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3.

Die fünf Tage, die zwischen Bonvouloirs Ankunft in Bressuire und dem Angriff der Bauernscharen lagen, waren fünf Monate voll innerlichen Erlebens für das junge Mädchen geworden. Das Wunder von St. Laurent schien sich ihr in jeder Stunde neu zu begeben, wenn sie in die milden Augen der Frau von Lescure blickte, und ihre Erwählung sich in jeder Minute zu bestätigen, wenn in geradezu betäubender Schnelligkeit die Ereignisse sich zum schönsten Erfolge aneinanderreihten. Sie war freilich selbst ein kleines Wunder von Begriffsfähigkeit und Entschlossenheit, wenn man diese schönen Eigenschaften unter anderen Umständen auch vielleicht als Frechheit und bubenhaften Übermut bezeichnet haben würde. Sie war ununterbrochen zwischen der Gasse und den Gemächern der adligen Damen in Tätigkeit, beobachtete, horchte und hinterbrachte, und bewies einen so glücklichen Takt in der Art, wie sie ihre Dienste darbot, daß Frau Allain, obgleich mißtrauisch, keinen Grund zum Eingreifen fand. Diese würdige Dame wurde übrigens immer aristokratenfreundlicher, je mehr sich die bängliche Erwartung im Städtchen steigerte, und was sie am ersten Tage mit Hilfe der Nationalgarden als Staatsverbrechen behandelt haben würde, schien sie am fünften überhaupt nicht zu bemerken. Sie selbst war ganz Dienstbeflissenheit vor den ›Frau Marquisen‹. Erst als Herr Allain, vom Rathause kommend, die Nachricht heimbrachte, von Thouars aus würde General Leygonnier sich mit tausend Mann den Rebellen in den Weg werfen, wagte sie wieder einmal, in gewohnter Weise von der ›Bürgerin Lescure‹ zu sprechen.

Die Damen hatten eine erprobte junge Dienerin, namens Agathe, bei sich, die im ersten Augenblicke ein wenig gekränkt schien über den Vorzug, den die braune Fremde genoß. Aber der Vorteil von Bonvouloirs ungehindertem Aus- und Eingehen erwies sich zu deutlich: sie wurde von den Nationalgardisten kaum noch beachtet, während Agathe, als zu den Gefangenen gehörig, auch nicht einmal den Kopf vor die Türe stecken konnte. Sobald das vernünftige Mädchen dies begriffen hatte, trat es klüglich in Schatten vor der neuen Vertrauten, ja, sie spielte sogar ein wenig die Kranke, um Bonvouloirs unermüdliche Hilfeleistungen in den Gemächern der Damen vor Frau Allain zu begründen. Bonvouloir faßte eine gewisse Freundschaft für das große, hübsche und wohlgetane Bauernmädchen, deren normännisch goldene Haut und lichte Augen ihre Bewunderung erregten.

