nur, daß wir nicht wissen, wo sie sind, sie wissen auch nicht, wo wir sind, das ist doppelte Pein für jeden von uns. Mit was für Herzen müssen sie in den Kampf ziehen! Wie mögen sie sich um uns bangen, wenn sie hören, daß Frauen, auf der Flucht ergriffene Frauen guillotiniert worden sind! Wie soll das Ende von all diesem sein? Es müßte ein Wunder geschehen, wenn wir uns zueinander finden sollten in diesem zerwühlten Lande.«

»Es wird ein Wunder geschehen.« rief Bonvouloir stark, indem sie die Freundin umfaßte. »Geschehen nicht alle Tage Wunder für uns? Sind wir nicht von guten Menschen zu guten Menschen geführt worden, als ob wir an einer Rosenkette geleitet würden? Ist Herr Jousselin, der gute, dicke Herr Jousselin, nicht ein Wunder mit seiner Trikolore im Knopfloch und seiner Königstreue im Herzen? Habe nur ein bißchen Geduld, nur ein bißchen Geduld, es muß alles wieder in gute Wege kommen! Heinrich lebt und die Bretonen kämpfen – was willst du mehr für den Augenblick?«

»Ich wollte, die Bretonen kämpften nicht mehr und das Land käme zur Ruhe! Dann könnte man wenigstens wieder in die großen Städte zurückkehren, wo Sicheres zu vernehmen sein muß. Dürften wir nur unseren Namen wieder offen führen, wie schnell hätten die Männer Kunde von unserem Wohnen!«

»Louise,« sagte Bonvouloir mit schrecklichem Ernste, »besinne dich, was du wünschest! Wenn nicht mehr gekämpft würde, wären unsere Männer tot! Solange sie leben, legt keiner von ihnen die Waffen nieder.« Louise senkte den Kopf und antwortete nicht mehr. Man sah, sie rang um Zuversicht und Geduld; aber ihre Natur versagte ihr, was Bonvouloir so voll geschenkt war.

Um die Mitte des Januar geschah, was Bonvouloir lange vorausgesehen hatte: eine Patrouille der Blauen kam nach Guenrouel, um Haussuchung nach versteckten Rebellen zu halten. Die zwölf Mann standen mitten im Dorfe, man wußte nicht wie, und ein Entschlüpfen schien nicht mehr ratsam. Louise und Bonvouloir standen unter den Mägden in der Küche und rupften Hühner, denn Herr Jousselin hatte die Soldaten an seinen Tisch geladen und bewirtete sie, wie er es versprochen hatte. Es war keiner unter ihnen, der nicht einmal seine Nase in diese düftereiche Küche gesteckt hätte, und mehr als einer griff Bonvouloir ans Kinn und fragte sie nach ihrem Namen. Aber keiner wagte dem freigebigen Wirte den Verdacht auszusprechen, den Louisens hoheitsvolle Erscheinung etwa wecken mochte: es hätte zum mindesten eine leckere Mahlzeit gekostet. Nachher wurde jedes Haus im Dorfe durchsucht bis auf die Futterraufen der Kühe – die Dachkammern des Gemeindeschreibers betrat niemand. Herr Jousselin sagte später zu Louise: »Sie sind nicht die erste Aristokratin, Frau Marquise, die ich beherberge. Wenn Sie Frau von Lescure kennen – sie hat mit ihrer Mutter einmal bei mir genächtigt. Sie hatte ein krankes Kind bei sich. Wären die Blauen damals gekommen, so wäre es schwierig gewesen, sie zu täuschen. Mit zwei jungen Schönheiten, wie Sie sind, hatte ich keine Sorge: ich habe einfach von meinem schlechten Rufe Gebrauch gemacht.« Bonvouloir tat scherzhaft ein wenig entrüstet, und Herr Jousselin fuhr besinnlich fort: »Es ist merkwürdig, wie zutraulich die Kerle gleich werden, wenn man sie eine kleine Schurkerei vermuten läßt. Einen Schützling hätten sie mir gemordet, eine Geliebte oder auch zwei respektieren sie mir wie Heiligtümer. Ich brauchte bloß zu sagen: ›Hände weg von meinen Mägden! Es gibt genug andere hübsche Dirnen in Guenrouel!‹ da hatten sie schon völlig begriffen und wurden zartfühlend wie die Prinzen. Sie wollten mich nicht eifersüchtig machen, sagten sie. Verzeihen Sie, Frau Marquise, aber die Menschen sind nun einmal Hunde.«

Louise, ein wenig erheitert, erwiderte: »Herr Jousselin, ich habe viele Aristokraten gekannt, die Ehrenmänner waren, und ich habe auch Patrioten gekannt, die es nicht minder waren. Aber daß man weder das eine noch das andere und doch ein Ehrenmann sein kann, das ist mir neu.« Der dicke Gemeindeschreiber erwiderte schmunzelnd: »Nach meiner Meinung, Frau Marquise, wird der Ehrenmann meistens vom Aristokraten oder vom Patrioten zerquetscht. Wo jene beiden fehlen, hat er den besten Platz im Herzen.« Louise, mit feuchten Augen, gab ihm recht.

Den ganzen Winter blieben die beiden Frauen in Guenrouel, das tief verschneit zwischen Hügeln lag, ein vergessenes Stück Friedlichkeit abseits vom krieggepeitschten Lande. Louise mußte oft das Bett hüten. Dämmerung lag in der kleinen kalten Kammer mit den schneeverhangenen Fenstern, und Melancholie saß mit finsteren Blicken zu Häupten der Kranken. Ab und zu brachte Vater Jousselin eine Zeitung. Die Aufstände, von schwerem Wetter behindert, wurden seltener. In den ersten Märztagen lebten sie wieder auf. Die Chouans waren tätig am Werke, der Eulenruf hallte durch die Wälder, ein geheimnisvolles, furchtbares Gesetz band ganze Bauernschaften an die schwarze Fahne. Man wußte plötzlich von Leuten, die ermordet aufgefunden worden waren: mutmaßliche Verräter geheiligter Zusammenkünfte. Herr Jousselin sagte: »Der Augenblick ist nahe, wo man das eine oder das andere sein muß. Die Chouans sind fürchterlicher als die Patrioten, sie morden noch häufiger. Ich werde mich also zu den Patrioten halten. Frau Marquise, wenn der Augenblick gekommen sein wird, müssen Sie mich verlassen.«

Ehe der Augenblick kam, brachte eine Zeitung, die freilich vierzehn Tage alt war, was den gefangenen Vögeln die Flügel löste: im Boccage kämpften wieder Bauern, und Heinrich Larochejacquelein führte sie an! Er war also über die Loire gekommen! Wo war nun Klebers Feldherrnklugheit? Wo war Westermanns Schwur: »Es gibt keine Vendée mehr«?

Bonvouloir riß Louise aus schmerzlichem Brüten, indem sie mit dem Blättchen in der Hand zu ihr in die Kammer trat. »Was Heinrich gekonnt hat, können wir auch. Auf! Fort! Über die Loire! In die Heimat! Wenn auch die Städte verbrannt sind, die Wälder stehen noch. Hörst du? Im Boccage kämpfen die Bauern wieder!«


 << zurück weiter >>