Es braucht nicht gesagt zu werden, daß Bonvouloir mit ihrem unbeirrbaren Witterungsvermögen auf der Gasse und an allen wichtigen Orten war, als der große Tag anbrach. Man hatte den ganzen Morgen den Marschschritt ausziehender Truppen und das Heulen der Sturmglocken vernommen, dann war ferner Kanonendonner in eine angstvolle Stille gefallen, und nun trieb sich das ganze todesbange Völkchen in den Straßen herum und steigerte sich durch selbsterfundene Schauermären fast bis zum Wahnsinn. Als die ersten Schüsse fielen, war Herr Allain in Herrn von Lescures Zimmer getreten und hatte ihn höflich gebeten, sich mit seinen Damen in ein gegen den Garten zu gelegenes Gemach zu begeben; es möchte bei etwaigen schlechten Nachrichten ein Angriff des Pöbels auf die unbeliebten Aristokraten nicht zu verhindern sein. »Und Ihren guten Vorderstuben übel bekommen!« ergänzte Herr von Lescure verständnisvoll. Nun saß also die gefangene Familie samt Agathen in einem dämmrigen Stübchen des Hinterhauses, während an den Fenstern ihrer früheren Zimmer Herr und Frau Allain Wache hielten und ihr süßestes Patriotenlächeln auf die schiefmützigen Gassenjungen verschwendeten, die unter grölendem Gesang der Marseillaise an ihnen vorüberzogen. Bonvouloir, von keinem beachtet, war auf die Gasse geschlüpft und tauchte alle Viertelstunde mit einer anderen Nachricht bei Frau von Lescure auf. Wahllos und vergnügt tischte sie sowohl patriotische als königstreue Berichte auf und mochte wohl meinen, daß den einen wie den anderen eine Lehre zu entnehmen sei. Das Heer der anrückenden Bauern war von General Quétineau bei dem Dorfe Aubiers gestellt worden, aber schon nach kaum zwei Stunden wußte man in ganz Bressuire, daß die von Thouars aus erwartete Hilfe ausgeblieben sei und daß es schlecht um die Sache der Republik stehe. Zugleich mit der Entmutigung schien aber die blasse Gespensterseherei der Menge zu wachsen, denn die Greuelberichte steigerten sich, und mitten in der Stadt fanden sich mit einem Male Augenzeugen dafür, die niemand hatte hinausgehen sehen, noch hätte dieses bei den wohlbewachten Toren in ihrer Macht gelegen. Die aufgespießten Kinder wurden sogar mehrfach bezeugt. Als Bonvouloir, trotz ihres Besserwissens, mit behaglichem Gruseln die düstere Mär nach Hause brachte, wurde sie von Herrn von Lescure auf das heftigste gescholten, sogar mit Ausdrücken, die sie verletzten: hatte sie doch nur eine unschuldige kleine Bosheit an der vor Angst schneebleichen Bürgerin Allain üben wollen. Sie wandte sich trotzig gegen den Edelmann; aber im gleichen Augenblick besann sie sich und sagte mit einem vieldeutigen Spitzbubenlächeln: »Gehen Sie doch selbst und hören Sie, was die Leute erzählen und gesehen haben! Es steht ja schon lange keine Wache mehr vor der Türe.« Herr von Lescure, dem also Böses mit Gutem vergolten worden war, stutzte, lachte auf, nannte Bonvouloir ein Blitzmädel und war im nächsten Augenblicke aus dem Hause. »Hat er uns nun hier allein gelassen?« fragte nach einigen Minuten mit leicht belegter Stimme die alte Frau von Donnissan. Frau von Lescure nahm ihre Hand und sagte in heiterster Fassung: »Er hätte es nicht getan, Mama, wenn er nicht wüßte, daß es hier keine Gefahr mehr für uns gibt. Wenn einmal die Nationalgarden davonlaufen –!« Sie ging mit froh-unruhigem Ausdrucke ihres schönen Gesichtes im Gemache auf und ab und sagte endlich, stehenbleibend: »Gottlob, er scheint nicht wiederzukommen! Er ist also dahin gegangen, wo er längst hätte sein sollen, und die Sache des Königs wird von heute an den Führer haben, den sie braucht! Glaubst du, Bonvouloir, daß er durch das Stadttor gekommen ist?« Bonvouloir erwiderte vergnügt: »Da stehen auch schon lange keine Wachen mehr!«

Sie wollte sogar wissen, daß einige in der Stadt ansässige Aristokratenfamilien bei den ersten Nachrichten von der ungünstigen Lage der Patriotenarmee – wenn man achthundert schlechtbewaffnete Soldaten eine Armee nennen durfte – im Gefolge ihrer männlichen Dienerschaft die Stadt verlassen hätten, indem sie die Tore einfach mit Gewalt genommen und die Posten verjagt oder gebunden hätten. Das Stadtvolk habe dies zuerst mit Erbitterung bemerkt und den Wachen zu Hilfe eilen wollen; habe aber alsobald den eigenen Vorteil ersehen und durch die freigewordenen Tore selbst ins Freie gedrängt, so die langverhinderte Flucht erzwingend. Wahre Scharen von Ausreißern, mit Sack und Pack auf Eseln und Karren, drängten bei allen Toren ins Freie. Die Nachricht bestätigte sich, indem das Ehepaar Allain ein gleiches Verhalten erwog. Aber die Verantwortung für einen politischen Gefangenen, dessen Flucht ihn seine Magistratswürde kosten konnte, bewog Herrn Allain, seine Furcht zu bekämpfen und wenigstens die Damen Lescure unter wachsamen Augen zu behalten, da er schon des Herrn nicht habhaft werden konnte. Man wußte, daß der Sieg der Bauern keine Änderung des Regimentes nach sich ziehen würde, und selbst eine geschlagene Stadtverwaltung war Herrn Allain gegenüber immer noch eine Obrigkeit. Er biß also seine Zähne zusammen und hielt aus.

Es vergingen noch ungefähr zwei Stunden, in denen wenig gesprochen, aber um so mehr gehorcht wurde. In gemessenen Zeiträumen fielen ferne Kanonenschläge, die die Fenster und Türen des Hauses leise erschütterten; und jedem Schlage folgte ein Anschwellen des dumpfen Gemurmels, das alle Straßen erfüllte. Dann fielen die Schüsse seltener, und einige Bewanderte wollten wissen, daß das, was jetzt noch sprach, nicht die Stadtkanonen wären. Die Erregung wuchs, und vor Allains Hause stand nun wirklich eine Rotte, die Steine nach den Fenstern warf, hinter denen sie die Aristokraten vermutete; denn Frau Allain hatte sich buchstäblich hinter den Röcken der Frau von Donnissan verkrochen. Und dann stürzte plötzlich Herr Allain, alle Form vergessend, ins Gemach und meldete stotternd, die Frau Marquise bekäme vornehmen Besuch. Frau von Lescure erhob sich königlich, einer Siegesbotschaft gewiß, reichte Frau von Donnissan den Arm und sagte: »Dies bedeutet Befreiung und Heimkehr, liebe Mutter!«

In der Tat war dem so. Einige Adlige, die die Gärung in den Straßen beobachtet und gefährliche Drohungen einiger Böswilliger gegen die Damen Lescure zu verstehen geglaubt hatten, waren mit starkem Gefolge bewaffneter Diener und einem mit Ochsen bespannten char-à-banc herbeigeeilt, um die Damen aus der Stadt zu geleiten. Sie erzählten, General Quétineau habe die weiße Fahne gezeigt, wie man aus dem Verstummen der Kanonade habe erraten können, und der siegreiche Larochejacquelein sei auf dem Wege zur Stadt. Frau von Lescure hätte gern ihren Gatten zurückerwartet und dem treuen Verwandten, der sie befreit hatte, die Hand gedrückt; aber die Herren drängten zur Abfahrt und hatten damit gewißlich recht: denn der Jakobinerklub, den Bressuire so gut wie jedes andere Nest besaß, und der immerhin aus etwa sechzig Mitgliedern bestand, entfaltete bereits an mehreren Straßenecken eine bedrohliche Beredtsamkeit. Ehe Larochejacquelein die Stadt erreichte, konnte noch mancherlei geschehen sein. Da ließ Frau von Lescure sich überzeugen, packte ihre wenige Habe in einen Mantelsack und folgte den Herren die Treppe hinab.

Die Abfahrt ging indessen nicht ungehindert vonstatten. Denn die wenigen Minuten der Unterredung zwischen den Damen und ihren Befreiern hatten genügt, um die ganze Gasse über den Zweck des Ochsengespannes aufzuklären. Übelgesinnte, die die Ausreise der adligen Frauen zu verhindern suchten, wurden von der bewaffneten Dienerschaft rasch verscheucht, aber bereits hatte sich ein Belagerungsheer ganz anderer Art des Gefährtes bemächtigt: alles was an furchtsamen Weiblein in der Gasse wohnte und bisher vergeblich nach einer Fluchtgelegenheit gesucht hatte! Der char-à-banc faßte bestenfalls vier Menschen, nun aber suchte mehr als ein Dutzend darin unterzukommen und die sehr erstaunte und erheiterte Frau von Lescure sah sich zu seltsamen Unterhandlungen genötigt. Es dauerte ein Weilchen, ehe sie begriff, worum es ging. Als sie verstand, daß die guten Bürgerinnen in heller Angst vor den Bauern zu fliehen bedacht waren, von denen sie mindestens gevierteilt zu werden erwarteten, mußte sie zwar herzlich lachen, war aber doch großmütig genug, den zitternden Weiblein gefällig zu sein. »Kommen Sie, meine Damen,« sagte sie freundlich, »wir schützen uns gegenseitig: Sie mich vor den Jakobinern, ich Sie vor dem Ungeheuer von St. Aubin!« Sie erreichte mit einiger Geduld, daß ein großer Leiterwagen aufgetrieben wurde, den sie selbst mit den jüngeren Frauen bestieg, während Frau von Donnissan und einige alte Mütterchen in dem bequemeren Gefährte unterkamen. Unter dem seidenen Rockgefältel der Edeldame sah man zerzauste Kinderköpfchen hervorlugen. Frau Allain, nun nicht mehr zu halten, klammerte sich beinahe an Frau von Lescure, während Herr Allain, indem er auf seine Verdienste um das Wohl seiner Gefangenen hinwies, mit den adligen Herren um eine Wache verhandelte, die sein Haus vor Plünderungen schützen sollte. Die Wagen waren so voll, daß Agathe und Bonvouloir keinen Platz mehr fanden. Sie entschlossen sich gern, zu Fuß zu gehen, was sie erstens schneller ans Ziel brachte, ihnen aber des weiteren abenteuerliche Möglichkeiten eröffnete: denn sie verständigten sich sofort darüber, daß sie wenigstens den Einzug der Sieger in Bressuire abwarten würden, da die große Belastung der Wagen einen beträchtlichen Spielraum an Zeit sicherte.

Während also die Ochsenwagen mit ihrer keineswegs schweigsamen Last, von den berittenen Adligen und den bewaffneten Dienern derselben geleitet, gemächlich in einer Richtung davonrollten, trotteten die guten Mädchen einmütig in einer anderen hinweg und stellten sich nahe an dem Tore auf, durch das die Sieger einziehen mußten. Bonvouloir sah belustigt, was sie vordem schon in Cholet wahrgenommen hatte, wie unglaublich rasch in einem solchen Falle Häuser und Menschen ihre Gesinnung verändern können. Alles was Namen und Abzeichen der Republik trug, war wie durch Zauber verschwunden, und Schilder mit königlichen Wahrzeichen erschienen an allen Häusern. Fahnen mit Marienbildern, solche mit den heiligen Lilien wehten aus den Fenstern, und weiße Bänder flatterten, wohin man sah. Ein Friseurgehilfe, der die Jakobinermütze trug, wurde schlimm mißhandelt, und die Helden, die noch vor einer halben Stunde zum Hinschlachten der Adligen aufgefordert hatten, schlichen stumm nach Hause. »In der Angst wird man brav,« sagte Agathe, die gleichfalls ihre Freude an dem Erlebnis hatte. »Wenn unser Herr Heinrich wüßte, was die Leute hier von ihm erwarten und warum sie so zu Kreuze kriechen, wie geschlagene Hunde, der würde Augen machen! Der liebe, sanfte Mensch! er hat in seinem jungen Leben noch keiner Maus ein Härchen gekrümmt!« Bonvouloir horchte auf; ein Schreck, heißer als bei den ersten Kanonenschüssen, fuhr ihr in die Knie. »Heinrich?« fragte sie in einem Wirbel entzückender Ahnungen. »Heißt Herr von Larochejacquelein Heinrich und trägt er eine rote Halsbinde?« Mehr brauchte es nicht, um Agathe zu der eingehendsten Beschreibung des jungen Helden zu veranlassen, und Bonvouloir konnte eine halbe Stunde lang am Quell süßester Unterweisung trinken, bis ihr Herz berauscht war vom köstlichen Labsal. Alles was eine anhängliche und dankbare Dienerin Gutes von einem nahen Verwandten ihrer Herrschaft sagen kann, sagte die treue Agathe von dem Jüngling, den die Einwohner von Bressuire mit einem abergläubischen Schimpfwort nannten. Und gerade als Bonvouloir, überselig, weil sie nun wußte, wem sie gedient hatte, der guten Gesellin ihre Empfindungen zu verraten begann, da hatten sie das Tor erreicht und sahen, eine schillernde Schlange von fabelhaften Ausmaßen, den Zug der Bauern heranrollen. Voran aber, unter einer lichtblauen Kirchenfahne, die ein Marienbild trug, ritt Herr von Lescure mit – nun, mit wem wohl? Bonvouloir sah und sah nicht, ihre Augen tränten, sie bemerkte nicht, daß Herr von Lescure auf sie wies und Herrn von Larochejacquelein ein Wort zurief, daß dieser sich, bereits vorüber, nach ihr umwandte. Zwischen den beiden Herrn ritt gesenkten Hauptes noch ein dritter: der arme General Quétineau, der die Schuld eines mangelhaft vorbereiteten Unternehmens, fehlender Unterstützung und falscher Einschätzung des Gegners von seiten derer, die ihm geboten hatten, mit langem Kerker und mit dem Tode büßen sollte.


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